Pflegekatastrophe? (1. Teil)

Im Jahr 2030 werden fast eine halbe Million Vollzeitstellen in der Pflege unbesetzt sein, so eine Studie der Bertelsmann-Stiftung, der „Pflegereport 2030“ vom November 2012.

Der Deutsche Pflegerat e.V. betont dazu in einer Stellungnahme, wichtig sei zuvorderst, die dramatisch unterfinanzierte Ausbildung von Pflegefachpersonen besser auszustatten. Bis heute gebe es Probleme bei der Finanzierung in der Alten- und Krankenpflegeausbildung. Wichtig sei darüber hinaus, den Personalabbau in der Pflege umzukehren und die Arbeitsbedingungen deutlich zu verbessern. Nach Schätzung des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) fehlen heute rund 30.000 Pflegekräfte in Deutschland. Bis 2025 würden wegen der weiter steigenden Zahl von Pflegebedürftigen rund 400.000 zusätzliche Pflegekräfte gebraucht werden.

 

Ausbildung von Personal

 

Nach jüngsten Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (BA) haben 2013 etwa 2.700 Arbeitslose mit einer Qualifizierung für die Altenpflege begonnen. Das ist etwa die Hälfte mehr als in den ersten acht Monaten des Vorjahres. Fast 3.100 Erwerbslose schlossen ihre Weiterbildung erfolgreich ab – 1.300 mehr als von Januar bis August 2012.

Der Fachkräftemangel in der Pflege gilt schon jetzt als großes Problem, das sich in der Zukunft noch verschärfen dürfte. Derzeit fehlen etwa 30.000 AltenpflegerInnen. Durch den demografischen Wandel der Gesellschaft wird der Anteil der älteren Menschen jedoch noch einmal deutlich zunehmen. Entsprechend steigt nach Schätzungen des Statistischen Bundesamtes auch die Zahl der Pflegebedürftigen. Um diese Menschen zu versorgen, muss es laut Berechnungen des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung etwa 330.000 zusätzliche AltenpflegerInnen geben.

Die Zahl des Pflegepersonals nimmt zwar kontinuierlich zu. Der tatsächliche Bedarf kann aber bei Weitem nicht gedeckt werden. 2011 waren 573.000 Altenpflegekräfte in Heimen oder ambulanten Pflegediensten beschäftigt. Ein Jahr später waren es 25.000 mehr. 86 Prozent von ihnen sind Frauen. Bedarf herrscht nach Angaben der BA vor allem bei examinierten Pflegekräften. Diese würden in sieben von zehn Jobangeboten gesucht.

 

Das allein macht aber nicht die „Pflegekatastrophe“ aus!

 

Ein Beispiel aus NRW (2005)

soll verdeutlichen welche Gründe die Misere hauptsächlich hat.

 

Ein Wohnbereich mit 31 BewohnerInnen, eingeteilt nach Pflegestufen :

 

Stufe 0 –  3  Bewohner/innen
Stufe 1 – 17 Bewohner/innen
Stufe 2 –  8  Bewohner/innen
Stufe 3 –  3  Bewohner/innen

 

dazu das Personal:

 

3 examinierte Fachkräfte 100% (Arbeitszeit)
1 examinierte Fachkraft 50%
2 Pflegeassistentinnen 78%
1 Pflegeassistentin 26%.

 

Für die Pflegeeinstufung im Pflegeversicherungsgesetz (§ 15 SGB XI) zu Grunde gelegte Zeiten:

 

Zeitlicher Unterstützungsbedarf pro Pflegestufe /Tag :

Pflegestufe 1 : 90 Min. Gesamtzeitbedarf – davon 45 Min. für Grundpflege

Pflegestufe 2: 180 Min. Gesamtzeitbedarf – davon 120 Min. für die Grundpflege

Pflegestufe 3: 300 Min. Gesamtzeitbedarf – davon 240 Min. für die Grundpflege

 

Der Pflegezeitbedarf umfasst neben der Grundpflege auch hauswirtschaftliche Versorgungsleistungen sowie therapieunterstützende Maßnahmen. Nicht berücksichtigt wurden Zeiten für Zuwendung, Überwachung und Begleitung in besonderen Lebenslagen, wie z.B. bei Menschen mit Demenz, die meist einen sehr viel höheren Unterstützungsbedarf haben als ihnen über die Pflegeversicherung zuerkannt wird.

 

Wie viele Pflegestunden fallen an?

 

Pflegestunden in oben genanntem Wohnbereich, pro Tag und Woche, ausgehend vom Zeitfaktor pro Pflegestufe, der als Richtwert für die Einstufung gilt:

 

Pflegestufe 1 = 90 Min/1,5 Stunden (pro Tag) x 17 Bew. = 1.530 Min./ 25,5 Std.

Pflegestufe 2 = 180 Min/ 3 Stunden x 8 Bew. = 1.440 Min./ 24 Std.

Pflegestufe 3 = 300 Min./ 5 Stunden x 3 Bew. = 900 Min./ 15 Std.

= 3.879 Min/ 64,5 Std./Tag

 

Es besteht also ein täglicher Pflegezeitbedarf von 64, 5 Std. (gemeint sind alle Leistungen die direkt am oder für den Pflegebedürftigen erbracht werden, also auch die Dokumentation, das Einräumen der Wäsche, Aufräumen des Zimmers, Aktivierungsmaßnahmen, Behandlungspflegemaßnahmen, Gespräche mit Angehörigen etc.).

 

D.h. in einer Woche besteht ein Bedarf von 451,5 Stunden einschl. Nacht und Wochenende.

 

Personalbedarf

 

Ausgehend von einer 40 Stunden Woche (ohne Urlaubs- und Krankheitszeit) kann berechnet werden:

451,5 Std. Pflegezeitbedarf : 40 Stunden Pflegemitarbeiterzeit = 11, 28 Vollzeitstellen, für die Urlaubs- und Ausfallzeiten rechnet man im Schnitt 20 Prozent hinzu: 11, 28 x 0,20 = 2,25.

Demnach wären 11,28 + 2,25 = 13,53 Vollzeitstellen für diesen Wohnbereich erforderlich. Davon sollten rund 7 Fachkräfte sein.

Das ist immer noch nicht üppig, wenn man bedenkt, dass davon etwa 4 Stellen an den Nachtdienst gehen müssten, also für den Tagdienst bestenfalls eine Besetzung von 4 MitarbeiterInnen pro Früh-/Spätdienst bleiben. Eine Pflegekraft würde demnach in ihrer Dienstzeit 7-8 Bewohner betreuen, das ist überschaubar und auch mit zufriedenstellenden Ergebnissen leistbar. Wenigstens könnte bei solch einem Stellenschlüssel einigermaßen sichergestellt werden, dass pro Schicht 3 Mitarbeiter auch an den Wochenenden da sind, ohne dass ständig jemand einspringen muss der eigentlich frei hätte.

Betrachten wir nun die tatsächliche Personalsituation im oben beschriebenen Wohnbereich :

 

3 Pflegepersonen je 100% (40 Stunden/Woche) = 120 Stunden

1 Pflegeperson 50 % = 20 Stunden

2 Pflegepersonen je 78 % (rund 30 Stunden/Woche) = 60 Stunden

1 Pflegeperson 26 % ( rund 10 Stunden/Woche) = 10 Stunden

= 210 Stunden/Pflegepersonalzeit/Woche

 

Für den Tagdienst stehen diesem Wohnbereich umgerechnet 5,25 Vollzeitstellen zur Verfügung, das reicht nicht einmal um die Hälfte des Pflegezeitbedarfs von 451,5 Stunden zu decken. Wenn wir, was bei der Personalpolitik dieses Hauses kaum angenommen werden kann, 3 volle Stellen für den Nachtdienst hinzurechnen, würden immer noch 4 Stellen fehlen.

 

Nach den vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) vorgegebenen Zahlen ergibt sich folgender Personalbedarf:

 

Stufe 0 : nicht berücksichtigt

Stufe I: 1 Pflegekraft für 3,16 Bewohner berechnet auf 17 Bew. = 5,4 Stellen

Stufe II: 1 Pflegekraft für 1,46 Bewohner berechnet auf 8 Bew. = 5,5 Stellen

Stufe III: 1 Pflegekraft für 1,09 Bewohner berechnet auf 3 Bew. = 2,75 Stellen

= 13,65 Stellen

 

Dieses Beispiel zeigt wie sich die Situation in der Altenpflege bundesweit zwar immer noch nicht genügend aber spürbar verbessern ließe, würden die Einrichtungen die Vorgaben des MDK einhalten

 

Es drängt sich ein anderer Gedanke auf …

 

wenn man nämlich die Einnahmen einer solchen Einrichtung betrachtet. Wieder am Beispiel aus NRW.

Einnahmen über die Pflegekasse:

Stufe I: 17 Bewohner x 1029 Euro Pflegeversicherung = 17.493 Euro

Stufe II: 8 Bewohner x 1279 Euro Pflegeversicherung = 10.232 Euro

Stufe III: 3 Bewohner x 1432 Euro Pflegeversicherung = 4.296 Euro

Gesamt also 32.021 Euro.

Diesen Betrag zahlen die Pflegeversicherungen pro Monat für die BewohnerInnen dieses Wohnbereichs.

Allgemein unterteilen sich die Kosten für einen Heimplatz in Pflegekosten, Hotelkosten und Investitionskosten. Statt dieser Unterteilung werden die Heimkosten jedoch immer häufiger in Tagessätzen ausgerechnet, in die alle üblichen Leistungen einbezogen sind: (Unterkunft, Verpflegung, Pflegeleistungen, Hauswirtschaftsdienste, Abschreibungen, bestimmte Gemeinschafts- und Serviceleistungen). Wie es teure und preiswertere Hotels gibt, finden sich im Preis-Leistungsangebot von Heimen ebenfalls große Unterschiede. Im Beispiel wird ein durchschnittlicher Wert zu Grunde gelegt.

 

Stufe 0: 3 Bewohner x 1.977, 30 = 5.931,90 Euro

Stufe 1: 17 Bewohner x 2.372,76 = 40.336,92 Euro

Stufe 2: 8 Bewohner x 2.829,06 = 22.632,48 Euro

Stufe 3: 3 Bewohner x 3.224,52 = 9.673,56 Euro

Gesamt also 78.574,86 Euro Einnahmen WB / Monat

 

Pflegepersonalkosten bei 13,5 Vollzeitstellen und einem angenommenen Arbeitgeberpersonalkostensatz von durchschnittlich 3.000 Euro pro Pflegekraft (das Bruttogehalt von Vollzeit-Pflegemitarbeitern in diesem Bereich, liegt je nach Qualifikation und Funktion zwischen 1.200 und 4.000 Euro.)

13, 5 Pflegekräfte, davon 7 Pflegefachkräfte und 6,5 Pflegeassistenten

7 Pflegefachkräfte x 3500 Euro AGB = 24.500

6,5 Pflegeassistenten x 2500 Euro AGB = 16.250

Gesamt 40.750 Euro Personalkosten des Wohnbereichs/ Monat

Wie dieses Rechenbeispiel zeigen soll, würde bei diesem vergleichsweise angemessenen Stellenschlüssel etwas mehr als die Hälfe der Einnahmen für die Personalkosten aufgewandt werden müssen. Für Unterkunft/Verpflegung, Investition und sonstige Leistungen stünden noch 37.824 Euro zur Verfügung, das entspricht 1.220,13 Euro Monatsbeitrag für Hotelleistung und Investition pro Bewohner.

Da die genannte Einrichtung tatsächlich jedoch nur rund 7 Vollzeitstellen (einschließlich Nachtwache) vorhält, hat sie Personalkosten von 21.000 Euro. Damit liegt sie um rund 11.000 Euro unter dem Betrag, den die Pflegekassen zahlen. Besagtes Heim streicht demnach Pflegeversicherungsgeld von 32.000 Euro ein, erbringt jedoch nur 65 Prozent der dafür vorgesehenen Pflegeleistung. Dies ganz bewusst und mit voller Berechnung. Das ist Betrug.

Mitarbeiter und Außenstehende haben normalerweise keinen Einblick in die Kostenbilanz ihres Heimes. Kaum ein Heim ist bereit, seine Zahlen und Fakten offen zu legen. Dennoch scheint dieses Beispiel realistisch zu sein. (Quelle: pflege-shv) Es zeigt wie mit der ständig propagierten Personalnot das Geschäft so richtig brummt.

 

Es geht um Profit im „Pflegegeschäft“

 

Einrichtungen wie die im o.g. Beispiel können nur dann Gewinne erwirtschaften, wenn die Einnahmen über die monatlichen Beträge der BewohnerInnen höher sind, als die Ausgaben. Die Einrichtungen versuchen, und da unterscheiden sie sich in keiner Weise von anderen kapitalistischen Betrieben, die Personalkosten so knapp wie irgend möglich zu kalkulieren. Unternehmensberater und Rechtsanwälte helfen ihnen dabei, das Einsparpotential in ihrer Einrichtung auszuloten und Personalschlüssel wie den im Beispiel gezeigten zu rechtfertigen. Betriebsleiter von Pflegeeinrichtungen, egal ob privat oder von anderen Trägern, sind einzig und allein an Gewinnmaximierung interessiert.