Envio-Prozess in Dortmund: Ein Ende mit Schrecken?

Im Mai 2012 begann vor dem Landgericht Dortmund der Prozess gegen den Betreiber des Recycling-Unternehmens „Envio“ und drei weitere Angeklagte. AZ hat mehrfach über den Skandal und den Prozess berichtet. Es geht um die Vergiftung zahlreicher bei Envio beschäftigter Menschen und in der Nähe des 2010 stillgelegten Betriebes Lebenden mit hochgiftigen Verbindungen der PCB-Gruppe. Hier soll es diesmal hauptsächlich um den Prozess gehen. Es deutet sich an, dass der Umweltskandal auch zu einem Justizskandal wird.

„Ich hoffe, dass sie alle bestraft werden und das bekommen, was sie verdienen“ – so Angelique Althoff, die damalige Frau eines der Hauptgeschädigten. Ihre Ehe ist inzwischen gescheitert: Christian Althoff, drei Jahre als Leiharbeiter bei Envio beschäftigt und sehr stark PCB-belastet, ist heute nervlich leicht reizbar – eine typische Folge von PCB-Vergiftung, allerdings eine der harmloseren…

Wie andere Sender auch berichtete ARD in der Tagesschau über den Prozessbeginn und rechnete mit einer Strafe von bis zu 10 Jahren Haft.

„Ob (Dirk Neupert) am Ende für einen der größten deutschen Umweltskandale zur Verantwortung gezogen wird, ist heute noch völlig offen – auch, ob sich am Ende überhaupt jemand verantworten muss“ – so der Kommentar der Sprechers im Dokumentarfilm „Grünkohl, Gifte und Geschäfte“ des WDR im Juli 2012.

Die hier bereits kurz nach Prozessbeginn geäußerten Zweifel scheinen sich nun zu bestätigen: Für den Hauptangeklagten Neupert deutet sich ein Freispruch mangels Beweisen an in Bezug auf den Anklagepunkt „Körperverletzung“ – die Richter vertreten die Auffassung, eine Körperverletzung sei nicht „belastbar“ nachgewiesen, man könne allenfalls von einer „abstrakten Gefährdung“ reden.

Wir wissen nicht, ob „abstrakte Gefährdung“ in der Juristerei ein Fachterminus ist – zuzutrauen wäre es. Logisch ist er jedenfalls ein Unding. Entweder besteht eine Gefährdung, dann ist sie konkret , allenfalls noch nicht akut; oder es besteht keine Gefährdung, dann ist sie auch nicht „abstrakt“, sondern gar nicht vorhanden.

Der Prozess dauert nun schon fast dreieinhalb Jahre. Er begann für die Nebenkläger (51 Envio-Opfer), interessierte Dortmunder Bürger und die Mitglieder der Dortmunder Bürgerinitiative zur Aufklärung des PCB-Skandals recht verheißungsvoll. Der Staatsanwalt legte sich mächtig ins Zeug und haute den damals noch vier Angeklagten zahlreiche Verstöße um die Ohren. Auch in den folgenden Sitzungen erweckte er einen für die Envio-Opfer engagierten Eindruck: er forderte die Befragung von sieben Sachverständigen, warf der Verteidigung Prozessverschleppung vor usw.

Doch unter den Prozessbeobachtern kamen die ersten Warnungen auf. Grund dafür war die Art der Anklage: sie lautete sinngemäß „Körperverletzung in Tateinheit mit Verstößen gegen (zahlreiche Auflagen der Behörden)“ Es musste also eine Körperverletzung der Nebenkläger durch Envio-PCB konkret nachgewiesen werden und das ist sehr schwer, denn außer der Hautkrankheit Chlor-Akne können alle anderen durch PCB verursachten Gesundheitsschäden auch durch andere Ursachen hervorgerufen werden. Hätte die Anklage z.B. auf „fahrlässige Körperverletzung im Tateinheit mit…“ gelautet, so wäre die Fahrlässigkeit anhand der Auflagenverstöße und der fehlenden oder unzureichenden Schutzkleidung und anderer Schutzmaßnahmen leicht zu beweisen. So aber ist es sehr schwer. Einem Anfänger in der Position des Staatsanwalts kann so ein Fehler unterlaufen, auch er muss erst Berufserfahrungen sammeln. Doch unseres Wissens ist dieser Staatsanwalt kein Anfänger… (mit den Pünktchen fordern wir die/den Leser(in) zum eigenen Weiterdenken auf, wir wollen uns nicht strafbar machen.)

Zwei der Angeklagten sind übrigens inzwischen aus dem Prozess raus: der eine hat sich (?) für ein Bußgeld von 3000 € gewissermaßen freigekauft, die Gründe beim anderen kennen wir nicht. (Das erinnert an das Lied „Zehn kleine Negerlein… da waren `s nur noch zwei!“)

Den Prozessbeobachtern fiel nach einiger Zeit auf, dass sich die Art der Prozessführung seitens der Anklage änderte: seit mehr als einem Jahr hat die Nebenklage vor allem durch eine junge Anwältin die Rolle übernommen, die eigentlich dem Staatsanwalt zusteht. Sie verbeißt sich in das vom Sachverständigen Prof. Rettenmeier (ehem. Uni Duisburg/Essen) vorgelegte mindestens 80seitige Schriftstück, das von Richter und Verteidigern als „Gutachten“ angesehen wird; sie beantragt – nicht immer erfolglos – die Heranziehung weiterer Sachverständiger; sie fordert mehrfach (vergeblich) die Ablehnung von Prof. Rettenmeier wegen Befangenheit, aus demselben Grund auch die des Richters… Die übrigen Vertreter der Nebenklage unterstützen sie dabei und schließen sich ihren Forderungen und Ausführungen an. Nur der Staatsanwalt – der ist nachweislich im Saal und schweigt, außer dass er sich von den Ausführungen und Anträgen distanziert. Da kommst Du schon ins Grübeln…

Die ehemaligen Bochumer Opelaner der GoG (Gruppe oppositioneller Gewerkschafter) sahen sich auf einem ihrer Bildungsurlaube den Film „Grünkohl, Gifte und Geschäfte“ an. Ihre spontane Reaktion: „Wut“ und „Kurzer Prozess!“ Aus letzterem wurde nichts und jetzt befürchten wir das Ende geradezu, denn es droht ein Freispruch vom Vorwurf der Körperverletzung – mangels Beweisen. Das ist zwar ein Freispruch zweiter Klasse, aber immerhin ein Freispruch. Wir wundern uns nicht, wenn jemand den Eindruck gewinnt: darauf hat die Staatsanwaltschaft von Anfang an hingearbeitet. Übrig bliebe (vielleicht !) die Verurteilung wegen der Anwendung nicht genehmigter Verfahren beim Recycling o.ä. Das bedeutet dann aber auch, dass die gesundheitlichen Schäden der Beschäftigten nicht als Berufskrankheit anerkannt werden, die Arztkosten von den Betroffenen selbst getragen werden müssen usw.

Die Bürgerinitiative hat sich außerdem mit einem Schreiben an den Staatsanwalt und die Vertreter der Nebenklage gewandt mit dem Hinweis auf die strafrechtliche Verurteilung von HIV-Infizierten, die durch ungeschützten Geschlechtsverkehr eine andere Person anstecken. Eine Vergleichbarkeit mit der Belastung durch PCB scheint durchaus gegeben. Der HI-Virus dringt bei dem Infizierten in bestimmte Zellen ein (siehe dazu AZ 4/2015), verbringt dort bis zu 10 oder mehr Jahre im Ruhezustand und tritt erst dann als das Immunsystem ausschaltender Krankheitserreger auf. Ähnlich verläuft es mit den PCB-Verbindungen (209 verschiedene): sie sammeln sich im Fettgewebe über Jahre hinweg an und eventuell erst nach langer Zeit verursachen sie bzw. ihre Abbauprodukte gesundheitliche Schäden. Der HIV-Infizierte läuft also gewissermaßen zehn Jahre oder länger mit der Zeitbombe HIV in sich herum, bevor sie explodiert. Wird das dann vom Landgericht Dortmund als „abstrakte Gefährdung“ bezeichnet und der Verursacher „mangels Beweisen“ freigesprochen? Von anderen Gerichten sind die Verursacher unseres Wissens verurteilt worden. Und die PCB-Belasteten laufen jahrelang mit der Zeitbombe „PCB“ herum, bevor sie explodiert – „abstrakt gefährdet“ und ohne Verurteilung der Verursacher der jetzt oder später festgestellten Körperverletzung.

Der Arbeitsmediziner Prof. Kraus (Aachen) hat im Rahmen des Betreuungsprogramms den Zusammenhang zwischen der Beschäftigungsdauer bei Envio und der PCB-Belastungs des Blutes untersucht und einen eindeutigen Zusammenhang festgestellt: je länger die Arbeitszeit, desto höher die Belastung (dabei hat er auch die unterschiedliche Gefährdung an den Arbeitsplätzen berücksichtigt). Für die Richter in Dortmund ist das offenbar nur „abstrakt“ und Prof. Kraus ist ja auch als „befangen“ eingestuft worden.

Prof. Brümmendorf, ebenfalls aus Aachen, hat vor Gericht seine bereits bei einer früheren Befragung gemachte Auffassung wiederholt: als Wissenschaftler kann er die Körperverletzung der von ihm Untersuchten (ihm standen nur Akten zur Verfügung) noch (!) nicht beweisen – als Arzt ist er der festen Überzeugung, dass alle Untersuchten regelmäßig medizinisch begleitet, d.h. untersucht werden müssen. Auch diese Aussage reicht dem Gericht nicht. Übrigens hat Prof. Brümmendorf das Gericht darauf aufmerksam gemacht, dass er nur die schriftlichen Unterlagen kennt, aber keinen der Menschen; er bat daher um die Hinzuziehung von Prof. Kraus, da der auch die Personen kennt und über sie besser Auskunrft geben kann als so ein Blatt Papier. Wie hat das Gericht wohl über diese Bitte entschieden? Für sein „Gutachten“ stand Prof. Rettenmeier übrigens auch nur Papier zur Verfügung – Menschen hat er unseres Wissens nicht befragt.

Die Bürgerinitiative hat die Staatsanwaltschaft, die Nebenkläger und die Richter darauf hingewiesen, dass in Amsterdam mit dem „Calux-Verfahren“ sich die schädigende Wirkung von PCBs auf die Erbsubstanz eindeutig beweisen läßt. Dieses Verfahren wird in Deutschland unseres Wissens nicht angewendet. Bisher hat die BI außer einer von ihr für überflüssig gehaltenen „juristischen Belehrung“ keine Reaktion festgestellt. Ist das Gericht an eindeutigen Beweisen nicht interessiert?

Ach, übrigens: wir leben in einem Rechtsstaat! Das herrschende Recht ist das Recht der – äh, wie geht das Zitat noch mal weiter?

Zum Schluss noch eine Korrektur zu unserem Artikel in AZ 4/2105: Wir hatten geschrieben, dass Prof. Brümmendorf bei allen 20 von ihm Untersuchten eine Telomer-Verkürzung nachgewiesen hat; das stimmt so nicht, er hat bei einigen wenigen keine Verkürzung nachweisen können, aber der Durchschnittswert aller 20 ist eindeutig.