Chile: Monatelange Proteste im gelobten Land

„Die Krise der Erziehung ist die Krise des Modells. Wir wollen das Modell verändern, denn das Modell hat nur die Bereicherung weniger garantiert. Unsere Forderungen sind soziale Forderungen.“ Camila Vallejo, chilenische Studentenführerin

Korrespondenz: Seit sechs Monaten demonstrieren in Chile immer wieder Studenten, Schüler und Lehrer für ein gerechteres Bildungssystem in ihrem Land. Längst haben sich Arbeiter, Angestellte sowie breite Bevölkerungsschichten mit dieser Protestbewegung solidarisiert. Laut Umfragen stehen 89 Prozent der Bevölkerung hinter den Forderungen der Demonstranten. (2) Im Mittelpunkt steht dabei die Forderung nach einem kostenlosen Bildungssystem. Viele beteiligen sich zusammen mit dieser Bewegung an den unterschiedlichen Aktionen. Auf einem Kulturfestival zur Solidarität mit den Studenten beteiligten sich etwa eine Million Menschen! Hunderttausende beteiligten sich an Generalstreiks zu denen die Gewerkschaft CUT aufrief. Die rechts-konservative Regierung reagiert dabei immer wieder mit repressiven Maßnahmen. Einige Maßnahmen des Staatsapparates erinnern laut Augenzeugenberichten an die faschistischen Gewaltakte der Pinochet-Diktatur. Bereits im August ist ein 16- jähriger Junge von Polizisten erschossen worden. Immer wieder versucht das Regime, die Bewegung mit brutalen Polizeieinsätzen einzuschüchtern und über ihre Medien zu verleumden. Demonstranten werden festgenommen, Wasserwerfer eingesetzt, paramilitärische Carabineros prügeln immer wieder wahllos in die Menge! Chile ist nun ein weiteres Beispiel dafür, wie weit bürgerliche Meinungsmache und Realität auseinander liegen. Denn gerade Chile galt in den bürgerlichen Medien lange Zeit als Wirtschaftswunderland, wurde als Vorbild für ganz Lateinamerika gehandelt. Noch bis vor kurzem wurde behauptet, ein sogenannter wirtschaftsliberaler Kurs, der einst unter der Pinochet Militärdiktatur eingeführt worden war und von seinen Nachfolgern fortgeführt wurde, hätte das Land mit Erfolg stabilisiert und zu einer wirtschaftlichen Blüte geführt. So hieß es etwa im Fischer-Weltalmanach: „Seit Jahren zählt Chile zu den stabilsten und am raschesten wachsenden Volkswirtschaften des Subkontinents.“ (3)

Etliche Freihandelsabkommen mit einer ganzen Reihe von Staaten wie z.B. mit Japan, mit der VR China und mit Peru etc. in Verbindung mit einer starken Exportorientierung hätten in Chile zu Wachstum und Wohlstand geführt. Eigentlich dürfte es also gar keine Gründe für solch heftige Proteste geben. Doch bürgerliche Erfolgsmeldungen, Wirtschaftsdaten- und Statistiken allein können die Situation in Chile nicht realistisch darstellen. Vor allem wenn es darum geht, Gewinner und Verlierer eines Wirtschaftswachstums in einer kapitalistischen Gesellschaft deutlich zu benennen. So gehört die universitäre Ausbildung in Chile zur teuersten weltweit. (4) 60 Prozent der Schulen und Universitäten sind private Einrichtungen, die sich immer weniger Menschen leisten können. Das Hochschulsystem in Chile wird von der Protestbewegung als ein Erbe der Diktatur unter Pinochet bezeichnet. 1981 wurde auf Befehl der Junta das bis dahin kostenlose Studium abgeschafft. Die Nachfolgeregierungen haben diesen Einschnitt weder rückgängig gemacht noch abgemildert. Die Privatisierung des Schulsystems wurde fortgesetzt und forciert. Selbst unter der sogenannten Mitte-links-Regierung unter Michelle Bachelet wurde der eingeschlagene Kurs fortgeführt. Als bereits im Jahr 2006 unter dieser sozialdemokratischen Regierung Schüler und Studenten mit der Forderung nach umfassenden Reformen auf die Straßen ging, wurden diese nach monatelangen Auseinandersetzungen mit Versprechungen für die Zukunft abgespeist.

Im Jahr 2011 angekommen, sind keinerlei Versprechungen eingelöst worden. Das Bildungssystem Chiles hat heute vielmehr den Ruf, das ungerechteste weltweit zu sein. Die jetzige Regierung unter Sebastian Pinera zeigt keine Einsicht. Die Vertrauensbasis zur und die Angebote der Regierung waren so unzureichend, dass begonnene Verhandlungen von den Schüler- und Studentenführern bereits am 5. Oktober abgebrochen wurden. Seither geht die Auseinandersetzung weiter. Am 19. Oktober beispielsweise gingen Hunderttausende auf die Straßen, wo es zu massiven Auseinandersetzungen kam.

Vermummte griffen dabei wahllos Passanten, Demonstranten und Polizisten an. Für Innenminister Rodrigo Hinzpeter war dies offensichtlich ein willkommener Anlass, die Demonstration mit Wasserwerfer- und Tränengaseinsätzen aufzulösen. Zudem hat der Politiker bereits einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die Möglichkeiten der Polizei ausweiten soll. (5)

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Quellenangaben

1 Süddeutsche Zeitung vom 27./28.08.2011

2 Verdi Publik, Oktober 2011, „Der Aufbruch für Bildung“

3 Fischer Weltalmanach, Ausgabe 2008, S. 101

4 Angabe lt. der OECD, vgl. Analyse und Kritik, Ausgabe September 2011

5 Junge Welt vom 21.10.2011