Darwinismus contra Sozialdarwinismus

Sozialdarwinismus – „wissenschaftliche“ Rechtfertigung der Ausbeutergesellschaft

Seit etwa 150 Jahren leben wir im Zeitalter der Naturwissenschaften, doch das Bildungssystem auch in Deutschland beruht immer noch auf den Geisteswissenschaften. Die Erkenntnisse der Naturwissenschaftler wurden allerdings von Anfang an vor allem in der Biologie von den Kapitalisten zur Stabilisierung ihrer Herrschaft missbraucht.

So wurde und wird mit angeblichen Erkenntnissen der Genetik (Vererbungslehre) versucht, die Unterlegenheit bzw. Minderwertigkeit menschlicher „Rassen“ zu „beweisen“ (wir benutzen hier Anführungsstriche, denn der Begriff stammt nicht aus dem Spachgebrauch der Biologen, sondern aus dem der Tierzüchter); ja, es wurde und wird immer wieder behauptet, kriminelles Verhalten sei „angeboren“ – dazu wurde z.B. vor etwa 50 Jahren sogar ein „Mörder-Chromosom“ bei Männern „entdeckt“ – und selbstverständlich sind Arbeiter erblich bedingt dümmer als Akademiker…

Seit etwa 50 Jahren wird die Verhaltensforschung als Wissenschaft ernsthaft betrieben und auch ihre Ergebnisse wurden missbraucht – der Verhaltensforscher Konrad Lorenz „entdeckte“ (besser: erfand) als Erklärung für die gesellschaftlichen Unruhen einen „Aggressionstrieb“ und erhielt dafür sogar den Nobelpreis…

Der Evolutionslehre erging es nicht besser. Dabei ist zu bemerken, dass die Vorstellungen, die im sog. Sozialdarwinismus vertreten werden, schon vor Darwin existierten – ihnen wurde lediglich nach der Veröffentlichung von Darwins Forschungsergebnissen die Bezeichnung „Sozialdarwinismus“ übergestülpt, obwohl ihre Auffassungen zu denen Darwins in absolutem Widerspruch stehen. Als einer der Begründer der dann „Sozialdarwinismus genannten Vorstellungen gilt Thomas Robert Malthus (1766-1834). Während z.B. Justus von Liebig nach Möglichkeiten suchte, angesichts der rasch zunehmenden menschlichen Bevölkerung und der Zunahme der Zahl der Hungernden mehr Nahrungsmittel zu produzieren, lehnte Malthus eine Hilfe für hungernde Menschen ab, weil dadurch deren Zahl angeblich schneller wachse als die der Nahrungsmittel.

In Darwins Erkenntnissen spielen zwei Formulierungen eine wichtige Rolle, die – ins Deutsche übersetzt – auch in unseren Sprachgebrauch übergegangen sind und jedem bekannt sind. Das ist zum einen „struggle for life“, ins Deutsche eingegangen als „Kampf ums Dasein“ – keine wörtliche, aber sinngemäß wohl richtige und zulässige Übersetzung; das ist zum anderen das „survival of the fittest“, ins Deutsche eingegangen als „Überleben des Stärkeren“ – diese Übersetzung ist sinngemäß falsch; es gibt eine bessere Übersetzung mit „Überleben des Fähigsten.“

Beide (englischen) Formulierungen stammen nicht von Darwin, er hat sie jedoch verwendet, und zwar ganz anders als die Sozialdarwinisten, wie wir zeigen werden. „Survival of the fittest“ wird z.B. dem englischen Biologen Herbert Spencer zugeschrieben. Es widerspreche den Naturgesetzen, wenn schwächeren, hilflosen Individuen geholfen werde. Das findet man auch in Hitlers „Mein Kampf“ (s. AZ 2-2013). Wir erkennen hier, dass solche Anschauungen kein Teil der faschistischen Ideologie sind, sondern dass diese Anschauungen Teil der bürgerlichen Ideologie sind und von den Nazis nur übernommen wurde.

Manche Kritiker des Sozialdarwinismus glauben, die Trennungslinie zwischen beiden „Ismen“ in der unterschiedlichen Deutung des zweiten Zitates sehen zu können und betrachten das „Überleben des Stärkeren“ als Sozialdarwinismus und das „Überleben des Fähigsten“ als Darwinismus. Doch hier liegt die Trennungslinie nicht, beide Auffassungen spiegeln den Sozialdarwinismus wieder, die zweite nur in etwas abgeschwächter Form. Denn bei beiden Aussagen geht es um das Überleben des Stärkeren bzw. Fähigeren, womit indirekt ausgesagt wird, dass der Schwächere bzw. nicht so Fähige nicht überlebt – sie erklären also hauptsächlich das Aussterben von Arten bzw. Individuen. Der Kampf ums Dasein findet nach Auffassung der Sozialdarwinisten nicht nur zwischen verschiedenen Arten, sondern vor allem innerhalb einer Art statt, und hier überlebt dann – zumindest angeblich – der Stärkere bzw. Fähigere und der Schwächere bzw. Unfähigere wird entweder ausgemerzt oder unterdrückt.

Erscheint das nicht merkwürdig bekannt? Geht es so nicht auf dem kapitalistischen Markt zu – die wirtschaftlich stärkeren (oder skrupelloseren ?) Unternehmen drängen die schwächeren vom Markt bzw. verschlingen sie; das Ergebnis ist eine ständige Abnahme der Firmenzahl bis hin zu den Monopolen. Und das „entdecken“ die Sozialdarwinisten nun als angebliches Naturgesetz? In Wirklichkeit haben sie die Funktionsweise des kapitalistischen Marktes in die Natur hinein interpretiert und lassen sie dann von entsprechenden „Wissenschaftlern“ als Naturgesetze „entdecken“, um so den Kapitalismus „wissenschaftlich“ zu rechtfertigen…

So weit waren wir in unseren Vorstellungen gekommen, und die halten wir auch für richtig und für wichtig; doch die Diskussion mit Bochumer Opelanern über dieses Thema machte uns noch etwas viel Wichtigeres klar: sie empfanden die Vorstellungen des Sozialdarwinismus als „naturwissenschaftliche“ Rechtfertigung für die Unterdrückung der Arbeiterklasse durch die im Kapitalismus herrschende Klasse (und fühlten sich durch gewisse „linke“ Intellektuelle ebenso behandelt.) Und da haben sie völlig Recht. „Dem Tüchtigen gehört die Welt“ – diesen Spruch kennt wohl jeder. Das bedeutet, dass derjenige, dem die Welt gehört, tüchtig ist – und sie gehört ihm, weil er tüchtig ist. Wer ist das wohl ? Und der Spruch bedeutet, dass derjenige, dem die Welt nicht gehört, untüchtig ist, was wiederum bedeutet, dass sie ihm zu Recht nicht gehört – und wer ist das wohl?

Was soll also eine Revolution? Die bringt nur die Welt in Unordnung, widerspricht der Natur und scheitert deswegen auch immer wieder… Und es ist ja nur Sozialneid, den die agitatorischen Störenfriede entfachen unter denen, die mit ihrer von der Natur (oder Gott ?) vorgesehen Situation zu Unrecht unzufrieden sind…

Wir hoffen, jeder Leserin und jedem Leser ist klargeworden, dass wir das in den letzten Zeilen Ausgesagte nicht vertreten. Wir betrachten die vor etwa 10.000 Jahren aufgekommenen Klassengesellschaften als der Natur des Menschen widersprechend und kennen nichts Ähnliches bei anderen Tierarten (biologisch gesehen gehört der Mensch ins Tierreich, zu den Säugetieren).

Wenden wir uns nun den Auffassungen Darwins zu. Er verwendete, wie schon geschrieben, die beiden Zitate ebenfalls, doch in ganz anderem Sinn. Das Hauptgewicht seiner Arbeit besteht nicht darin, das Aussterben und damit die Abnahme der Artenzahl zu erklären, sondern im Gegenteil: er gibt eine Erklärung für die Entstehung der ungeheuer großen Artenzahl – sie umfasst mehrere Millionen (manche Wissenschaftler sprechen von 30 Mio.) verschiedenen Arten. Das geht schon aus dem Titel seines Hauptwerkes hervor: „The Origin of species by natural selection“ (Deutsch erschienen als „Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl“, Hervorhebung AZ).

Darwin leugnet den Kampf zwischen verschiedenen Arten nicht, zeigt aber auf, wie er in der Natur für gewöhnlich beendet wird: die am Kampf (heute sprechen die Biologen von Konkurrenz) beteiligten Arten gehen einander aus dem Wege und überleben so nicht nur, sondern erobern so auch neue Lebensräume, was dazu geführt hat, dass heute auf der Erde alle Bereiche, in denen Leben möglich ist, auch von verschiedenen Arten besiedelt sind.

Wir nennen hier als Beispiel die Galapagos-Finken. Heute gibt es 13 (oder 14 – die Wissenschaftler sind sich nicht einig) Arten auf dieser weit im Pazifik liegenden Inselgruppe. Die Inseln sind vulkanischen Ursprungs, hatten also nie Verbindung mit einem Kontinent. Der nächste Kontinent ist Südamerika, dort gibt es heute nur 2 Finkenarten, obwohl Südamerika viel größer ist als die erwähnte Inselgruppe. Man nimmt an, dass – vielleicht durch Tropenstürme – eine Finkenart auf die Inseln verschlagen wurde; die waren im Gegensatz zum Festland relativ jung und unbesiedelt, d.h. es gab viele freie ökologische Nischen. Die auf den Galapagos gestrandete Finkenart aus Südamerika überlebte und vermehrte sich, die Individuen machten sich untereinander Konkurrenz, neue durch Mutationen (Erbänderungen – die gibt es immer) auftretende Finkenformen konnten überleben, weil die Nischen noch nicht von anderen Arten besetzt waren – das vorläufige Endergebnis dieses Prozesses sind heute die 13 bzw.14 verschiedenen Arten. Die müssten sich nun nach Auffassung der Sozialdarwinisten untereinander bekämpfen, bis nur noch die „stärkste“ oder „fähigste“ übrigbleibt, doch wir haben gerade aufgezeigt, dass das Gegenteil stattfindet: auch heute noch geht die Artbildung weiter.

So, wir hoffen, unsere Leser(innen) haben diese Abschweifung gut überstanden. Nun wieder zurück zum „Kampf ums Dasein“ nach Darwins Erkenntnissen. Seine Auffassung wird in einem Dokumentarfilm des BBC gleich im 2. Satz richtig wiedergegeben: „Vom ersten Augenblick seiner Existenz an kämpft jeder Einzelne um sein Überleben“.

Jeder Einzelne muss sich vom ersten Augenblick an in seiner Umwelt behaupten. Er muss sich auseinandersetzen mit sogenannten abiotischen Faktoren, das sind nicht-biologische Faktoren wie Temperatur, Feuchtigkeit, Lichtangebot, Bodenbeschaffenheit, verschiedene Strahlungen usw.; er muss sich aber auch auseinandersetzen mit biotischen Faktoren, also biologischen Faktoren, das sind Nahrungskonkurrenten anderer Arten, Krankheitserreger, Raubtiere – dazu gehören aber natürlich auch die eigenen Artangehörigen. Und unter denen findet ja – wie die Sozialdarwinisten behaupten – der „Kampf ums Dasein“ und das „Überleben des Stärkeren/Fähigeren“ statt, auch (besser: vor allem) in der Klassengesellschaft des Menschen. Der (von ihnen bestrittene) Klassenkampf wäre dann ein Überleben des Stärkeren im Kampf ums Dasein, also die Herrschaft der „stärkeren“ bzw. „fähigeren“ Bourgeoisie über die „schwächere“ bzw. „unfähigere“ Arbeiterklasse – aber ausgerottet wird die Arbeiterklasse nicht, denn ohne (ihre) Arbeit gibt es ja keinen Reichtum für die „Stärkeren/Fähigeren“…

Die Natur beweist aber etwas ganz anderes: bei zahlreichen Tierarten schließen sich die Artangehörigen zu unterschiedlichen Gruppen wie Herden, Rudeln, Völkern usw. zusammen, um miteinander und nicht gegeneinander den Kampf ums Dasein besser zu bestehen. Das gilt auch für den Menschen – schon die Vorformen des heutigen Homo sapiens lebten in Gruppen zusammen und kamen so besser in ihrer Umwelt zurecht.

Was ist nun mit dem „Überleben des Fähigsten“ nach Auffassung von Darwin? Ihm fiel auf, dass alle Tiere – das gilt übrigens auch für Pflanzen, wir haben im bisherigen Text uns nur auf Tiere bezogen – mehr Nachkommen erzeugen, als dann in der nächsten Generation tatsächlich auch als erwachsene, fortpflanzungsfähige Nachkommen vorhanden sind. Bei unveränderten Umweltbedingungen bleibt die Population einer Art durchschnittlich gleich, d.h. es bleiben bei zwei Eltern auch nur zwei Nachkommen übrig, unabhängig davon, wieviele Eier gelegt oder Junge geboren wurden.

Nehmen wir an, es werden 10 Jungtiere geboren; geben wir jedem dieser Jungtiere als Kennzeichnung eine Zahl, dann stellen wir z.B. fest, dass von ihnen Nr.3 und Nr. 8 das Erwachsenenstadium erreicht haben, die anderen nicht. Warum gerade die beiden? Zufall, sagen die einen (wir nicht); Gottes Fügung, sagen die anderen (wir nicht); die stärksten, sagen die Sozialdarwinisten (Darwin und wir nicht); die fähigsten (sagen Darwin und wir). Was kann dem Nachwuchs passieren? Einige Jungtiere fallen abiotischen Faktoren zum Opfer, andere werden gefressen, erliegen Krankheiten usw.

Darwin ging richtigerweise von der Annahme aus, dass die Individuen sich in ihren Fähigkeiten (Erbanlagen) unterscheiden. Die einen können Temperaturschwankungen besser ertragen, andere kommen länger ohne Futter aus, können schneller laufen, haben eine bessere Tarnfarbe… da gibt es unzählige, von Art zu Art unterschiedliche Möglichkeiten – die Fähigsten überleben hierbei, und wenn diese Fähigkeiten erblich bedingt sind, dann geben die Eltern diese an die nächsten Generationen weiter und bewirken so eine Weiter-, eine Besserentwicklung der jeweiligen Art.

Und der Mensch? Wo steht der in all dem Geschilderten? Für ihn gelten die Gesetzmäßigkeiten der Natur ebenso wie für alle Arten. Von seiner Natur her ist der Mensch ein Gruppenwesen – die Mitglieder der Gruppe unterstützen und helfen einander im gemeinsamen Kampf ums Dasein. Eine Gruppe, in der ein Teil auf Kosten und durch Unterdrückung eines anderen Teils der Gruppe lebt, wie es ja in der Klassengesellschaft der Fall ist, kann nicht so gut funktionieren wie eine Gruppe, in der alle einander unterstützen – sie wird im „Kampf ums Dasein“ den Kürzeren ziehen…

Es bleiben noch weitere Fragen offen, z.B.: Wie kam es in der Evolution zur Sonderstellung des Menschen? Gibt es im Tierreich andere Arten mit solchen Machtstrukturen wie beim Menschen? Auf diese und andere Fragen werden wir in weiteren Artikeln eingehen – wir freuen uns dabei über Anregungen aus dem Leserkreis, wie sie ja von den Bochumer Opelanern schon gemacht wurden.