"Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhaß der Barbaren zur Kapitulation zwingt…

Die Bourgeoisie hat das Land der Herrschaft der Stadt unterworfen. Sie hat enorme Städte geschaffen, sie hat die Zahl der städtischen Bevölkerung gegenüber der ländlichen in hohem Grade vermehrt… Wie sie das Land von der Stadt, hat sie die barbarischen und halbbarbarischen Länder von den zivilisierten, die Bauernvölker von den Bourgeoisvölkern, den Orient vom Okzident abhängig gemacht…

Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen – welches frühere Jahrhundert ahnte, daß solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten."

Eine verlogene Darstellung von Soldschreibern des Kapitals? O nein – einige Auszüge aus dem "Kommunistischen Manifest" von Marx und Engels, der größten und großartigsten "Anklageschrift, die je gegen das Kapital geschrieben, die einfacher und klarer als irgendein anderes Dokument des Sozialismus lehrt, warum wir gegen den Kapitalismus sind. Und weshalb haben wir, wenn wir darüber schreiben wollen, warum wir gegen den Kapitalismus sind, gerade dieses Loblied auf die Leistungen der Bourgeoisie aus dem „Kommunistischen Manifest" zitiert?

Wir werden das sogleich erklären. Zuvor aber sei noch einem Argument begegnet, das so lautet: So schrieben Marx und Engels im Jahre 1848. Heute aber läßt sich kein der Wahrheit entsprechendes Bild mehr zeichnen, das dem Kapitalismus positive Züge abgewinnt.
Ist das wirklich so?

Ist es verlogen, wenn man erklärt: Kein Land der Welt besitzt eine Industrie mit so hoher Produktivität wie die kapitalistischen Vereinigten Staaten von Amerika. Ist es falsch, festzustellen: In keinem Land der Welt ist die industrielle Produktion in den letzten 20 Jahren so stark gestiegen wie in dem kapitalistischen Japan. Stimmt es nicht, wenn man findet: Die Frau in der kapitalistischen Bundesrepublik hat es leichter und bequemer zu kochen als in der sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik, da sie dort über mehr und billigere technische Zubereitungsgeräte, vielfältigere Konserven usw. verfügt als hier bei uns.

Wenn dem aber vor 120 Jahren so war – und so war es! – und wenn dem heute so ist – und so ist es! -, warum sind wir dann gegen den Kapitalismus? So fragten nicht nur vor 120 Jahren Millionen, so fragen auch heute Millionen in den Vereinigten Staaten von Amerika, in der Bundesrepublik und anderswo in der nichtsozialistischen Welt.

Man wird verstehen können – und darum wurden gerade diese Stellen aus dem "Kommunistischen Manifest" zitiert, darum wurden gerade diese Tatsachen aus der Gegenwart herausgehoben -, daß in den kapitalistischen Ländern viele Menschen verwirrt sind und nicht begreifen, warum wir gegen den Kapitalismus sind. Aber bei uns?

Einmal kam ich beim Taxistand am Bahnhof Friedrichstraße in Berlin ins Gespräch mit einem alten einfachen Rentnerehepaar, das gerade von einem Besuch bei Verwandten in der Bundesrepublik zurückgekehrt war. Sie waren noch ganz gerührt davon, wie nett alles für sie dort gewesen war… die Verwandten, die Fürsorge, das Neue, das sie gesehen…, aber dann meinten sie: "Bleiben haben wir nicht gewollt. All die Unruhe dort, das Gehaste", und dann fügten sie hinzu, ich weiß nicht, woher sie die Formulierung hatten, "der scharfe Kampf dort ums bessere Leben." – Nur wirkliche Marxisten-Leninisten können in diesen Worten eine Anklage gegen den Kapitalismus sehen.

Bedeutet der Kapitalismus Elend?
Wir sind gegen den Kapitalismus, weil er Profit für eine kleine Minderheit und dadurch Not für eine große Mehrheit bringt. Wir sind aber nicht nur einfach gegen den Kapitalismus – wir hassen den Kapitalismus, weil er die Profitmacherei rationalisiert auf Kosten der Gesundheit, ja des Lebens von Millionen Kindern, Frauen und Männern…

 
 

Bedeutet der Kapitalismus Arbeitsqual?
Und nun stelle man sich den Arbeiter an der Maschine vor, der natürlich genau weiß, daß er so beobachtet wird, ständig, sekündlich sich unter zu weiterer Arbeitshetze treibender Kontrolle fühlt, sicher sein kann, daß die unerbittliche Maschine notiert, wenn er sich schnaubt oder sich durch die Haare fährt, wodurch natürlich ein paar Sekunden Arbeitszeit verlorengehen, die ihm als ungenügende Leistung angekreidet werden. Und ist es anders in den USA, in England oder Frankreich? Nein, genauso ist es dort…

 

Bedeutet Kapitalismus Sklaverei?
Die kapitalistischen Lohnsklaven werden an Gesundheit gebrochen und, so unbrauchbar geworden, auf den Rumpelhaufen der Geschichte geworfen… Die frühinvalidisierten Lohnsklaven des Kapitals sind zwar gesellschaftlich tot, herausgeworfen als nutzlos, da sie krank und arbeitsunfähig, doch vegetieren sie, all dessen sich voll bewußt, oft viele Jahre dahin … Opfer der modernen Sklaverei des Kapitalismus!

Bedeutet Kapitalismus Unwissenheit, Brutalisierung und moralische Degradation?
Das Maß von Unwissenheit der Arbeiter über die Verhältnisse in den Betrieben, ihre Unfähigkeit, diese zu übersehen, sei es von der Produktions-, Finanzierungs- oder Preisbildungsseite her, nehmen tatsächlich unter dem Kapitalismus in einem früher für unglaublich gehaltenen Ausmaß zu… Insbesondere ist die Jugend von diesem Prozeß betroffen…

 

 Kapitalismus und Krieg
Im letzten Jahrfünft der sechziger Jahre wurden an jedem Tag jeden Jahres 18 Kriege geführt. An zahlreichen dieser Kriege waren die imperialistischen Mächte beteiligt: die USA an 26 Kriegen, Großbritannien an 19 Kriegen, Frankreich an 12 Kriegen…

 

 

 

Warum gibt es denn noch immer den Kapitalismus?
Keine Ausbeuterklasse erkennt sich selbst als dem Untergang geweiht, zum Feind der Menschheit geworden, und tritt freiwillig aus der Weltgeschichte aus. Nur im Kampf des Volkes, unter der Führung der Arbeiterklasse kann die Herrschaft des Kerns des Kapitals, des Monopolkapitals, gestürzt werden. Hart und schwer und opferreich ist dieser Kampf. Doch am Ende des Kampfes leuchtet eine Zukunft, in der das Brot mit Rosen umkränzt ist und auch der Marmor einen warmen Charme hat, in der die Menschheit ohne Tränen lächelt, Frieden und Wohlsein uns umgeben. (…)

Quelle: Jürgen Kuczynski, Warum sind wir gegen den Kapitalismus? Dietz Verlag Berlin, 1974
 
 
___________________________________________________________________
 
zum Autor:
 
Jürgen Kuczynski (*17. September 1904; †6. August 1997 in Berlin) war ein prominenter DDR-Historiker und -Wirtschaftswissenschaftler.

Jürgen Kuczynski wurde als Sohn des renomierten Statistikers René Kuczynski geboren. Seit 1930 war er KPD-Mitglied. Er wurde einer der prominentesten und produktivsten Wissenschaftler der DDR, Begründer und Leiter der Abteilung Wirtschaftsgeschichte im Institut für Geschichte der Berliner Akademie der Wissenschaften und später Direktor des Instituts für Wirtschaftsgeschichte.

Von Jürgen Kuczynski stammen 3000 – 4000 Veröffentlichungen. Davon sind nach eigener Aussage "nur etwa 100 Bücher oder stärkere Broschüren". Seine Hauptwerke sind "Geschichte der Lage der Arbeiter" (40 Bände) "Studien zur Geschichte der Gesellschaftswissenschaften" (10 Bände) "Geschichte des Alltags des deutschen Volkes" (5 Bände).

 Mehr…

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 .