Die Europäische Verfassung: Eine Verfassung, die auf die Monopole zugeschnitten ist

Teil 1:

Mit ihren 448 Artikeln, 36 Zusatzprotokollen und 39
Erklärungen ist die Europäische Verfassung ein Monster der Verwirrung und
Komplexität. Ein Ziel davon scheint zu sein, für die große Mehrheit der Frauen
und Männer der 25 Länder, welche die Europäische Union bilden, unverständlich
zu bleiben. Einer seiner Verfasser, VGE, sagte, dass diese Verfassung keine
greifbare Konsequenz in unserem täglichen Leben hätte. Einige gehen so weit,
sogar den Begriff Verfassung zu bemängeln: es sei nur ein weiterer europäischer
Vertrag. Kurz gesagt, angesichts der weit verbreiteten Skepsis, die sich in
eine schlichte und einfache Ablehnung verwandeln kann, versuchen die
Parteigänger des „Ja“, die Sache herunterzuspielen. Andere dagegen sagen das
allgemeine Chaos im Fall des Sieges des „Nein“ voraus und sprechen von einem
„zweiten 21. April“, um seine Anhänger zu verteufeln.

Man muss nachdrücklich darauf hinweisen, dass es sich sehr wohl
um eine Verfassung handelt, die in den Mitgliedsländern in Kraft treten und
deren jeweiligen Verfassungen übergeordnet sein wird.

In der Tat ist das europäische Recht dem nationalen Recht
übergeordnet, ein Prinzip, das im Vertrag von Rom von 1957 niedergelegt ist. An
diesen Vorrang wird im Artikel I-6 der europäischen Verfassung klar Bezug
genommen: „Die Verfassung und das von den Organen der Union in Ausübung der der
Union übertragenen Zuständigkeiten gesetzte Recht haben Vorrang vor dem Recht
der Mitgliedsstaaten.“
Und um die Sache komplett zu machen, sollte man
präzisieren, dass die Verfassung mehrere „rechtliche Instrumente“ vorsieht: „Europäisches
Gesetz, Europäische Rahmengesetz, Europäische Verordnung, Europäischer
Beschluss, Empfehlung und Stellungnahme“
(Artikel I-33).  Das Erstere ist „in allen seinen Teilen
verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedsstaat“. Alle anderen sind
mehr oder weniger verpflichtend; nur die Empfehlungen und Stellungnahmen sind
es nicht. Das Gegenteil würde bedeuten, dass die Verfassung sogar die Macht
besäße, den Sinn der Wörter zu ändern! Aber es ist auch vorgesehen: „In
bestimmten, in der Verfassung vorgesehenen Fällen können Europäisches Gesetz
und Rahmengesetz … auf Empfehlung der Europäischen Zentralbank oder auf Antrag
des Gerichtshofs oder der Europäischen Investitionsbank erlassen werden.“
(I-34).

Allein aus diesen Gründen muss man jeden Versuch bekämpfen,
die Bedeutung dieses Referendums herunterzuspielen. Eine Verfassung steckt
insbesondere den politischen Handlungsrahmen der politischen Kräfte fest,
welche die unteren Schichten repräsentieren, sei es, dass sie ihre
Möglichkeiten erweitern oder neue schaffen, oder sei es im Gegenteil, dass sie
sie noch mehr einschränken. Im Falle dieser Verfassung ist es klar, dass sie
auf eine erhebliche Einschränkung des politischen Handlungsspielraums für die
Sektoren der Volksmassen hinausläuft, und dass sie anderseits eine beachtliche
Ausweitung der Macht der Monopole nach sich zieht, angefangen bei den Monopolen
der wichtigsten europäischen, imperialistischen Länder Deutschland, Frankreich
und Großbritannien, aber auch der Monopole der anderen imperialistischen
Länder.

Darüber hinaus will sie die Dinge auf lange Zeit
festschreiben (Giscard hat dieser Verfassung 50 Jahre Bestand versprochen),
denn sie kann nur mit der Zustimmung aller Mitgliedsstaaten geändert werden!

Teil 2:

Warum sprechen wir
von einer Verfassung im ausschließlichen Dienst 
der Monopole?

Eine der oft hervorgehobenen
Besonderheiten dieser Verfassung ist, dass sie in sehr detaillierter Art und
Weise  die Wirtschaftspolitik der Union
sowie ihre Instrumente (die europäische Bank, die Steuer- und Zollpolitik,  die Organisation des Marktes usw.) definiert.

Die Artikel, die diesen Fragen
gewidmet sind, stellen fast die Hälfte des Textes. Es handelt sich um keine
„Anomalie“: die Verfassung ist tatsächlich um diese Wirtschaftspolitik herum
aufgebaut. Sie institutionalisiert sie und verleiht ihr einen absoluten,
obligatorischen und von jeder anderen Wirtschaftspolitik abgesonderten
Charakter. Diese Politik trägt einen Namen: den des Neoliberalismus. Das ist die Politik, welche die Monopole heute
überall auf der Welt durchsetzen, welche die Grundlage der „Verträge der freien
Konkurrenz“ bilden, die den lateinamerikanischen und karibischen Ländern
aufgezwungen werden. Diese Politik bildet die Grundlage der „strukturellen
Anpassungspläne“ (PAS), die vom Weltwährungsfonds und den imperialistischen
Mächten, darunter Frankreich, den afrikanischen Ländern aufgezwungen werden.
Aber nirgends außer im Fall der europäischen Union kleidet sie sich in den
Mantel einer Verfassung, die in heute 25, morgen noch mehr Ländern Anwendung
findet.

Sie vereint im gleichen
institutionellen Rahmen imperialistische und kapitalistische Länder um eine
einzige und gleiche Wirtschaftspolitik. Anders ausgedrückt, gestattet sie es den Monopolen, sowohl auf
der nationalen Ebene, der Ebene jedes Staates – was sie bereits tun – als auch
auf überstaatlicher, auf der Ebene der Union zu handeln – was sie mit umso mehr
Mitteln werden tun können angesichts im Besonderen der Tatsache des „Vorrangs“
des europäischen Rechts vor dem nationalen Recht.

Man wird entgegnen, dass diese
Politik schon in jedem Land für sich genommen durchgeführt wird und dass sie
von der Europäischen Kommission seit Jahren voran getragen wird. Das stimmt,
aber es ist umso mehr ein Grund, dieser Verfassung die „öffentliche
Anerkennung“ zu verweigern. Sie erhebt diese Politik zur alleinigen Politik für
alle Staaten der Union, gibt ihr zusätzliche Mittel und wird der „Außenpolitik
der Union“, ihrer „Verteidigungs“-politik – die man eher Aufrüstungspolitik
nennen sollte – , ihrer Politik in Richtung der abhängigen Länder Afrikas oder
ganz allgemein der abhängigen Länder, ihrer „Einwanderungs“-politik – die
„Grenzschließungs-Politik heißen müsste – usw. 
ihre Handschrift aufdrücken. Denn diese neoliberale Politik durchdringt
alle Aspekte der Vorrechte der Union, wie sie in dieser Verfassung definiert
sind.

Mit dieser Verfassung und dem Referendum will sich die Oligarchie mit
einer sozusagen vom Volk gegebenen „Bestätigung“ ausstatten können. Ein Grund
mehr, dass das Volk, die Arbeiter in der Stadt und auf dem Land, die Frauen,
die Jugend usw. unseres Landes dieses Referendum, das so vielen anderen Völkern
vorenthalten wird, nutzen, um „Nein“ zu dieser Verfassung zu sagen, die von den
Monopolen und auf die Monopole zugeschnitten ist. Indem wir dem „Nein“ zum Sieg
verhelfen, verteidigen wir uns selbst und gleichzeitig die Interessen der
anderen Völker der EU.

Teil 3

Der institutionalisierte Neoliberalismus

Wie wir weiter oben betont haben, gibt die Europäische
Verfassung dieser Wirtschaftspolitik einen institutionellen Charakter, der
nicht in Frage gestellt werden kann, ebenso wenig wie die Verfassung selbst.
Sie sagt nicht wie, durch welche Mechanismen eine Wirtschaftspolitik
entschieden wird; sie garantiert eine einzige Politik.

Was erlaubt uns, das zu behaupten?

Vor allem zwei Dinge:

  1. Die Grundprinzipien dieser Politik werden in den ersten
    Artikeln der Verfassung festgelegt und sie werden sehr oft entlang aller
    Artikel wiederholt. Diese Grundprinzipien werden schon im Artikel 3 der
    Definition und der Ziele der Union wiedergegeben: „Die Union bietet ihren
    Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts
    ohne Binnengrenzen und einen Binnenmarkt mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb.“

    Wir werden diesen Bezug zum Markt und zum freien „unverfälschten“ Wettbewerb
    häufig im Text wieder finden. Indem man dieses liberale Credo, das so oft
    beschworen und proklamiert wird, zur goldenen Regel der Union macht, findet es
    in allen Mitgliedstaaten für sich und in der Gesamtheit der Länder, aus der die
    Union besteht, Anwendung. Die Verpflichtung, diesen freien Wettbewerb zu
    sichern, geht soweit, sie sogar im Krieg durchzusetzen. Der Artikel III-113
    sagt in der Tat: „Die Mitgliedstaaten setzen sich ins Benehmen, um durch
    gemeinsames Vorgehen zu verhindern, dass das Funktionieren des Binnenmarkts
    durch Maßnahmen beeinträchtigt wird, die ein Mitgliedstaat bei einer
    schwerwiegenden innerstaatlichen Störung der öffentlichen Ordnung, im
    Kriegsfall, bei einer ernsten, eine Kriegsgefahr darstellenden internationalen
    Spannung oder in Erfüllung der Verpflichtung trifft, die er im Hinblick auf die
    Aufrechterhaltung des Friedens und der internationalen Sicherheit übernommen
    hat.“
    Das ist potentiell die offene Tür für internationale Maßnahmen zur
    Brechung von Streiks in einem Land.
  2. Dieses Prinzip des „freien und unverfälschten Wettbewerbs“
    ist die Kriegsmaschine selbst gegen die Idee der öffentlichen Dienste des Staates,
    welche den Wettbewerb „verfälschen“. Das gleiche Prinzip verpflichtet die
    Staaten, die Unternehmen in öffentlicher Hand mit den Privatbetrieben in Konkurrenz
    zu setzen. Die Verfassung überträgt der Europäischen Kommission und dem
    Ministerrat grundlegende Vollmachten, besonders in der Legislative. Das sind
    zwei Organe, welche nur den Regierungen verpflichtet sind, und sie sind nicht
    gewählt. Auf dieser Ebene wird die Politik der Union ausgearbeitet. Und auf
    dieser Ebene werden die Interessen der Monopole durchgesetzt, vor allem mit
    Hilfe der Vertreter der Regierungen, welche im Ministerrat sitzen. Alle teilen
    diese neoliberale Konzeption, die heute die Politik aller Staaten beeinflusst.
    Das trifft umso mehr auf die Europakommissare zu, aus denen
    die Kommission besteht.

Diesbezüglich ist wohl ausgeführt, dass ihre Mitglieder „Weisungen
von einer Regierung, einem Organ, einer Einrichtung oder jeder anderen Stelle
weder einholen noch entgegennehmen“
dürfen. (Artikel I-26 über die Europäische Kommission).
Dieses Prinzip der „Neutralität“ ist lächerlich: wenn man sieht, wie jede
Regierung darum kämpft, „ihren“ Kommissar zu haben, sagt man sich, dass sie
nicht so „unabhängig“ sein können. Diese proklamierte Neutralität trifft nicht
auf die Lobbygruppen der Unternehmer zu, die um diese Kommission herum kreisen.
Ein Beispiel unter anderen veranschaulicht diese „Durchlässigkeit“ der
Kommission für die Interessen der „Geschäftswelt“. Der Handelskommissar der
vorangegangenen Kommission Prodi, der berühmte Pascal Lamy, hat sich an die
Versammlung der Unternehmerlobby „Trans Atlantic Business Dialoge“, eine der
wichtigsten Lobbygruppen, gewandt, in der die Hautevolee der sehr großen
Unternehmen sitzt. Er musste insbesondere erklären: „Wir bemühen uns sehr, Ihre
Ratschläge im Rahmen der transatlantischen Wirtschaftspartnerschaft in die Tat
umzusetzen, und es gibt insbesondere viele Gebiete, auf die Sie unsere
Aufmerksamkeit gelenkt haben. Kurz und gut, wir werden unsere Arbeit auf der
Grundlage Ihrer Empfehlungen machen.“
(Brüsseler Gespräche, 23 Mai 2000) . Man
könnte noch die Gruppe Bilderberg vom gleichen Typ anführen, in der die Prodi,
Lamy und auch Etienne Davignon die ökonomischen Entscheider sehen. Ein simpler
Diskurs? Sicher nicht. Es ist die Bestätigung der weitreichenden Identität der Anschauung, welche in
diesen Sphären der Macht herrscht. In der gegenwärtigen Kommission sind mehrere
Kommissare aus dem Wirtschaftsmilieu hervorgegangen, was übrigens einige
Europaabgeordnete im Augenblick der en-bloc-Bestätigung der Kommission
zurückschrecken ließ.

Für die, welche noch etwa an dieser ideologischen und
politischen Hegemonie  der Monopole über
die europäischen Institutionen zweifeln, reicht es, die Bedeutung und Rolle der
Europäischen Zentralbank hinzuzufügen, deren „Unabhängigkeit“ gegenüber den
Regierungen in der Verfassung bekräftigt wird. Diese Unabhängigkeit bedeutet,
dass sie jeder politischen Kontrolle entzogen ist, um die Geldpolitik und die
ökonomischen Kriterien durchzusetzen, welche den Wirtschaftsliberalen teuer
sind Diese treiben die Defizite und die
Subventionen der öffentlichen Hand in die Höhe und schwören allein auf die
Tugenden des „Wettbewerbs“ und des Marktes.

Dieser kurze Überblick ist nicht erschöpfend. Man könnte
noch ganze Seiten mit Artikeln, die von dieser neoliberalen Ideologie
durchdrungen sind, zitieren. Im Gegensatz dazu, sind die „Rechte“ der arbeitenden
Menschen minimal vorhanden. Es hat sich herausgestellt, dass die große Sache
der „sozialen Charta“, die in dieser Verfassung enthalten ist, im Verhältnis zu
einer ganzen Reihe von internationalen Texten, die mehrere Staaten
unterzeichnet haben, im Rückzug begriffen ist. Seien es die Konventionen der
ILO (internationale Arbeitsorganisation) oder die universelle Erklärung der
Menschenrechte, oder der internationale Pakt bezüglich der ökonomischen Rechte:
diese verschiedenen Texte begründen mit allen ihren Beschränkungen kollektive
und soziale Rechte. Aber die Europäische Verfassung begnügt sich damit, diese
Texte zu erwähnen ohne zu präzisieren, dass sie für die Union verpflichtend
sind. Stattdessen „anerkennt und respektiert“ die Charta Rechte, aber sie
schließt sie nicht ein. Das erste Recht, das Recht auf Arbeit, in vielen Texten
explizit festgelegt, wird in der Verfassung „das Recht, zu arbeiten“. Noch
schlimmer, die besonderen sozialen Rechte, die in einigen Ländern errungen
wurden, sind direkt bedroht durch die Prinzipien, die in den Marmor der
europäischen Verfassung gemeißelt worden sind über „die Anerkennung des
Prinzips einer offenen Marktwirtschaft, wo der freie Wettbewerb herrscht“
. Für
die, welche glauben, dass diese Verfassung trotz allem soziale Fortschritte
ermöglichen würde, besonders in den Mitgliedstaaten, wo die sozialen Rechte
besonders schwach ausgeprägt sind,  legt
die Verfassung klar fest, dass jede Entscheidung die Frucht einer einstimmigen
Entscheidung des Ministerrats sein muss. Das betrifft die Fragen der sozialen
Sicherheit, des sozialen Schutzes, den Schutz der Arbeiter im Fall der
Aufhebung des Arbeitsvertrags, der kollektiven Vertretung und Verteidigung der
Arbeiter und all dessen, was die Bedingungen der Beschäftigung der Arbeiter
betrifft, die sich unregelmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten. Und um es
vollständig zu machen, wird die Befreiung Großbritanniens im Bereich der
sozialen Rechte in der Verfassung bekräftigt.

Schlussfolgerung: 

Alles für die Monopole, nichts für die Arbeiter, so könnte
der Slogan für diese Verfassung lauten. Die Ideologie, die sie Stück für Stück
durchzieht, die Entscheidungsmechanismen und die Organe, die zu Entscheidungen
befugt sind, sind im Dienste der Monopole. Sie ist eine Kriegswaffe gegen die
Arbeiterklasse, die Werktätigen und die Völker.

Übersetzung aus „La Forge“, Zentralorgan der Kommunistischen
Arbeiterpartei Frankreichs, März 2005.

Die Zitate
aus dem Vertrag zur europäischen Verfassung sind der deutschen Fassung
entnommen.

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