Tunesien: „Es weht ein frischer Wind!“

Gespräch mit einem Vertreter der PCOT (Kommunistische Arbeiterpartei Tunesiens)

 

In diesen Tagen trafen wir einen Genossen der Kommunistischen Arbeiterpartei Tunesiens, der über die Entwicklung in seinem Land informierte. Wir geben seinen Bericht in Auszügen wieder.

Wir leben in einem großen Moment, sowohl für unsere Partei, für Tunesien und die gesamte Region.

In Tunesien herrschte eine merkwürdige Situation. Es sah so aus, als ob Frieden herrscht. Ben Ali und sein Regime galten international als Vorbild für Stabilität und Entwicklung. Von außen sah man fast nichts.

Doch der jetzige Prozess begann bereits vor rund 3 Jahren mit dem Aufstand in Gafsa. Damals protestierten die Arbeiter beim Phosphatabbau Gafsa gegen die Ausplünderung der Bodenschätze. Hier werden Reichtümer aus dem Boden geholt. Aber nur eine kleine Minderheit hat sich daran bereichert, während das Volk nichts davon hatte. Zudem wurde die Umwelt zerstört. Damals hat die ganze Bevölkerung von Gafsa den Streik unterstützt. Die Partei war dabei und hat den Aufstand ausgeweitet, in andere Städte getragen. So kam es auch in anderen Orten zu Aufständen. Diese spontane Bewegung hat Ben Ali damals gezwungen teilweise darauf einzugehen.

Es gab auch eine Bewegung der kleinen Bauern, die extrem verschuldet waren. Die Banken wollten ihnen ihr Land wegnehmen. Dagegen gab es massiven Widerstand.

Als nun der 26 Jahre alte Universitätsabsolvent Mohamed Bouazizi in Sidi Bouzid sich selbst verbrannte, kristallisierten sich darin alle Probleme, Widersprüche und die Gefühle des Volkes. Es war ein Funke, der sich als Feuer rasch in ganz Tunesien ausbreitete.

Ein Grund für diese explosionsartige Entwicklung war die ungeheuer hohe Arbeitslosigkeit insbesondere bei der Jugend. Ein zweiter Grund war die unverschämte, dreiste Korruption und die Bereicherung der Clique um Ben Ali. In einem Aufruf haben wir u. a. gesagt: Arbeit ist ein Recht! Weg mit Bande von Räubern!

Der Clan von Ben Ali hatte die Wirtschaft des ganzen Landes in seiner Hand. Das Maß war mehr als voll.

Das Regime hat sofort scharf reagiert. Sie wollten einen Aufstand wie vor 3 Jahren verhindern. Aber das Volk war zu allem entschlossen und hat sich erhoben. Dabei hat die Gewerkschaft UGTT eine bedeutende Rolle gespielt, obwohl diese noch bei der letzten Wahl Ben Ali unterstützt hat. Aber darin hatte sich inzwischen auf Initiative von unseren Genossen ein breites Bündnis gebildet, das es geschafft hat, dass die UGTT die Forderungen der Bevölkerung unterstützt. Dadurch kam es zu einer Ausbreitung des jetzigen Aufstandes auf ganz Tunesien.

Von Bedeutung war auch, dass sich viele Rechtsanwälte gegen Ben Ali organisiert haben. Sie waren schon länger eine unabhängige, fortschrittliche Kraft im Land.

Anfang Januar haben sich die Kämpfe im ganzen Land ausgebreitet, sogar auf Tunis. Das war neu. Vorher war alles kontrolliert und überwacht. Das funktionierte nun nicht mehr. Wir haben in die Bewegung die Parolen „Weg mit Ben Ali!“ und „Ben Ali = Diktatur!“ hineingetragen. Das Bewusstsein der Menschen entwickelte sich. Sie erkannten, wir haben nichts zu verlieren, wir müssen kämpfen.

Das Regime hat mit Terror reagiert. Die Polizei hat viele Menschen ermordet. Aber das konnte die Bewegung nicht mehr stoppen. Im Gegenteil! Es hat sie noch angeheizt.

Am 14. Januar wurde dann Ben Ali vom Volk hinausgeworfen. Tausende umzingelten das Innenministerium. Wir sagen heute: Der Diktator ist weg, aber die Diktatur ist noch da! Und bis heute gibt es täglich Demonstrationen.

Ben Ali hat noch alles versucht, um seinen Sturz zu verhindern. Er hat Versprechungen gemacht, Reformen angeboten und zerknirscht erklärt, er sei falsch beraten worden. Aber das Volk hat ihm nicht mehr geglaubt. Das ist auch der Grund, warum die jetzige Regierung Schwierigkeiten hat und nicht akzeptiert wird. Ihnen wird nicht geglaubt. Sie präsentieren sich als „Einheitsregierung“. Zunächst wurden drei Minister von der UGTT gestellt. Aber die meisten Minister stammen von der RCD, der Partei Ben Alis. Die Menschen haben protestiert und so musste die Gewerkschaft UGTT nach einem heftigen Kampf an der Basis ihre drei Minister zurückziehen. Nun hat der Generalsekretär der UGTT sogar gefordert, dass die Regierung zurücktritt.

Die Forderung nach Auflösung der RCD wurde vom Volk bereits praktisch durchgeführt. Es gibt keine Parteibüros dieser Partei mehr. Dabei kam es nicht zu Plünderungen, sondern es wurden einfach die Schilder abmontiert und die Büros geschlossen. In vielen Städten gibt es nun einen Platz oder eine Straße der Revolution oder eine Straße bzw. ein Platz Mohamed Bouazizi, nach dem 26-jährigen, der sich selbst verbrannt hat.

Die Bewegung des Volkes hat einen breiten Spielraum geschaffen.

Unsere Partei, die PCOT, hat in den Jahren der Diktatur viele Schläge erhalten. Viele Genoss/innen waren inhaftiert, wurden gefoltert. Zwei Genossen wurden erst vor wenigen Tagen aus dem Gefängnis befreit. Trotzdem hat die Partei auf den Straßen, in den Kämpfen eine bedeutende Rolle gespielt. Sie war immer vorne. Und sie hat sich immer für die Einheit der Bewegung eingesetzt.

Anfangs hat Ben Ali 300.000 Arbeitsplätze versprochen. Wir haben sofort geantwortet und erklärt, dass er das schon oft versprochen und nie gehalten hat, dass er ein Lügner ist. Mit den Islamisten und einer kleinen Partei waren wir die einzigen politischen Kräfte die den Sturz von Ben Ali gefordert haben.

In der Bewegung sind wir nicht radikal und maximalistisch aufgetreten, sondern haben die Bewegung des Volkes gefördert, unterstützt und deren Forderungen konsequent aufgegriffen. Dadurch haben wir im ganzen Land Rückhalt und Unterstützung gewonnen.

Nun kommen viele zu uns geströmt. Beispielsweise Sympathisanten, die sich unter dem Druck und Terror des Ben-Ali-Regimes zurückgezogen haben. Wir stehen nun vor dem Problem, wie wir alle diese Menschen organisieren sollen.

Inzwischen haben sich drei Parteien legalisiert. Wir noch nicht. Aber wir sprechen darüber. Wir könnten dann besser in der Öffentlichkeit arbeiten.

Vor kurzem hat sich eine „Front des 14. Januar“ gebildet, in der die PCOT neben anderen Kräften mitarbeitet. Diese Front erkennt die derzeitige Regierung nicht als legitim an. Sie will einen realen Bruch mit dem System. Es ist klar, wir können nicht nur „nein“ sagen. Wir müssen jetzt auch sagen, was nun geschehen soll, wie unser Land aussehen soll, welche Verfassung es in Zukunft hat. Die Forderung nach einem neuen System, nach einer neuen Verfassung, nach dem Sturz der alten Institutionen haben wir schon früher aufgestellt. Nun aber ist die Forderung nach einer neuen Verfassung aktuell. Wir fordern daher die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung und die Erarbeitung einer neuen Verfassung nach den Bedürfnissen des Volkes.

Es gibt auch andere Bündnisse und Bewegungen. Wir setzen uns dafür ein, die ganze Bewegung und das ganze Volk zusammenzuschließen, um das gegenwärtige Regime zu stürzen. Kraft gibt uns dabei die große Unterstützung aus dem Volk.

Der Terror Ben Alis hat sich vor allem auf die Polizei gestützt. Die Armee hat sich zurückgehalten – auch jetzt während des Aufstandes. Sie hat daher einen besseren Ruf im Volk. Das System versucht das auszunutzen, um die Armee als „neutrale Kraft“ darzustellen. Für das Volk ist auch klar geworden, dass sich Ben Ali nur durch die Unterstützung der EU, besonders Frankreichs und Deutschlands an der Macht halten konnte. Das werden sie nicht so schnell vergessen.

In eine neue Regierung müssen aus unserer Sicht alle Kräfte, die gegen Ben Ali gekämpft haben. Dazu gehört auch die islamistische Partei. Sie waren Opfer Ben Alis und wird in der Bevölkerung so gesehen. Wir haben schon seit einiger Zeit mit ihnen gesprochen. Dabei haben wir klar gestellt, dass wir nicht über die Religion, über Glauben und Unglauben sprechen, sondern über die Forderungen des Volkes. Welche Rechte haben die Frauen? Was brauchen die Arbeiter? Was benötigt die Jugend? Wir haben deutlich gesagt, dass wir jeden daran messen, wie er sich in diesen Fragen konkret verhält. Ebenso haben wir deutlich gemacht, dass ein neue Verfassung Staat und Religion trennen muss. Die Religion muss eine Privatsache sein. Wir haben die Fragen so aufgeworfen, dass die Islamisten zustimmen mussten. Die Reformisten versuchen nun die Gefahr des Islamismus an die Wand zu malen, um so das alte Regime zu retten. Das ist Propaganda. In der realen Volksbewegung hatten die Islamisten kaum eine Bedeutung. Die Bewegung wurde vom Volk selbst, von der Gewerkschaft UGTT und von uns getragen.

Um den Prozess voranzutreiben und die Erfolge zu sichern, wurden in vielen Orten Volkskomitees zu Verteidigung gebildet, die Plünderungen und Terror der Banden Ben Alis verhindern. Wir bemühen uns, die Komitees höher zu organisieren, ihnen mehr Rechte und Macht zu geben und weiter reichende Forderungen zu entwickeln.