Zur Situation in Tunesien – Interview mit Jilani Hammami

„Arbeit Zukunft“ hatte bei dem kürzlichen Besuch des Genossen Jilani Hammami, Sprecher der Arbeiterpartei Tunesiens (POT) und Mitglieder der Führung der Volksfront, Gelegenehit mit ihm ein Interview über die Lage in Tunesien zu führen.

 

AZ: Was waren die Ziele der Revolution in Tunesien?

JH: Ab dem 17.12.2010 haben die Demonstranten gegen Ben Ali Parolen gerufen, die die Ziele der Revolution charakterisiert haben. Darunter waren vier große Ziele:

  1. Freiheit und Demokratie

  1. Soziale Gerechtigkeit

  2. Würde und nationale Würde

  3. Gleichberechtigung

Diese Forderungen spiegeln die Wünsche des tunesischen Volkes nach 50 Jahren politischer Unterdrückung wieder. Diese Unterdrückung geschah in verschiedenen sozialen und ökonomischen Formen.

Das tunesische Volk hatte das Gefühl, dass die ausländischen Mächte ihm nicht erlauben, frei zu sein und sein Land zu seinem Wohl zu gestalten. Der Unterschied zwischen den Klassen in der Gesellschaft, zwischen den Frauen und Männern, zwischen Stadt und Land und innerhalb der Städte war ein Grund dafür, dass das Volk nach Gerechtigkeit rief.

Nach dem Sturz von Ben Alis hat das Volk diese Forderungen vertieft und detailliert diskutiert. Beim Thema Demokratie und Freiheit forderte das tunesische Volk die Auflösung der RCD (der Partei Ben Alis), des politischen Polizeiapparates, des Parlamentes von Ben Ali, Generalamnestie für alle politischen Gefangenen, die Verfassung und die Gesetze von Ben Ali außer Kraft zu setzen, politische Freiheit (Parteien, Organisationen, Presse…)

 

AZ: Welche Ziele sind erreicht? Welche nicht?

JH: Leider ist nur ein Ziel und das auch nur teilweise verwirklicht. Wir haben etwas mehr Freiheit. Es gibt 164 legale Parteien und 14.000 Vereinigungen. Medien, Parteien, Vereinigungen können deutlich freier arbeiten. Man wird nicht mehr inhaftiert, weil man zu einer Partei gehört. Aber diese Freiheiten sind in Gefahr, weil die jetzige Regierung mit verschiedenen Mitteln versucht, diese Freiheiten wieder einzuschränken. Beispielsweise hat die Regierung am 9.4.12 versucht, das Demonstrationsrecht einzuschränken. Die Regierung wollte Demonstrationen ohne vorherige Genehmigung durch das Innenministerium verbieten. Es sollte auch nicht mehr auf der Hauptstraße von Tunis demonstriert werden, wo die Demonstrationen gegen Ben Ali stattfanden. Sie haben auch versucht, personellen Einfluss auf die Führungen von Zeitungen und Fersehsendern zu nehmen. Alle diese Versuche der Regierung wurden von den demokratischen und fortschrittlichen Kräften z.B. der Journalistengewerkschaft bekämpft und verhindert. Die anderen Forderungen sind leider noch nicht realisiert.

 

AZ: Was sind die Hintergründe des Mordes an Chokri Belaid?

JH: Die Ennadha-Regierung hat seit ihrer Einsetzung durch die Verfassungsgebende Versammlung die sozialen und ökonomischen Forderungen des Volkes nicht erfüllt. Das hat zu vielen sozialen Demonstrationen und Protestaktionen geführt. Parallel hat die Ennadha und ihre Regierung den Salafisten immer mehr Spielraum gegeben und diese gestärkt, um den Kampf des Volkes für seine sozialen Forderungen zu schwächen und sie mit anderen Fragen zu beschäftigen und abzulenken. Diese Taktik der Ennadha zielt darauf, ihren Einfluss zu stärken, den Salafisten eine größere Rolle in der Gesellschaft zu geben und das Land für Gewalt und Terror reif zu machen. In diesem Zusammenhang hat die Ennadha dies ausgenutzt, als Ausrede, dass sie im sozialen Bereich nichts verbessern und sich darum nicht kümmern kann. Die Medien berichten über Waffenhandel in Tunesien und dass die Salafisten Waffen besitzen. Das hat das wahre Gesicht von Ennadha und ihre Doppelmoral gezeigt. Sie reden gegen Gewalt, aber machen nichts gegen die Gewalttaten dieser Leute. So kam es zu vielen Aufrufen, Videos, Erklärungen im Internet, in denen zum Mord an Chokri Belaid und anderen aufgerufen wurde. Ennadha hat erklärt, sie sei dafür nicht verantwortlich. Das seien die Taten von Individuen. Sie hat aber davon profitiert, dass sie mit diesen Gruppen geheime Verbindungen zum Innenministerium geschaffen hat, das von der Ennadha geführt wird.

Ennadha hat Angst, dass sie die nächsten Wahlen nicht gewinnt. Um einen Grund zu finden, die Wahlergebnisse nicht zu akzeptieren, sollten andere Kräfte mit Gewalt auftreten, damit sich Ennadha dahinter verstecken und sich als Gegenpol darstellen kann. In einer solchen gewalttätigen Stimmung hat Ennadha wegen ihrer besseren Organisierung mehr Möglichkeiten. Sie sehen zwei Wege: Sie verlieren die Wahl. Dann bereiten sie sich auf Gewalt und Chaos vor. Der zweite Weg: Sie schaffen es, die Opposition durch die Gewalt zu schwächen, sodass diese nicht gewinnt. Der Mord an Chokri Belaid muss in diesem Zusammenhang gesehen werden.

 

AZ: Wie ist die soziale Lage der Arbeiter/innen in Tunesien? Wie ist die soziale Lage insgesamt?

JH: Die aktuelle soziale Lage ist genauso schlimm wie zu Ben Alis Zeiten. Sie ist sogar schlechter geworden. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 18-19%. Die Inflation beträgt ungefähr 8%. Ein Viertel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze. Der Drogenkonsum hat sich über das ganze Land ausgebreitet, sogar bis in die Schulen. Die Kriminalitätsrate, Selbstmorde sind angestiegen. Die Emigration von Tunesiern – legal und illegal – in die EU ist stark angestiegen. Die Zahl der Scheidungen ist hoch. Die Korruption hat sich ausgedehnt. Illegale Warenimporte und -exporte, Schwarzhandel, hat zugenommen, besonders von und nach Libyen und Algerien. Der öffentliche Dienst ist geschwächt worden. Z.B. werden Strom und Wasser öfters abgestellt. Die Verwaltung arbeitet schlechter als zuvor. Die Zentralbank hat zum ersten Mal entschieden, Konsumentenkredite für die einfache Bevölkerung zu stoppen. Im Gesundheitswesen, der Bildung, bei Wohnungen, Transport ist alles schlimmer als zu Ben Alis Zeiten. Daher gibt es eine explosive Lage und wir erwarten jederzeit wieder einen Volksaufstand.

Die Staatsschulden wurden erhöht. In der Zeit von Bourgibba von 1956 bis 1987 wurden insgesamt 5,5 Milliarden Dollar Staatsschulden aufgenommen. Als Ben Ali ging gab es 28 Milliarden Dollar Staatsschulden. Der Gesamtschuldenstand liegt jetzt bei 40 Milliarden Dollar, das sind 48% des BIP. In 2013 werden 18% des Staatsbudgets für die Bezahlung der Schulden aufgewendet.

Die Weltbank hatte Verhandlungen über einen Kredit über 1,8 Milliarden geführt und dafür verlangt: Keine Lohnerhöhungen, Preise freigeben, die staatliche Preisstützung aufhören, die Beschäftigung im öffentlichen Dienst einzufrieren und abzubauen. Die Regierung hat das akzeptiert. Darüber hinaus will die Regierung 500 staatliche Betriebe privatisieren, d.h. an ausländische Monopole verkaufen. Und sie haben bereits viele Staatsunternehmen verkauft wie Tunisiana (Telekom)…

 

AZ: Was sind die Forderungen der Jugend? Wie ist die soziale Lage der Jugend?

JH: Die Forderungen der Jugend sind die Forderungen des Volkes. Aber die Jugendlichen konzentrieren sich vor allem auf die Forderung nach dem Recht auf Arbeit. Die Jugendlichen haben eine große Rolle gespielt, um die Revolution mit ihrem Enthusiasmus und ihrem Willen voranzubringen. Sie haben die modernen Medien genutzt und viel mobilisiert.

In der jetzigen Situation sind die Jugendlichen die ersten Opfer. Die größte Arbeitslosenzahl besteht bei den Jugendlichen. Von 800.000 Arbeitslosen sind 255.000 arbeitslose jugendliche Akademiker mit einem Diplom. Drogenkonsum, Alkohol verbreiten sich in der Jugend, weil die jungen Menschen keine Perspektive sehen. Auch die illegale Auswanderung betrifft vor allem die Jugend. Andererseits haben die Jugendlichen viel Kreativität gezeigt, moderne Kampfmittel entwickelt. So wie die Jugend eine große Rolle beim Sturz Ben Alis gespielt hat, ist sie auch jetzt bereit und aktiv, für die Ziele der Revolution zu kämpfen und besonders gegen die Ennadha und die Kräfte, die Gewalt und Terror ausüben und ihre Freiheit und die Freiheit des Volkes bedrohen.

Wir betonen, dass es zwei starke Elemente des Widerstandes gegen Ennadha und die Reaktionäre gibt: die Jugend und die Frauen. Sie sichern dem tunesischen Volk, dass die reaktionäre Politik zurückgewiesen wird.

 

AZ: Welche Rolle spielen die EU, Frankreich, Deutschland, die USA?

JH: Die Ennadha-Regierung hat dem Einfluss der USA, der EU und der Golfstaaten die Tür geöffnet. Die EU und die USA, die etwas von der Revolution überrascht wurden, haben ganz schnell die Situation wieder unter ihre Kontrolle gebracht. Zwei Monate nach der Revolution hat der Vertreter des Außenministeriums der USA, Feldmann, diese Länder bereist, um die Großbourgeoisie zu beraten, wie sie sich gegenüber der Revolution verhalten sollen. Für die EU und die USA war das erste Ziel, dass die Leute von Ben Ali wieder regieren, und wenn das nicht klappt, dann Ennadha. Ihr Ziel war der Erhalt ihrer wirtschaftlichen Interessen im Land. Eine formelle Veränderung stört sie dabei nicht. Sie haben weiter Kredite versprochen – natürlich unter ihren Bedingungen. Deutschland hat versucht, sich als menschlicher Helfer darzustellen. Am 26.10.2011 hat der deutsche Botschafter in Tunesien geäußert, dass Tunesien einen Teil des Kredites von Deutschland nicht zurückzahlen muss, sondern dieser in Investitionen umgewandelt wird. Kurz danach ist der tunesische Premierminister nach Deutschland geflogen, wo Merkel das bestätigt hat. Doch das ist eine heuchlerische Maßnahme. Denn diese Maßnahme hat praktisch für Tunesien nichts gebracht. Frankreich, sowohl unter Sarkozy wie auch unter Hollande, hat immer dieselbe Politik verfolgt. Francois Hollande hat vor seiner Wahl zum Präsidenten zwei Versprechungen gemacht: Erstens die Staatsschulden von Tunesien zu annullieren. Zweitens ernsthafte Maßnahmen zur Verteidigung der Freiheit in Tunesien zu ergreifen und gegen die Gewalt. Das war eine Botschaft gegen Ennadha. Nach der Wahl hat er nicht die Schulden gestrichen, sondern sein Versprechen. Zweitens hat er sich bereit erklärt, mit Ennadha zusammenzuarbeiten. Am 13.3.13, nach dem Mord an Chokri Belaid und der Regierungskrise, haben die EU und die USA die neue Ennadha-Regierung wieder unterstützt. Eva Joly, Europäisches Parlament, hat geäußert, dass die Schulden Tunesiens eine große Gefahr für das Land und die EU darstellen. Aber ihre Meinung wird ignoriert. Im Gegenteil, am 19.11.2012 wurde in Brüssel ein Protokoll für die privilegierte Partnerschaft EU-Tunesien unterzeichnet. Eigentlich war das für Dezember geplant, wurde aber rasch vorgezogen. Die EU hatte bereits Angst, dass die Regierung nicht mehr lange an der Macht bleibt. Dieses Protokoll erlaubt den großen Monopolen, in die tunesische Ökonomie einzudringen. Bis dahin gab es das nur für den industriellen Bereich, Das wurde jetzt ausgedehnt auf die Landwirtschaft, Wissenschaft, Dienstleistungen, Tourismus, Banken, Versicherungen. Damit wurde Tunesien zu einer Kolonie der EU.

 

AZ: Welche Rolle spielt die Volksfront?

JH: Die Volksfront war von Anfang an wichtig für die Revolution, für den Zusammenschluss aller fortschrittlichen und revolutionären Kräfte. Im vergangenen Jahr hat sie sich gestärkt und umfasst nun viele linke, fortschrittliche, pan-arabische und revolutionäre Organisationen und Parteien. Die Volksfront hat ein klares Programm, dass auch die vier oben genannten Kernpunkte der Revolution umfasst. Während Ennadha die Menschen mit Phrasen und Versprechungen abspeist und dadurch immer mehr an Einfluss verliert, repräsentiert die Volksfront die Wünsche der Arbeiter und des Volkes. Sie hat dadurch zunehmend an Einfluss gewonnen und kämpft um die Macht. In Meinungsumfragen ist sie mittlerweile die stärkste politische Kraft – noch vor Ennadha. Auch das ist einer der Hintergründe für den Mord an Chokri Belaid und den Terror der Salafisten.

 

AZ: Wie beurteilst Du die Lage in Nordafrika insgesamt? Welche Ziele haben die imperialistischen Staaten, welche Ziele haben die Völker in dieser Region?

JH: Da gibt es verschiedene Aspekte. Politisch will der Imperialismus im Allgemeinen mit allen Mitteln die revolutionäre Bewegung in der Region stoppen. Im schlimmsten Fall orientieren sie die Revolution in eine falsche Richtung, sodass sie ihre Ziele nicht erreichen kann. Im für sie besten Fall unterstützen sie die alten Regime wie in Marokko und Algerien. Es gibt eine Konkurrenz zwischen Frankreich und den USA. Marokko, Tunesien, Algerien sind durch Abkommen mit der EU verbunden. Die USA machen derzeit alles, um mit diesen Ländern ebenfalls Abkommen zu schließen. Das gehört zu ihrem Projekt für den Neuen Nahen Osten (MENA).

Es gibt eine Zusammenarbeit zwischen EU und USA, z.B. gegen die Bedrohung durch die Salafisten. In Südalgerien, Südlibyen, Südtunesien gibt es salafistische Gruppen und Terror sowie Verbindungen zu Mali. In Syrien arbeiten die Imperialisten mit den Salafisten zusammen, in Nordafrika bekämpfen sie diese. Sie teilen ihre Interessen auf. Sie wollen den Einfluss Chinas in der Region stoppen. Sie wollen das als ihr Gebiet behalten. Diese Region ist eine Region, wo die EU ihre Interessen nicht verlieren will und die USA ihre Interessen ausdehnen wollen.

Die Völker in der Region sind sehr aktiv gegen diese Einmischung. Der revolutionäre Prozess in Tunesien geht weiter. In Algerien gibt es ein Wiederaufleben der Proteste. In Guelma, Algerien, gab es letzte Woche große Protestaktionen, die von den Arbeitslosen angeführt wurden. In Marokko ist die Bewegung des 20.Februars nicht erledigt, sondern kämpft weiter und bemüht sich, eine Volksfront zu bilden. In Algerien und Marokko ist die Situation für die reaktionären Kräfte noch nicht stabil.

 

Zur Person:

Jilani Hammami, Sprecher der POT seit Dezember 2012, nachdem Hamma Hammami zum Sprecher der Volksfront wurde. Er war 1986 einer der Gründer der POT. Er war Gewerkschaftsaktivist. Er war Generalsekretär der Post und Telekommunikationsgewerkschaft von 89 bis 99. 84-88 war er aus politischen Gründen entlassen und für 6 Monate im Gefängnis. Danach erhielt er wieder seine Arbeit. 95-99 wurde er erneut entlassen. 97 kam er wieder ins Gefängnis. 99 hat er bei einer Mineralölfirma zu arbeiten angefangen. In der Parteiführung ist er seit 1986. Er ist verheiratet und hat drei Kinder.