Zur Diskussion gestellt: Edel ist der Mensch , hilfreich und gut!

Bei 3SAT gab es im Oktober eine 15teilige Serie zum Thema „Die Natur des Bösen“ mit „wissenschaftlichen“ Beiträgen zum „Bösen im Menschen“. Die meisten von uns kennen wohl das folgende Goethe-Zitat: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut…“ Ich finde, es klingt ein bisschen wie ein hilfloser Stoßseufzer Goethes angesichts der damaligen Wirklichkeit. Seit mehr als 1500 Jahren wird im Sinne dieses Goethe-Zitates nicht nur an jedem Sonntag von allen Kanzeln der Welt gepredigt – das Ergebnis ist – zumindest verglichen mit diesem Aufwand – bestenfalls kümmerlich. Und es wird, wenn es nach der Kirche geht, auch noch Jahrtausende so weiter gehen.

Ich formuliere nun als Naturwissenschaftler den Stoßseufzer Goethes um und behaupte – zugegebenermaßen provokativ und überspitzt: Der Mensch ist edel, hilfreich und gut! Und ich begründe diese nicht nur der oben genannten Fernseh-Serie widersprechende Aussage mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Verhaltensforschung und der Evolution. Die sollen hier nur kurz skizziert werden.

Die Biologen kennen heute auf der Erde mehr als 1,1 Millionen verschiedene Tierarten und sie gehen davon aus, dass das möglicherweise nicht einmal die Hälfte der tatsächlichen Artenzahl ist. Jede dieser Arten (species) hat im Laufe der Evolution die Merkmale herausgebildet, die sie von den anderen Arten unterscheiden, die also für sie typisch (spezifisch) sind. Dazu gehören nicht nur die äußerlich sichtbaren Körpermerkmale und der innere Körperbau, dazu gehört auch das Verhalten.

Den „Kampf ums Dasein“ interpretieren die Anhänger des sog. Sozialdarwinismus anders, als es Darwin getan hat. Ihrer Meinung nach findet dieser Kampf statt unter den Angehörigen einer Art und der Kampf wird solange geführt, bis entweder der Stärkste oder der Fähigste als einziger überlebt – jeder gegen jeden; wer siegt, hat damit bewiesen, dass er zu Recht lebt, und wer unterliegt, hat damit seine Lebensuntauglichkeit bewiesen und es ist nicht schade um ihn.

Darwin jedoch verstand unter dem „Kampf ums Dasein“ den Kampf des Einzelnen (Pflanze, Tier oder Mensch) mit seiner Umwelt. Da muss er sich behaupten gegen die sog. abiotischen und die biotischen Faktoren – das sind unbiologische Umweltfaktoren wie Temperatur, Trockenheit, Lichtangebot, Strahlung usw.; er muss sich aber auch biologischen Umweltfaktoren gegenüber behaupten, z.B. gegen Krankheitserreger, Raubtiere, Nahrungskonkurrenten anderer Tierarten; zu diesen biologischen Umweltbedingungen gehören natürlich auch – wie gesagt: auch ! – seine Artgenossen. Und da lässt sich in der Natur an vielen Beispielen feststellen, dass es keineswegs, wie die offenen und getarnten Sozialdarwinisten behaupten – ein fortwährendes Hauen und Stechen unter den Artgenossen gibt; ganz im Gegenteil: es gibt zahlreiche Beispiele, bei denen die Artgenossen nicht gegeneinander, sondern miteinander gemeinsam kämpfen und sich so gegenseitig im Überlebenskampf unterstützen.

Die Wissenschaft unterscheidet hier eine Reihe verschiedener Formen des sozialen Zusammenlebens von Individuen einer Art, ich nenne nur einige Beispiele: Kolonie, Herde, Schwarm, Schar, Rudel, Volk… Diese Formen des Zusammenlebens sind jeweils durch bestimmte, für sie typische Merkmale gekennzeichnet und sie sind typisch für jede Art. So leben Heringe im Schwarm und nicht im Rudel, Rinder leben als Herde zusammen und nicht als Volk, Bienen leben als Volk und nicht als Kolonie…

Das Zusammenleben in der Gruppe bringt Vorteile. Das einzelne Individuum bringt seine Fähigkeiten in die Gruppe ein, die Gruppe bietet ihm dafür Schutz und Unterstützung. Es ist klar, dass eine Gruppe, in der der eine Teil der Mitglieder auf Kosten des anderen lebt, nicht so gut funktioniert wie eine, in der sich alle gleich beteiligen – sie wird im „Kampf ums Dasein“, im Wettbewerb mit den gut funktionierenden Gruppen auf Dauer keine Chancen haben – womit wir dann das bevorstehende Ende des Kapitalismus biologisch bewiesen hätten…

Den heutigen Menschen (Homo sapiens) gibt es seit etwa 40.000 bis 50.000 Jahren. Manche Wissenschaftler sprechen von 100.000 Jahren – sie beziehen dann den Neandertaler und den Heidelberger Menschen mit ein. Wie dem auch sei, es ist völlig unbestritten und durch gemachten paläontologischen Untersuchungen bestätigt: von Anfang an haben die Menschen in Gruppen gelebt, das ist ein typisches Merkmal der Art Mensch. Das heißt: das Zusammenleben mit anderen Menschen ist für ihn spezifisch – sein Vorteil ist das bessere Bestehen im „Kampf ums Dasein“ mit den anderen Umweltbedingungen. Dieses in der Evolution entstandene Zusammenleben funktioniert aber nur, wenn „der Mensch“ als Art edel, hilfreich und gut ist. Die von Goethe verwendeten Worte sind natürlich keine wissenschaftlichen Begriffe, sondern enthalten eine moralische Wertung, doch ich denke, der Sinn der Worte ist klar.

Nun weiß jeder von uns, dass die Realität anders aussieht, und auch Goethes Stoßseufzer bezeugt, dass es zu seiner Zeit anders war. Ich komme jetzt in Schwierigkeiten, denn man wird mich mit Recht fragen: „Was ist denn mit den Sklavenhaltern, mit den Feudalherren, den Kapitalisten – sind die etwa edel, hilfreich und gut?“ Ich hätte beinahe jetzt gesagt. „Natürlich nicht,“ doch das wäre falsch; ich muß sagen: „Selbstverständlich nicht!“ und ich merke, dass mein wissenschaftlich gut hergeleitetes Modell noch eine offene, ungeschützte Flanke hat. Doch die zu schließen, macht mir keine Schwierigkeiten, denn da kommt mir Karl Marx zu Hilfe. Er hat wissenschaftlich nachgewiesen: „Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein!“

Und damit ist die bisher offene Flanke meines Modells geschlossen. Mit Hilfe der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der wissenschaftlichen Erkenntnisse des Marxismus kann ich nun eindeutig aussagen: „Der Mensch“ als Art ist edel, hilfreich und gut.

Nahezu alle ja unbestreitbar existierenden Abweichungen von dieser Aussage lassen sich aus dem jeweiligen Zustand der menschlichen Gesellschaft erklären. (Es gibt natürlich – wie bei anderen Arten auch – einzelne Individuen mit z.B. genetischen Störungen; es wird auch immer Einzelpersonen geben, die durch ihr Verhalten die Gemeinschaft stören, aber es werden keine ganzen Gemeinschaftsgruppen sein.) „Gut“ ist dann ein Evolutionsvorteil für alle Menschen, während „böse“ nur ein Vorteil für Einzelpersonen bzw. eine kleine Gruppe ist und für die anderen ein Evolutionsnachteil, der ausgemerzt werden wird, d.h. der die Selektion (Auslese) nicht überstehen wird.

Die menschliche Gesellschaft begann mit dem Stadium des Jägers und Sammlers, wurde abgelöst durch die Ackerbauern und Viehzüchter, dann die Sklavenhaltergesellschaft, den Feudalismus und den Kapitalismus, der jetzt dezent als „freie Marktwirtschaft“ beschönigt wird. Ich denke, es wird mir niemand widersprechen, wenn ich behaupte, dass von den Jägern und Sammlern noch niemand wie ein Sklave oder Feudalherr dachte – auch die früheren Ackerbauern hatten noch keine kapitalistischen Mehrwertvorstellungen im Kopf.

Als Jäger und Sammler waren die Menschen, wie alle anderen Tierarten auch, evolutionspassiv; mit dem Übergang zum Ackerbauern und Viehzüchter wurden sie als einzige Tierart evolutionsaktiv, d.h. sie griffen aktiv in die Evolution der von ihnen angebauten bzw. gezüchteten Pflanzen- und Tierarten ein. Hieraus entwickelten sich als Übergangsstadien die oben aufgeführten Gesellschaftsformen auseinander mit sich jeweils ändernden Produktions- und Aneignungsformen; so ist auch zu erklären, dass sich als Übergangsformen (!) der Natur des Menschen widersprechende Ausbeutungs- bzw. Klassengesellschaften herausbildeten. Diese Gesellschaften hatten ihre historische Berechtigung, sie sind aber kein unabänderlicher Naturzustand, sondern nur Durchgangsstadien. Ein weiteres Durchgangsstadium wird es nach dem Kapitalismus nicht mehr geben, denn sein Hauptwiderspruch ist seit mehr als 150 Jahren bekannt: er besteht in der Arbeitsteilung in der Produktion und in der privaten Aneignung des gesellschaftlich Produzierten. Die Lösung des Problems ist in der Theorie einfach: das gesellschaftlich Produzierte muß auch gesellschaftlich angeeignet werden. Doch in der Praxis ist das nicht so leicht zu lösen wie in der Theorie – und das liegt nicht in der angeblichen Natur des Menschen („Der Mensch strebt nach Macht“, „Der Mensch ist böse“ usw.), sondern daran, dass diejenigen, die sich derzeit das gesellschaftlich Produzierte privat unter den Nagel reißen, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Machtmitteln (Staatsapparat, Polizei, Militär) und mit aller Brutalität und mit entsprechender Propaganda eine gesellschaftliche Aneignung verhindern.

Den Kommunisten wird von ihren Gegnern immer wieder unterstellt, sie wollten einen „neuen Menschen“ schaffen. Das trifft nicht zu. Dadurch, dass sie den Kapitalismus als letztes Stadium der Klassengesellschaft beseitigen (die Arbeiter als Ausgebeutete werden das tun), beseitigen sie einen Zustand, der der Natur des Menschen seit mehr als 12.000 Jahren widerspricht, und ermöglichen es dem Menschen, endlich seiner Natur gemäß zu leben – „edel, hilfreich und gut“, um Goethes Worte wieder aufzugreifen.