Zum Gewerkschaftstag der IG Metall

Der Vorsitzende Zwickel beendet eigenmächtig den Streik um die 35-Stundenwoche
im Osten, Mitglieder treten massenhaft aus, Vertrauenskrise zwischen Basis
und Führung – drei Stichworte, die die Krise der IG Metall drastisch
charakterisieren. In dieser Lage findet der vorgezogene Teil des Gewerkschaftstages
statt. Die IG Metall-Führung unternimmt hier den Versuch, die vom
Vorstand unter Klaus Zwickel verursachte Krise zu beenden, ohne sich einer
kritischen Grundsatzdiskussion über Krisenursachen und Selbstverständnis
stellen zu müssen.
Der Gewerkschaftstag soll den neuen Vorstand wählen, ohne zuvor über
die Zukunftsperspektiven debattiert und beschlossen zu haben. So bleibt
die Haltung der zu wählenden Vorstandsmitglieder in diesen entscheidenden
Diskussionen ohne Belang für ihre Mitgliedschaft im Vorstand. Dies
ist ein typisches Verfahren in den Gewerkschaften. Dieses aber widerspricht
einem auf die Mitglieder, auf die Arbeiterklasse bezogenen Verständnis
innergewerkschaftlicher Demokratie!

In den Vorstand müssten Kolleg/innen, die aktiv in den Auseinandersetzungen
und Streiks der Arbeiterklasse stehen, fähig sind zu Kritik und Selbstkritik,
die in den zentralen Auseinandersetzung um die brennenden Fragen die Interessen
der Arbeiterklasse vertreten. Das müssen die Kriterien für die
Führung der Gewerkschaft sein. Davon kann aber heute nicht die Rede
sein.
Nur ein solcher Vorstand könnte das wichtigste Defizit der Gewerkschaften
in Deutschland anpacken: Die weitgehende Entmachtung und Einflusslosigkeit
der Basis, der Mitgliedschaft in den Betrieben. Es ist nicht die Lebensfrage
der IG Metall, ob Jürgen Peters oder Bertold Huber die Organisation
führt. Lebensfragen der Organisation sind:

  • Wie soll es weitergehen mit der 35-Stundenwoche, mit der Arbeitszeitverkürzung
    überhaupt? Mit dem Kampf gegen Flexibilisierung, Leiharbeit usw.?
  • Geht der Widerstand gegen die Agenda 2010 des Kanzlers und SPD-Vorsitzenden
    Schröder weiter oder nicht? Es wäre ein Fortschritt, wenn
    die IGM zu der geplanten bundesweiten Demonstration gegen Sozialabbau
    am 1.11.03 in Berlin aufrufen und darauf aufbauend in den Betrieben
    mobilisieren würde.
  • Verteidigt die Gewerkschaft ihre Tarifhoheit oder übergibt sie
    so genannte ergebnisabhängige Lohnbestandteile in die betriebliche
    Kompetenz und liefert sie damit dem jeweils zufälligen betrieblichen
    Kräfteverhältnis aus?
  • Schaffen wir in der IGM wirklich demokratische Strukturen, wo die
    Mitglieder alle wichtigen Entscheidungen treffen?

Hier besteht seit langem keine Klarheit mehr. Hier befindet sich das
Kapital seit langem in einer Agitations- und Propagandaoffensive! In diesem
Punkt werden die offensichtlichen Mängel innerhalb der Gewerkschaften
mit Schweigen übergangen! Keiner der zur Debatte stehenden Vorstandskandidaten
fordert eine klassenkämpferische Orientierung der Gewerkschaften.
Keiner fordert, dass der mühsame Weg der Überzeugungsarbeit
gegen die Offensive des Kapitals gegangen wird. Keiner von ihnen fordert,
dass es wieder Mitgliederversammlungen und Meetings gibt, dass die innergewerkschaftliche
Demokratie wieder hergestellt wird!

Der vom Vorsitzenden verratene Streik um die Einführung der 35-Stundenwoche
in den ostdeutschen Tarifbezirken wird nicht grundlegend aufgearbeitet.
Auch hier steht fest, dass die Vorstandswahl keine hinreichenden Konsequenzen
aus dem Debakel ziehen wird. Es ist zwar gut, dass Klaus Zwickel endlich
zurückgetreten ist. Aber Verantwortung trägt der gesamte Vorstand,
auch Jürgen Peters, einer der Hauptverantwortlichen des Streiks.
Ohne dass seine Rolle und die der anderen Vorstandmitglieder geklärt
werden konnte, soll er zum neuen Vorsitzenden gewählt werden.

Der Vorstand betrachtete den Streik als Sache der Kolleg/innen im Osten,
als Sache einiger weniger streikbereiter Betriebe. Das war ein strategischer
Fehler. Denn es ging nicht darum, „schnell noch“ die 35-Stundenwoche
in ein paar fehlenden Gebieten einzuführen, obwohl sich, von außen
betrachtet, dieser Eindruck aufdrängte. Es ging vielmehr um eine
zentrale Aufgabe der gesamten Gewerkschaften in Deutschland. In Wirklichkeit
ging und geht es um das Schicksal der Arbeitszeitverkürzung überhaupt!
Eine Kampagne in den östlichen Tarifbezirken erforderte deshalb die
Mobilisierung der gesamten Organisation! Alle Gewerkschafter/innen, die
an der betrieblichen Front stehen, werden bezeugen, dass davon nicht die
Rede sein konnte! Die Aufgabe, im Osten die 35-Stundenwoche einzuführen,
erfordert zuvor eine breite Debatte und eine weitreichende Einheit in
der gesamten Gewerkschaftsbewegung darüber, dass die Arbeitszeitverkürzung
richtig und unverzichtbar ist!
Das Kapital propagiert zur Zeit auf allen Medienkanälen das genaue
Gegenteil. Wir bräuchten längere Arbeitszeiten! Längere
tägliche, längere Wochen-Arbeitszeiten, eine längere Lebensarbeitszeit!
Und das nicht ohne Erfolg! Wir brauchen andererseits bloß die Debatte
um das unsägliche „Zukunftsmanifest“ der IG Metall zu rekapitulieren
um zu erkennen: Die Gewerkschaftsführung selbst und ihre Ideologen
betrachten die Frage der Arbeitszeitverkürzung als zweitrangig, nicht
machbar, unwichtig! Mit dieser Haltung kann ein solcher Streik weder richtig
vorbereitet, noch durchgeführt werden!

Der Streik war zum Zeitpunkt, als Klaus Zwickel ihn eigenmächtig
im Bündnis mit einigen Gesamtbetriebsratsvorsitzenden der Automobilindustrie
beendete, sehr wohl in einer kritischen Lage. Vor allem wuchs stündlich
der hasserfüllte Druck in den Medien und der Öffentlichkeit.
Aber er war keinesfalls verloren! Weder hatte die Streikbereitschaft in
den Streikbetrieben entscheidend nachgelassen, noch war klar, dass der
Rest der IG Metall die Streikenden hätte im Regen stehen lassen.
Im Gegenteil. Es muss von der Bereitschaft und Fähigkeit der Organisation
ausgegangen werden, in der schwierigen Situation den bedrängten Ostkollegen
zur Seite zu springen. Nur hätte das auch die Bereitschaft des Vorstandes
erfordert, diese schwierige Mobilisierungsarbeit sofort und entschlossen
anzugehen. Diese Bereitschaft war erkennbar nicht vorhanden!

Schon in den Tarifrunden der vergangenen Jahre hatte die Gewerkschaftsführung
immer wieder die Streikbereitschaft und Mobilisierung der Kolleg/innen
nicht ausgeschöpft. Jetzt offenbarte diese Haltung bei der Aufgabe,
die 35-Stundenwoche im Osten durchzusetzen, ihre katastrophale Konsequenz!
Mit einer solchen Gewerkschaftsführung lässt sich die bedeutsame
Aufgabe der Arbeiter/innenbewegung Arbeitszeitverkürzung nicht mehr
schultern! Einen solchen Vorstand brauchen die IG-Metall-Mitglieder nicht!
Die klassenkämpferischen Kolleg/innen in den Gewerkschaften, speziell
in der IG Metall, haben heute trotzdem nicht die Kraft, in die Frage der
Vorstandswahl einzugreifen. Also wird es auf den neuen Chef Peters hinauslaufen.

Die Gewerkschaftslinke kommentiert und kritisiert. Sie stellt sich ihre
Aufgaben nicht konsequent und entschlossen!
Klassenkämpferische Kolleginnen und Kollegen haben auf dem Gewerkschaftstag
heute keine Chance, Positionen, geschweige denn Personalentscheidungen
durchzusetzen. Sie müssen und können aber Akzente in der Diskussion
setzen. Ihre Aufgabe ist es, der Hetze gegen die „Traditionen“
entgegenzutreten. Sie müssen für Arbeitszeitverkürzung
bei vollem Lohnausgleich, gegen Flexibilisierung, gegen Sozialabbau eintreten.
Sie müssen für einen entschiedenen Kampf gegen das Kapital eintreten,
gegen die Agenda 2010, für betriebliche Kampfmaßnahmen.

Aber das reicht nicht aus! Was sie in den innergewerkschaftlichen Debatten
vertreten, müssen sie in den Betrieben, wo sie arbeiten, unter den
Mitgliedern der Gewerkschaft vertreten, diese davon überzeugen und
versuchen, ihre Grundsätze mit der Mtgliedschaft zusammen in die
Tat umzusetzen. Das unterscheidet sie von dem breiten aber weitgehend
wirkungslosen Strom der Gewerkschaftslinken!
Ihre Hauptaufgaben sind die Kritik an der heutigen Lage der Gewerkschaft
und der Kampf um eine Reform der Organisation.
Leitfrage: Was für eine Organisation brauchen wir? Die Mitglieder
müssen ihre entscheidende Rolle in der Organisation zurückgewinnen:
Stärkung der innergewerkschaftlichen Demokratie:

  • Aufbau und Stärkung von Vertrauensleutekörpern und betrieblichen
    Gruppen. Mitgliederversammlungen.
  • Rechenschaft aller Funktionäre vor der Basis.
  • Aufräumen in den oberen Etagen der Gewerkschaften. Schluss mit
    Prunkbauten und protziger Repräsentation. Runter mit den Gehältern
    der Vorstände und der Gewerkschaftsbeamten! Bezahlung im Rahmen
    der von ihnen ausgehandelten Tarifverträge ohne „übertarifliche
    Zulagen“! Leistungsbeurteilung durch Beschluss auf dem Gewerkschaftstag!!
  • Offene Diskussionen an der Basis über alle Fragen der betrieblichen
    und überbetrieblichen Gewerkschaftspolitik
  • Organisierung eines kämpferischen Einflusses der Mitglieder in
    den Gewerkschaften. Gemeinsames Ringen um klassenkämpferische,
    an den Interessen der Lohnabhängigen ausgerichtete Positionen,
    die zu Beschlüssen in Vertrauenskörpern, Betriebsräten,
    Stadtbezirksversammlungen, Delegiertenkonferenzen und schließlich
    auf Gewerkschaftstagen werden!

Klare Positionen gegen das Kapital und Überzeugungsarbeit für
diese Positionen in Betrieben und Gewerkschaften. Das ist die wichtigste
inhaltliche Aufgabe! Klassenkämpferische Gewerkschafter/innen können
die Augen nicht länger davor verschließen, dass die Ansichten,
Standpunkte und Ideologien des Kapitals bereits in praktisch allen wichtigen
Fragen die öffentliche Debatte beherrschen! Man kann heute nicht
mehr von einem weitgehenden, spontanen Wohlwollen für gewerkschaftliche
Forderungen ausgehen, nicht in den Medien, nicht in der Öffentlichkeit.
Ja, nicht einmal mehr die SPD erhält noch den Schein aufrecht, dass
sie großes Verständnis für die Forderungen der Arbeiter/innenklasse
hätte. SPD-Generalsekretär Scholz schlägt vor, die letzten
Hüllen fallen zu lassen: Die sowieso verlogene Parole „Demokratischer
Sozialismus!“ sollte ganz gestrichen werden.

Also muss für die Parole „Alle gemeinsam gegen das Kapital!“
eine breite inhaltliche Überzeugungsarbeit organisiert werden. Wer
meint, die Gewerkschaften seien die entscheidende Reserve für den
Kampf gegen den Kapitalismus und für den Sozialismus, muss sich der
Aufgabe stellen, hierfür erst einmal wieder die Mitglieder zu gewinnen!
Solche Positionen sind heute noch auf dem Gewerkschaftstag Randerscheinungen,
doch mit der steigenden Unzufriedenheit der Gewerkschaftsbasis haben sie
eine Chance.

Peters wird die kämpferischen Kolleg/innen mit links klingenden
Phrasen bei der Stange zu halten suchen, während Huber sich für
„Reformen“ einsetzen wird, also Veränderungen der gewerkschaftlichen
Positionen und der gewerkschaftlichen Organisation, die dem Kapital zupass
kommen.

Klassenkämpferische Kolleg/innen dagegen haben zur Zeit die Aufgabe,
die Interessen der Mitglieder zu verteidigen, gegen Hetze, gegen Verwirrung,
Konfusion und gegen massive Drohungen seitens des Kapitals und der Regierung!
Aber wir sind keine Konservativen! Wir treten für die Herstellung
der internationalen Kampfeinheit aller Kolleg/innen und Kollegen genauso
ein wir für ihre ständige Weiterentwicklung bei der Qualifikation
und der Fähigkeit unserer Kolleg/innen Produktionsprozesse gestalten
und zu leiten. Denn das ist eine zentrale Voraussetzung dafür, das
Kapital zu enteignen und eine sozialistische Produktion aufzubauen!
Aber unverzichtbar bleibt für uns, dass auf Kosten des Kapitals die
Interessen der Kolleg/innen und Kollegen erkämpft bzw. verteidigt
werden:

  • Verteidigung und volle Durchsetzung der 35-Stundenwoche!
  • Weitere Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich
    bei gleichzeitigem Kampf gegen zunehmende Flexibilisierung, Leiharbeit
    und alle Arten von Lohndrückerei!
  • Lohnerhöhungen!
  • Absenkung des Rentenalters, nicht Heraufsetzung!
  • Verteidigung der Sozialversicherungen, Bezahlung der Beiträge
    durch das Kapital!

Ein Gewerkschaftstag der IG Metall ist an diesen Positionen zu messen.
Nicht an Namen wie Peters oder Huber!