Envio-PCB-Skandal in Dortmund: Was bleibt, ist die Angst

„Unsere Kompetenz liegt darin, schnell auf der ganzen Welt eingreifen zu können, um die Umwelt und die Menschen dort zu schützen.“

Das ist nicht etwa eine Drohung der US-Regierung oder der NATO, sondern eine Behauptung des Firmen-Chefs Dirk Neupert in einem früheren Werbespot des Recycling-Unternehmens Envio. Inzwischen sitzt er seit etwa 18 Monaten als einer der Hauptangeklagten auf der Anklagebank des Landgerichts in Dortmund. Vorgeworfen wird ihm – nicht vom Landgericht – die Vergiftung von etwa 360 (andere Quellen nennen eine weit größere Zahl) Menschen aus Profitsucht. Den Profit machte er bis zur Schließung des Betriebes 2010 durch das Ausschlachten z.B. alter Transformatoren, deren Kupferinhalt auf dem Weltmarkt hohe Preise brachte und bringt, die aber auch hochgiftige PCB-Verbindungen enthalten – AZ hat bereits mehrfach darüber berichtet. In Dortmund darf er nicht mehr „ausschlachten“, das soll er jetzt in Südkorea machen…

Etwa 200 der Geschädigten nahmen am inzwischen leider beendeten Betreuungsprogramm des Arbeitsmediziners Prof. Thomas Kraus an der TU Aachen teil. Unter ihnen eine Reihe ehemaliger Envio-Leiharbeiter, aber auch Familienangehörige und Menschen, die auf dem Weg zu und von ihrem Arbeitsplatz täglich einfach nur durch das Gelände in der Nähe des Skandalbetriebs radelten. Das allein reichte bei einem von ihnen aus, den PCB-Gehalt in seinem Blut auf das Dreifache ansteigen zu lassen…

Prof. Kraus hat bereits bei einer früheren Anhörung als „Sachverständiger Zeuge“ anhand seiner Untersuchungsergebnisse aufzeigen können, dass die Blutwerte der von ihm untersuchten Leiharbeiter in ihrer Zeit als Envio-Beschäftigte deutlich über den Werten lagen, die nach der Stilllegung des Betriebes bei ihnen gemessen wurden. Eine Entwarnung ist das für sie nicht, denn das PCB ist nicht etwa abgebaut oder ausgeschieden worden, sondern hat sich im Körperfett angereichert, und das für Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. Dort zerfallen die PCBs (insgesamt kennt man bisher 209 verschiedene Verbindungen, alle künstlich hergestellt und daher dem natürlichen Abbauprozess entzogen) mit unterschiedlichen Halbwertszeiten in bisher weitgehend unbekannte Abbauprodukte. Deren Auswirkungen sind ebenfalls weitgehend unbekannt.

Prof . Kraus hat nun vor dem Landgericht – die Verteidigung konnte es offenbar nicht verhindern – die Ergebnisse seiner medizinischen Untersuchungen dargelegt. Er sieht eindeutige Auswirkungen der PCB-Belastung auf Schilddrüsenhormone, einzelne geschlechtsspezifische Hormone, Veränderungen an der Haut, Auffälligkeiten in der Leberfunktion, gehäufte Veränderungen im Nervensystem, und zwar sowohl im zentralen Nervensystem als auch im peripheren ( = äußeren) Nervensystem. Er stellt bei vielen seiner Patienten auch eine tiefe Verunsicherung beim Blick in die Zukunft fest, die zu Depressionen führt. Er sieht „erhebliche Sorgen und Ängste, ob vielleicht zukünftige ernstere Erkrankungen auftreten“ und fragt „ob mit dem Abfall der immensen inneren Belastungen sich vielleicht bei vielen eine Besserung ergibt.“ (in einem WDR-Interview)

Seine Untersuchungsergebnisse werden z.Z. von dem Essener Arbeitsmediziner Albert Rettenmeier„gegengelesen“ – er wird etwa im Dezember ebenfalls vom Landgericht als Zeuge vernommen werden. Doch die Untersuchungen von Prof. Kraus haben schon bewiesen, dass die Blutwerte der Opfer während ihrer Zeit bei Envio höher lagen als heute, dass sie das PCB also in jener Zeit vermehrt aufgenommen haben.

Doch nicht nur hier ergibt sich wieder ein Schlupfloch für die Angeklagten. Es verstärkt sich in letzter Zeit immer mehr der „50-Prozent-Verdacht“, die Befürchtung nämlich, dass Envio nicht die einzige PCB-Dreckschleuder im Dortmunder Hafengebiet ist. Denn auch heute noch – mehr als drei Jahre nach der Schließung – werden „erstaunlich“ hohe PCB-Werte in diesem Dortmunder Viertel gemessen. Woher kommen sie? Können etwa andere Betriebe einfach weitermachen, um das Image des „Industriestandortes Dortmund“ nicht zu gefährden? Und wie können wir nachweisen, dass unser oben erwähnter Radfahrer sich seine PCB-Belastung auf der Vorbeifahrt bei Envio geholt hat und nicht bei einem anderen „umweltfreundlichen“ Betrieb?

Im September 2008 versicherte Firmenchef Neupert der „Behörde“, der Bezirksregierung Arnsberg schriftlich: „Eine Gefährdung der Mitarbeiter beim Versuchsbetrieb und beim späteren Normalbetrieb können wir daher sicher ausschließen.“

Michael Müller, PCB-Gutachter der UN, sah das nach ihm vorgelegten optischen Beweismaterial anders: „Die Prozessabläufe waren so dilettantisch, dass man hier wirklich nur mit Vollschutz hätte arbeiten dürfen.“

Der wurde den insgesamt 8 bei Envio Vollbeschäftigten auch zur Verfügung gestellt. Die anderen – allesamt Leiharbeiter – bekamen als Atemschutz z.B. „bessere Papiertücher“. „Um Atemschutzmasken musste man betteln und wenn man dann mal gefragt hat, ob man so eine haben kann – wofür man das den bräuchte, das wäre ja alles gar nicht so schlimm,“ so einer der geschädigten Leiharbeiter. „Wenn mal meine Schweißhandschuhe durchlöchert waren, hieß es nur, ich solle besser darauf aufpassen, weil die Dinger teuer sind.“

Uns drängt sich ein Verdacht auf: für „seine“ 8 Vollbeschäftigten hat Neupert offenbar gesorgt, ihnen hat er die gesetzlich vorgeschriebene Schutzkleidung zur Verfügung gestellt, „obwohl die Dinger teuer sind.“ Anders sieht es da bei den Leiharbeitern aus – die sollten ihre Schutzkleidung offenbar selber mitbringen, für 7,50 € Stundenlohn, und das, „weil die Dinger teuer sind.“ Denn die Leiharbeitsfirma hat ihre Billiglohnarbeiter zwar an Envio vermittelt, sie aber auch nicht mit der notwendigen Schutzkleidung ausgerüstet, „weil die Dinger teuer sind“, teurer jedenfalls als die Gesundheit und das Leben von Arbeitern…

Den Opfern bleibt zu wünschen, dass ihnen die materiellen Existenzsorgen genommen werden, was hoffentlich psychisch zu ihrer Beruhigung und damit zur Stärkung ihrer körperlichen Widerstandskraft beiträgt. Dazu würde aber sicherlich auch eine gerechte Strafe der Profiteure beitragen, doch da fällt uns die wissenschaftliche begründete Feststellung von Karl Marx ein: „Die herrschenden Gesetze sind die Gesetze der Herrschenden.“

Von den Untersuchungen des Prof. Kraus und den Auswertungen von Prof. Rettenmeier fordert das Gericht und erhoffen sich nicht nur die Nebenkläger „einen eindeutigen wissenschaftlichen Nachweis, dass die Männer von PCB in ihrem Blut krank wurden und durch nichts anderes… In jedem Einzelfall muss nachgewiesen werden, dass durch die PCB-Belastung Krankheitszustände (verursacht), also eine Körperverletzung begangen worden ist,“ so Rechtsanwalt Quittmann.