Buchbesprechung: Stuttgarter NS-Täter – vom Mitläufer bis zum Massenmörder

Beim Lesen dieses Buches laufen einem immer wieder vor Entsetzen Schauer über den Rücken. Manchmal ist es schwer zu ertragen und durchzuhalten. Gerade deshalb ist dieses Buch wichtig.

Nachdem es seit Jahren in Stuttgart ausgesprochen aktive und rege Stolperstein-Initiativen gibt (wir berichteten), entstand in diesem Kreis die Idee, nicht nur der Opfer zu gedenken, sondern auch die Verbrecher des NS-Regimes beim Namen zu nennen. Dieses großes Projekt wurde von zahlreichen Autoren wie Historikern, Journalisten, Mitarbeitern der Stolperstein-Gruppen getragen. Die viele Arbeit in Archiven hat sich gelohnt. Als das Buch im Oktober erschien, schlug es ein wie eine Bombe. Der Anwalt der Familie eines Täters hatte bereits zuvor vom Verlag Einsicht in das Buch verlangt, was der Verleger zurück wies. Die Stuttgarter Zeitung berichtete auf einer Sonderseite über einen Beitrag zu Ferdinand Porsche und seinen Untaten in der NS-Zeit. Mit neuen Ergebnissen über die Verbrechen Porsches ist das Buch eine Sensation. Auch der Spiegel berichtete darüber. Im Buch wird Porsche als ein „gewissenloser Profiteur des Nazi-Regimes“ benannt.

Die Firma Porsche musste bereits ankündigen, dass sie großes Interesse an der Aufklärung der braunen Vergangenheit habe. Dafür hatte sie allerdings selbst seit 1945 genügend Zeit gehabt.

Am 4. Oktober wurde das Buch im Stuttgarter Staatstheater öffentlich vorgestellt. Der Saal war voll. Schauspieler lasen Ausschnitte aus dem Buch.

Auf der Internetseite http://www.stuttgarter-ns-taeter.de/ gibt es Videos von dieser Eröffnungsveranstaltung und der Lesung sowie Leseproben aus dem Buch.

Das Buch ist ausgesprochen empfehlenswert. Andere Städte sollten folgen.

Stuttgarter NS-Täter –
Vom Mitläufer bis zum Massenmörder,
Herausgeber Herrmann G. Abmayr, Stuttgart 2009,
ISBN 3-896571-36-2, 19,80 Euro


Auszüge aus dem Beitrag von Inge Möller:

Wilhelm Boger – Der SS-Mann aus Zuffenhausen, der einen Apfel in Auschwitz aß

„Ein kleiner Junge im Alter von etwa vier bis fünf Jahren sprang vom LKW herunter. Er hatte einen Apfel in der Hand. Woher die Kinder kamen, weiß ich nicht. In der Tür standen Boger und Draser. Das Kind stand neben dem LKW mit dem Apfel. Boger ging zu dem Kind hin, packte es an den Füßen und warf es mit dem Kopf an die Wand. Den Apfel steckte er ein. Dann kam Draser zu mir und befahl mir, `das an der Wand` abzuwischen. Eine Stunde später kam Boger, rief mich zum Dolmetschen. Dabei aß er den Apfel“(4). Die Zeugin Dounia Zlata Wasserstrom, die diese Szene am 23.4.1964 im Auschwitz-Prozess schilderte, wurde wie viele andere Opfer diese Bilder nicht mehr los. Noch viele Jahre später kamen ihr beim Anblick von Kindern die Tränen. Sie war auf Grund dieses Erlebnisses nicht in der Lage, ein  Kind zu bekommen.

Ganz anders Boger: er führte bis zum Ausschwitz-Prozess 1958 ein unbehelligtes Leben als angesehener Bürger, wohnte in Hemmingen bei Leonberg und arbeitete bei der Ernst Heinkel AG in seiner Heimatstadt Stuttgart-Zuffenhausen. Im Spruchkammerverfahren 1950 sagte er über Auschwitz aus: „Razzien auf Häftlinge hat es in Auschwitz nicht gegeben. Mir ist kein Fall bekannt, dass jemand auf der Flucht oder sonst wie erschossen worden ist während meiner Zeit. Ich habe nur die Ermittlungen gehabt. Beim Abtransport der Leute hatte ich keine Funktion. Ich möchte aber noch sagen, dass sich keiner der Insassen zu beklagen hatte in Auschwitz, was die Verpflegung anbelangt. An Schikanen und Grausamkeiten im Lager war ich nicht beteiligt, sondern bin dagegen eingeschritten.“(1) Schuldgefühle waren ihm fremd. Er war überzeugt, nur seine Pflicht getan zu haben. So betonte er: “Wir waren Soldaten“

Geboren wurde Hermann Wihelm Boger am 19.12.1906 in Zuffenhausen als ältester Sohn eines Kaufmanns. Er hatte noch zwei Geschwister. Von 1913 bis 1922 besuchte er die Heusteigschule, die er mit der mittleren Reife abschloss. Seine Lehrer waren nach seinen Angaben deutsch-national eingestellt. Unter ihrem Einfluss habe er sich schon mit 16 Jahren der damals noch kaum bekannten nationalsozialistischen Jugendbewegung (der späteren Hitlerjugend) angeschlossen…

Nach einem ersten Verfahren lebte Boger bis 1958 unbehelligt mit seiner 2. Frau in Hemmingen bei Leonberg und arbeitete bei der Ernst Heinkel AG in Zuffenhausen, die ihm 1959 ein hervorragendes Zeugnis ausstellte…

Erst der Druck des internationalen Auschwitz-Komitees unter seinem Vorsitzenden Hermann Langbein führte am 8.Oktober 1958 zur Verhaftung Bogers an seinem Arbeitsplatz in Stuttgart-Zuffenhausen.

Im Auschwitz-Prozess saßen sich die Zeugen und die Angeklagten sehr nahe gegenüber. Selbst im Prozess genoss Boger das Grauen, das die Zeugen immer noch bei seinem Anblick empfanden. Laut einer Prozessbeobachterin hat er die Zeugen zynisch angegrinst und sie mit „Heil Hitler“ angeschrieen. Es kam in dem Prozess zu „ungeheuren Szenen: Menschen brechen zusammen, müssen hinausgetragen werden. ‚Sie haben geweint, sie haben geschluchzt, wie ich nie wieder Menschen schluchzen hörte.’“ (5)

Die Aussagen von 360 Zeugen im Auschwitz-Prozess machen deutlich, dass er einer der furchtbarsten Täter in Auschwitz war. Das grausamste Folterinstrument im Lager wurde nach ihm Boger-Schaukel genannt: die Gefangenen wurden so aufgehängt, dass ihre Geschlechtsteile für gezielte Schläge frei lagen. Viele Gefangene überlebten die Folter auf diesem Gerät nicht. Die sie überlebten, waren entstellt und hatten ihr leben lang an den Folgen zu leiden.

Boger nannte sein Foltergerät verharmlosend und zärtlich seine „Sprechmaschine“. Als sie in Auschwitz verboten wurde, fragte er: “Wie soll man die Schweine zum Reden bringen, wenn man sie nicht schlagen darf?“ (3,S.567).

Literatur:

– Staatsarchiv Ludwigsburg Signatur EL 902/5 BÜ 551
– Bundesarchiv Ludwigsburg AR-Z37/58
– Langbein, Hermann: Menschen in Auschwitz, Wien: Europaverl. 1995
– Der Auschwitz-Prozeß – Eine politische Erinnerung. 40 Jahre später, Stuttgarter Zeitung vom 3.5.2004. S.8
– Man hat nichts getan, man hat nichts gewusst, Stuttgarter Zeitung Nr. 187 vom 15.8.2005
– Der Auschwitz-Prozeß. Tonbandmitschnitte, Protokolle, Dokumente. Hrsg. Vom Fritz Bauer Institut Frankfurt am Main und dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau.