Envio-Prozess: Putativ-Befangenheit…

Im Prozess um den PCB-Skandal der Dortmunder Firma Envio wurden zwei Sachverständige über die gesundheitlichen Schäden von PCB befragt. Sie wiesen darauf hin, dass die sogenannten „Schwellenwerte“, also die Werte, oberhalb derer eine gesundheitliche Schädigung bei Menschen zu befürchten bzw. bewiesen ist, nach unten korrigiert wurden. Die Verteidigung stürzte sich auf diese Aussage und versuchte ganz offenbar, von einem der beiden Sachverständigen zu die Aussage zu erhalten, die Korrektur sei auf politischen Druck erfolgt. Doch der wies darauf hin, daß die ursprünglichen (zu hohen) Schwellenwerte auf die Ergebnisse von Tierversuchen zurückzuführen sind und die sind nicht einfach auf den Menschen übertragbar; jetzt gibt es (leider) genügend Ergebnisse auch für den Menschen, so dass die Schwellenwerte, die nicht überschritten werden dürfen, wissenschaftlich begründet nach unten korrigiert werden konnten und mußten.
Der dritte geladene Sachverständige – Herr Prof. Kruse – wurde vom Richter kurzfristig wieder ausgeladen, ob wohl er aus Kiel angereist war. Grund für die Ausladung war ein Befangenheitsantrag der Verteidigung gegen Prof. Kruse. Der ist ein anerkannter Wissenschaftler auf dem Gebiet der Toxikologie und hat einen Lehrstuhl an der Christian-Albrecht-Universität in Kiel. Er hält Vorlesungen und leitet Seminare; er ist aber vor allem auch ein Wissenschaftler, der sich engagiert. Bei den Engländern gibt es die Redensart „to call a spade a spade“, was wörtlich übersetzt heißt „einen Spaten einen Spaten nennen“ oder sinngemäß: eine Sache beim rechten Namen nennen. Das tat und tut Herr Prof. Kruse auch: in seinem Seminar und bei Vorträgen bezeichnete er die Vorgänge um die Firma Envio als Umweltskandal und warf und wirft den Angeklagten bewusste Verstöße vor.
Das nahm die Verteidigung nun zum Anlass, gegen ihn einen Befangenheitsantrag zu stellen. Geladen ist Herr Prof. Kruse als Sachverständiger, als anerkannter Wissenschaftler – die Verteidigung stellte seine Qualifikation hierfür ausdrücklich nicht infrage. Dass Prof. Kruse jetzt aber so weit geht, aus seinen wissenschaftlichen Erkenntnisse gesellschaftliche Rückschlüsse zu ziehen, macht ihn in den Augen der Verteidigung „befangen“.  Hauptargument der Verteidigung war dabei, dass dem Hauptangeklagten Neupert nicht zugemutet werden könne, einem Sachverständigen gegenüberzusitzen, der ihn moralisch „vor“verurteilt. Es ist bisher noch nicht bekannt geworden, dass Neupert oder einer der drei anderen Angeklagten jemals ein Wort oder eine Geste des Bedauerns für die PCB-Geschädigten geäußert hätten…