Lenin zu Wahlen und Parlamentarismus

Lenin Werke, Band 25, Staat und Revolution

„Die Kommune“, schrieb Marx, „sollte nicht eine
parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und
gesetzgebend zu gleicher Zeit …

Statt einmal in drei oder sechs Jahren zu entscheiden, welches Mitglied
der herrschenden Klasse das Volk im Parlament ver- und zertreten soll, sollte
das allgemeine Stimmrecht dem in Kommunen konstituierten Volk dienen, wie das individuelle
Stimmrecht jedem andern Arbeitgeber dazu dient, Arbeiter, Aufseher und
Buchhalter in seinem Geschäft auszusuchen.“

Diese bemerkenswerte Kritik am Parlamentarismus, die aus dem Jahre 1871
stammt, gehört jetzt infolge des herrschenden Sozialchauvinismus und
Opportunismus ebenfalls zu den „vergessenen Werten“ des Marxismus.
Die Minister und Berufsparlamentarier, die Verräter am Proletariat und
„Geschäfts“sozialisten unserer Tage überließen die Kritik am
Parlamentarismus gänzlich den Anarchisten und verschrien aus diesem erstaunlich
klugen Grunde JEDE Kritik am Parlamentarismus als „Anarchismus“!!
(Unterstreichung vom Herausgeber)  Es ist durchaus nicht verwunderlich, daß das
Proletariat der „fortgeschrittenen“ parlamentarischen Länder,
angeekelt durch den Anblick solcher „Sozialisten“ wie der
Scheidemann, David, Legien, Sembat, Renaudel, Henderson, Vandervelde, Stauning,
Branting, Bissolati, und Co., seine Sympathien immer öfter dem
Anarchosyndikalismus zuwandte, obwohl dieser der leibliche Bruder des
Opportunismus ist.

Doch für Marx war die revolutionäre Dialektik nie jenes leere Modewort, jene
Kinderklapper, zu der sie Plechanow, Kautsky und andere gemacht haben. Marx
verstand es, mit den Anarchisten rücksichtslos zu brechen, weil diese es nicht
vermochten, auch nur den „Saustall“ des bürgerlichen Parlamentarismus
auszunutzen, besonders in Zeiten, da offensichtlich keine revolutionäre
Situation vorhanden ist; gleichzeitig verstand er aber auch, eine wahrhaft
revolutionär-proletarische Kritik am Parlamentarismus zu üben.

Einmal in mehreren Jahren zu entscheiden, welches Mitglied der herrschenden
Klasse das Volk im Parlament niederhalten und zertreten soll – das ist das
wirkliche Wesen des bürgerlichen Parlamentarismus, nicht nur in den
parlamentarisch-konstitutionellen Monarchien, sondern auch in den
allerdemokratischsten Republiken.

Wirft man aber die Frage des Staates auf, betrachtet man den
Parlamentarismus als eine der Institutionen des Staates unter dem Gesichtspunkt
der Aufgaben des Proletariats auf DIESEM Gebiet, wo ist dann der Ausweg aus dem
Parlamentarismus? Wie soll man da ohne ihn auskommen? Wieder und immer wieder
muß man sagen: Die auf dem Studium der Kommune begründeten Marxschen Lehren
sind so gründlich vergessen worden, daß dem heutigen
„Sozialdemokraten“ (lies: dem heutigen Verräter am Sozialismus) eine
andere Kritik am Parlamentarismus als eine anarchistische oder reaktionäre
einfach unverständlich ist. Der Ausweg aus dem Parlamentarismus ist natürlich
nicht in der Aufhebung der Vertretungskörperschaften und der Wählbarkeit zu
suchen, sondern in der Umwandlung der Vertretungskörperschaften aus
Schwatzbuden in „arbeitende“ Körperschaften. „Die Kommune sollte
nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein,
vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit.“

„Nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende
Körperschaft“ – das ist den modernen Parlamentariern und parlamentarischen
„Schoßhündchen“ der Sozialdemokratie direkt ins Stammbuch
geschrieben! Man sehe sich ein beliebiges parlamentarisch regiertes Land an,
von Amerika bis zur Schweiz, von Frankreich bis England, Norwegen u.a.: die eigentlichen
„Staats“geschäfte werden hinter den Kulissen abgewickelt und von den
Departements, Kanzleien und Stäben verrichtet. In den Parlamenten wird nur
geschwatzt, speziell zu dem Zweck, das „niedere Volk“ hinters Licht
zu führen. Das ist so wahr, daß sich selbst in der russischen Republik, in der
bürgerlich-demokratischen Republik sofort, noch bevor sie Zeit fand, ein
richtiges Parlament zu schaffen, alle diese Sünden des Parlamentarismus geltend
machten. Solche Helden des modrigen Spießbürgertums wie die Skobelew und
Zereteli, Tschernow und Awksentjew haben es zuwege gebracht, auch die Sowjets
nach dem Vorbild des schäbigsten bürgerlichen Parlamentarismus zu versauen, sie
in bloße Schwatzbuden zu verwandeln. In den Sowjets hauen die Herren
„sozialistischen“ Minister die vertrauensseligen Bäuerlein mit
Phrasen und Resolutionen übers Ohr. In der Regierung wird ein ewiger Tanz
aufgeführt, einerseits, um der Reihe nach möglichst viele Sozialrevolutionäre
und Menschewiki „an die Krippe“ gut bezahlter und ehrenvoller Posten
zu setzen, und anderseits, um die „Aufmerksamkeit“ des Volkes
„zu beschäftigen“. In den Kanzleien, in den Stäben wird inzwischen
„Staats“arbeit „geleistet“! „Delo Naroda“, das
Organ der an der Regierung beteiligten Partei der
„Sozialrevolutionäre“, erklärte kürzlich in einem redaktionellen
Leitartikel mit der unnachahmlichen Offenherzigkeit der Menschen aus der
„guten Gesellschaft“, in der „alle“ politische Prostitution
treiben, daß selbst in den von (mit Verlaub zu sagen!) „Sozialisten“
geleiteten Ministerien, daß selbst hier der gesamte Beamtenapparat im Grunde
der alte bleibt, auf diese alte Weise funktioniert und jedes revolutionäre
Beginnen ganz „frei“ sabotiert! Ja selbst wenn dieses Eingeständnis
nicht vorläge, ist denn der tatsächliche Verlauf der Beteiligung der
Sozialrevolutionäre und Menschewiki an der Regierung nicht Beweis genug?
Bezeichnend ist hier nur, daß die Herren Tschernow, Russanow, Sensinow und
sonstigen Redakteure des „Delo Naroda“, die sich in ministerieller
Gemeinschaft mit den Kadetten befinden, dermaßen jede Scham verloren haben, daß
sie sich nicht scheuen – als handle es sich um eine Bagatelle -, öffentlich zu
erzählen, ohne zu erröten, daß „bei ihnen“ in den Ministerien alles
beim alten ist!! Revolutionär-demokratische Phrasen zur Betörung der
einfältigen Bauern und bürokratische Verschleppung aller Angelegenheiten zur
„Zufriedenstellung“ der Kapitalisten – das ist das WESEN der
„ehrlichen“ Koalition.


Aus: W. I. Lenin, Der „linke
Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus

VII. Soll man sich an den
bürgerlichen Parlamenten beteiligen?:

Die deutschen „linken“
Kommunisten beantworten diese Frage mit größter Geringschätzung – und mit
größter Leichtfertigkeit – verneinend. Ihre Argumente? In dem oben angeführten
Zitat haben wir gelesen:

»… jede Rückkehr zu den historisch
und politisch erledigten Kampfformen des Parlamentarismus … ist mit aller
Entschiedenheit abzulehnen…«

Das ist bis zur Lächerlichkeit
anmaßend gesagt und offenkundig falsch. „Rückkehr“ zum
Parlamentarismus! Gibt es in Deutschland gar schon eine Sowjetrepublik? Doch
wohl nicht! Wie kann man also von einer „Rückkehr“ reden? Ist das
nicht eine leere Phrase?

Der Parlamentarismus ist »historisch
erledigt«. Im Sinne der Propaganda ist das richtig. Aber jedermann weiß, daß es
von da bis zur praktischen Überwindung noch sehr weit ist. Den Kapitalismus
konnte man bereits vor vielen Jahrzehnten, und zwar mit vollem Recht, als
„historisch erledigt“ bezeichnen, das enthebt uns aber keineswegs der
Notwendigkeit eines sehr langen und sehr hartnäckigen Kampfes auf dem Boden des
Kapitalismus. Der Parlamentarismus ist im welthistorischen Sinne
„historisch erledigt“, d.h., die Epoche des bürgerlichen
Parlamentarismus ist beendet, die Epoche der Diktatur des Proletariats hat
begonnen. Das ist unbestreitbar. Aber der welthistorische Maßstab rechnet nach
Jahrzehnten. 10 bis 20 Jahre früher oder später, das ist, mit dem
welthistorischen Maßstab gemessen, gleichgültig, das ist – vom Standpunkt der
Weltgeschichte aus gesehen – eine Kleinigkeit, die man nicht einmal annähernd
berechnen kann. Aber gerade deshalb ist es eine haarsträubende theoretische
Unrichtigkeit, sich in einer Frage der praktischen Politik auf den
welthistorischen Maßstab zu berufen.

Der Parlamentarismus ist »politisch
erledigt«? Das ist eine ganz andere Sache. Wäre das richtig, dann hätten die
„Linken“ eine feste Position. Das müßte jedoch durch eine sehr
gründliche Analyse bewiesen werden, die „Linken“ aber verstehen es
nicht einmal, an eine solche Analyse heranzugehen. In den „Thesen über den
Parlamentarismus“, die in Nr. 1 des ‚Bulletins des Provisorischen
Amsterdamer Büros der Kommunistischen Internationale‘ (‚Bulletin of the Provisional
Bureau in Amsterdam of the Communist International‘, February 1920)
veröffentlicht sind und offensichtlich die Ansichten der holländisch-linken
oder links-holländischen Richtung zum Ausdruck bringen, ist die Analyse, wie
wir sehen werden, ebenfalls ganz miserabel.

Erstens. Die deutschen »Linken«
haben entgegen der Meinung so hervorragender politischer Führer wie Rosa
Luxemburg und Karl Liebknecht bekanntlich schon im Januar 1919 den
Parlamentarismus für »politisch erledigt« gehalten. Wie bekannt, haben sich die
„Linken“ geirrt. Schon das allein stößt sofort und radikal die These
um, daß der Parlamentarismus »politisch erledigt« sei. Den „Linken“
obliegt es zu beweisen, weshalb ihr unbestreitbarer Fehler von damals jetzt
aufgehört hat, ein Fehler zu sein. Nicht einmal den Schimmer eines Beweises
führen sie an und können sie anführen. Das Verhalten einer politischen Partei
zu ihren Fehlern ist eines der wichtigsten und sichersten Kriterien für den
Ernst einer Partei und für die tatsächliche Erfüllung ihrer Pflichten gegenüber
ihrer Klasse und den werktätigen Massen. Einen Fehler offen zuzugeben, seine
Ursachen aufdecken, die Umstände, die ihn hervorgerufen haben, analysieren, die
Mittel zur Behebung des Fehlers sorgfältig prüfen – das ist das Merkmal einer
ernsten Partei, das heißt Erfüllung ihrer Pflichten, das heißt Erziehung und
Schulung der Klasse und dann auch der Masse. Wenn die „Linken“ in
Deutschland (und in Holland) diese ihre Pflicht nicht erfüllen, wenn sie nicht
mit größter Aufmerksamkeit, Sorgfalt und Vorsicht an das Studium ihres
offenkundigen Fehlers gehen, so beweisen sie gerade dadurch, daß sie nicht eine
Partei der Klasse, sondern ein Konventikel, nicht eine Partei der Massen,
sondern eine Gruppe von Intellektuellen und einigen wenigen Arbeitern sind, die
die schlechtesten Eigenschaften der Intellektuellen kopieren.

Zweitens. In derselben Broschüre der
Frankfurter Gruppe der „Linken“, aus der wir oben ausführliche Zitate
angeführt haben, lesen wir:

»Die Millionen der im Banne der
Zentrumspolitik« (der Politik der katholischen Zentrumspartei) »noch
marschierenden Arbeiter sind gegenrevolutionär. Die Landproletarier stellen
Legionen gegenrevolutionärer Truppen.« (S.3 der obengenannten Broschüre.)

Man merkt an allem, daß das allzu
schwungvoll gesagt und übertrieben ist. Aber die hier dargelegte grundlegende
Tatsache ist unbestreitbar, und daß die „Linken“ sie anerkennen,
zeugt besonders anschaulich von ihrem Fehler. Wie kann man denn davon reden,
daß der »Parlamentarismus politisch erledigt« sei, wenn »Millionen« und
»Legionen« Proletarier nicht nur für den Parlamentarismus schlechthin
eintreten, sondern sogar direkt »gegenrevolutionär« sind!? Es ist klar, daß der
Parlamentarismus in Deutschland politisch noch nicht erledigt ist. Es ist klar,
daß die »Linken« in Deutschland ihren eigenen Wunsch, ihre eigene
ideologisch-politische Stellung für die objektive Wirklichkeit halten. Das ist
der gefährlichste Fehler, den Revolutionäre machen können. In Rußland, wo das
überaus barbarische und grausame Joch des Zarismus besonders lange und in
besonders mannigfaltigen Formen Revolutionäre verschiedener Richtungen
hervorgebracht hat, Revolutionäre, deren Hingabe, Enthusiasmus, Heldenmut und
Willenskraft bewundernswert sind, in Rußland haben wir diesen Fehler an
Revolutionären aus nächster Nähe beobachtet, haben ihn besonders aufmerksam
studiert, kennen ihn besonders gut und sehen ihn deshalb auch bei anderen
besonders klar. Für die Kommunisten in Deutschland ist der Parlamentarismus
natürlich »politisch erledigt«, aber es kommt gerade darauf an, daß wir das,
was für uns erledigt ist, nicht als erledigt für die Klasse, nicht als erledigt
für die Massen betrachten. Gerade hier sehen wir wiederum, daß die
„Linken“ nicht zu urteilen verstehen, daß sie nicht als Partei der
Klasse, als Partei der Massen zu handeln verstehen. Ihr seid verpflichtet,
nicht auf das Niveau der Massen, nicht auf das Niveau der rückständigen
Schichten der Klasse hinabzusinken. Das ist unbestreitbar. Ihr seid
verpflichtet, ihnen die bittere Wahrheit zu sagen. Ihr seid verpflichtet, ihre
bürgerlich-demokratischen und parlamentarischen Vorurteile beim richtigen Namen
zu nennen. Aber zugleich seid ihr verpflichtet, den tatsächlichen Bewußtseins-
und Reifegrad eben der ganzen Klasse (und nicht nur ihrer kommunistischen
Avantgarde), eben der ganzen werktätigen Masse (und nicht nur ihrer
fortgeschrittensten Vertreter) nüchtern zu prüfen.

Selbst wenn keine
„Millionen“ und „Legionen“, sondern bloß eine ziemlich
beträchtliche Minderheit von Industriearbeitern den katholischen Pfaffen und
von Landarbeitern den Junkern und Großbauern nachläuft, ergibt sich schon
daraus unzweifelhaft, daß der Parlamentarismus in Deutschland politisch noch
nicht erledigt ist, daß die Beteiligung an den Parlamentswahlen und am Kampf
auf der Parlamentstribüne für die Partei des revolutionären Proletariats
unbedingte Pflicht ist, gerade um die rückständigen Schichten ihrer Klasse zu
erziehen, gerade um die unentwickelte, geduckte, unwissende Masse auf dem Lande
aufzurütteln und aufzuklären. Solange ihr nicht stark genug seid, das
bürgerliche Parlament und alle sonstigen reaktionären Institutionen
auseinanderzujagen, seid ihr verpflichtet, gerade innerhalb dieser
Institutionen zu arbeiten, weil sich dort noch Arbeiter befinden, die von den
Pfaffen und durch das Leben in den ländlichen Provinznestern verdummt worden
sind. Sonst lauft ihr Gefahr, einfach zu Schwätzern zu werden.
(Unterstreichung vom Herausgeber)

Drittens. Die „linken“
Kommunisten sagen über uns Bolschewiki sehr viel Gutes. Manchmal möchte man
sagen: Wenn sie uns doch weniger loben, wenn sie doch in die Taktik der
Bolschewiki besser eindringen, sich besser mit ihr vertraut machen wollten! Wir
haben uns im September bis November 1917 an den Wahlen zum bürgerlichen Parlament
Rußlands, zur Konstituierenden Versammlung, beteiligt. War unsere Taktik
richtig oder nicht? Wenn nicht, so muß das klar gesagt und bewiesen werden; das
ist notwendig, damit der internationale Kommunismus eine richtige Taktik
ausarbeitet. Wenn ja, so müssen daraus bestimmte Schlußfolgerungen gezogen
werden. Selbstverständlich kann von einer Gleichsetzung der Verhältnisse in
Rußland und der Verhältnisse in Westeuropa keine Rede sein. Speziell in der
Frage jedoch, was der Satz: „Der Parlamentarismus ist politisch
erledigt!“ bedeutet, muß unsere Erfahrung unbedingt genau in Betracht
gezogen werden, denn solche Aussprüche verwandeln sich allzu leicht in hohle
Phrasen, wenn die konkrete Erfahrung nicht in Betracht gezogen wird. Hatten wir
russischen Bolschewiki im September-November 1917 nicht mehr als jeder
beliebige Kommunist im Westen das Recht, anzunehmen, daß der Parlamentarismus
in Rußland politisch erledigt sei? Natürlich hatten wir es, denn es kommt ja
nicht darauf an, ob die bürgerlichen Parlamente lange oder kurze Zeit bestehen,
sondern darauf, wieweit die breiten Massen der Werktätigen (ideologisch,
politisch, praktisch) bereit sind, die Sowjetordnung anzunehmen und das
bürgerlich-demokratische Parlament auseinanderzujagen (oder seine
Auseinanderjagung zuzulassen). Daß in Rußland im September-November 1917 die
Arbeiterklasse der Städte, die Soldaten und die Bauern infolge einer Reihe von
besonderen Umständen für die Annahme der Sowjetordnung und die
Auseinanderjagung selbst des demokratischsten bürgerlichen Parlaments
außerordentlich gut vorbereitet waren, ist eine ganz unbestreitbare und
einwandfrei feststehende historische Tatsache. Und trotzdem haben die
Bolschewiki die Konstituierende Versammlung nicht boykottiert, sondern haben
sich sowohl vor als auch nach der Eroberung der politischen Macht durch das
Proletariat an den Wahlen beteiligt. Daß diese Wahlen außerordentlich wertvolle
(und für das Proletariat im höchsten Grad nützliche) politische Resultate
gezeitigt haben, hoffe ich, in dem obenerwähnten Artikel bewiesen zu haben, der
das Material über die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung in Rußland
eingehend analysiert.

Daraus ergibt sich eine ganz
unbestreitbare Schlußfolgerung: Es ist bewiesen, daß sogar einige Wochen vor
dem Siege der Sowjetrepublik, ja sogar nach diesem Siege die Beteiligung am
bürgerlich-demokratischen Parlament dem revolutionären Proletariat nicht nur
nicht schadet, sondern es ihm erleichtert, den rückständigen Massen zu
beweisen, weshalb solche Parlamente es verdienen, auseinandergejagt zu werden,
es ihm erleichtert, sie mit Erfolg auseinanderzujagen, es ihm erleichtert, den
bürgerlichen Parlamentarismus „politisch zu erledigen“. Diese
Erfahrung nicht in Rechnung stellen und gleichzeitig auf die Zugehörigkeit zur
Kommunistischen Internationale Anspruch erheben, die ihre Taktik international
(nicht als eng oder einseitig nationale, sondern eben als internationale
Taktik) auszuarbeiten hat, heißt einen sehr schweren Fehler begehen und vom
Internationalismus gerade in der Praxis abweichen, während man ihn in Worten
anerkennt.

Betrachten wir nun die
„holländisch-linken“ Argumente für die Nichtbeteiligung an den
Parlamenten. Die wichtigste der obengenannten „holländischen“ Thesen,
die vierte These, lautet in der Übersetzung (aus dem Englischen)
folgendermaßen:

»Wenn das kapitalistische
Produktionssystem zusammengebrochen ist und die Gesellschaft sich im Zustand
der Revolution befindet, verliert die parlamentarische Aktion, im Vergleich zur
Aktion der Massen selbst, allmählich ihre Bedeutung. Wenn unter diesen
Umständen das Parlament zum Zentrum und Organ der Konterrevolution wird,
andrerseits aber die Arbeiterklasse ihre Machtinstrumente in Gestalt der
Sowjets aufbaut – kann es sogar notwendig werden, sich all und jeder Beteiligung
an der parlamentarischen Aktion zu enthalten.«

Der erste Satz ist offenkundig
falsch, denn die Aktion der Massen z.B. ein großer Streik – ist immer und
keineswegs nur während der Revolution oder in einer revolutionären Situation
wichtiger als die parlamentarische Aktion. Dieses offenkundig unhaltbare,
historisch und politisch falsche Argument zeigt nur mit besonderer
Anschaulichkeit, daß die Verfasser weder die gesamteuropäischen Erfahrungen
(die französische vor den Revolutionen von 1848 und 1870; die deutsche der
Jahre 1878 bis 1890 usw.) noch die russischen Erfahrungen (siehe oben), die
zeigen, wie wichtig es ist, den legalen und den illegalen Kampf zu verbinden,
auch nur im geringsten berücksichtigen. Diese Frage ist im allgemeinen wie auch
speziell deswegen von allergrößter Bedeutung, weil in allen zivilisierten und
fortgeschrittenen Ländern schnell die Zeit heranrückt, da eine solche
Verbindung für die Partei des revolutionären Proletariats immer mehr und mehr
zu einer Notwendigkeit wird – teilweise schon geworden ist -, und zwar infolge
des Heranreifens und Herannahens des Bürgerkriegs zwischen Proletariat und
Bourgeoisie, infolge der wütenden Verfolgungen der Kommunisten durch die
republikanischen und überhaupt die bürgerlichen Regierungen, die sich auf jede
Art und Weise über die Legalität hinwegsetzen (wie schwer wiegt allein das
Beispiel Amerikas) usw. Diese höchst wichtige Frage haben die Holländer und
überhaupt die Linken absolut nicht begriffen.

Der zweite Satz ist erstens
historisch falsch. Wir Bolschewiki beteiligten uns selbst an den
konterrevolutionärsten Parlamenten, und die Erfahrung hat gezeigt, daß eine
solche Beteiligung für die Partei des revolutionären Proletariats gerade nach
der ersten bürgerlichen Revolution in Rußland (1905) nicht nur nützlich,
sondern auch notwendig war, um die zweite bürgerliche (Februar 1917) und dann
die sozialistische (Oktober 1917) Revolution vorbereiten zu können. Zweitens
ist dieser Satz erstaunlich unlogisch. Daraus, daß das Parlament zum Organ und „Zentrum“
der Konterrevolution wird (in Wirklichkeit ist es niemals das
„Zentrum“ gewesen und kann es auch nicht sein, doch das nur nebenbei)
und die Arbeiter ihre Machtinstrumente in Gestalt der Sowjets schaffen, folgt,
daß die Arbeiter sich darauf vorbereiten – ideologisch, politisch und technisch
vorbereiten – müssen, das Parlament durch die Sowjets zu bekämpfen, das
Parlament durch die Sowjets auseinanderzujagen. Daraus folgt aber keineswegs,
daß ein solches Auseinanderjagen durch das Vorhandensein einer Sowjetopposition
innerhalb des konterrevolutionären Parlaments erschwert oder doch nicht
erleichtert würde. Wir haben während unseres siegreichen Kampfes gegen Denikin
und Koltschak kein einziges Mal gemerkt, daß das Bestehen einer sowjetischen,
einer proletarischen Opposition bei ihnen für unsere Siege gleichgültig gewesen
wäre. Wir wissen sehr wohl, daß uns das Auseinanderjagen der Konstituante am
5.1.1918 nicht erschwert, sondern erleichtert worden ist dadurch, daß innerhalb
der auseinanderzujagenden konterrevolutionären Konstituante sowohl eine
konsequente, die bolschewistische, als auch eine inkonsequente, die linke
sozialrevolutionäre, Sowjetopposition vorhanden war. Die Verfasser der These
haben sich völlig verheddert und die Erfahrung zahlreicher, wenn nicht aller
Revolutionen vergessen, die davon zeugt, daß es zu Revolutionszeiten besonders
nützlich ist, die Massenaktionen außerhalb des reaktionären Parlaments mit
einer Opposition, die mit der Revolution sympathisiert (oder noch besser: die
Revolution direkt unterstützt), innerhalb dieses Parlaments zu verbinden, Die
Holländer und die „Linken“ überhaupt urteilen hier wie Doktrinäre der
Revolution, die an einer wirklichen Revolution niemals teilgenommen oder sich
in die Geschichte der Revolutionen nicht vertieft haben oder naiv die
subjektive „Ablehnung“ einer bestimmten reaktionären Institution für
deren tatsächliche Zerstörung durch die vereinten Kräfte einer ganzen Reihe von
objektiven Faktoren halten. Das sicherste Mittel, eine neue politische (und
nicht nur eine politische) Idee zu diskreditieren und ihr zu schaden, besteht
darin, sie ad absurdum zu führen, während man sie verteidigt. Denn jede
Wahrheit kann man, wenn man sie „überschwenglich“ macht (wie der alte
Dietzgen zu sagen pflegte), wenn man sie übertreibt, wenn man sie über die
Grenzen ihrer wirklichen Anwendbarkeit hinaus ausdehnt, ad absurdum führen, ja
sie wird unter diesen Umständen unvermeidlich absurd. Und eben diesen
Bärendienst erweisen die holländischen und die deutschen Linken der neuen
Wahrheit, daß die Sowjetmacht den bürgerlich-demokratischen Parlamenten
überlegen ist. Selbstverständlich wäre jemand, der so wie früher und ganz
allgemein sagen wollte, daß ein Verzicht auf die Beteiligung an bürgerlichen
Parlamenten unter keinen Umständen zulässig sei, im Unrecht. Ich kann hier
nicht versuchen, die Bedingungen zu formulieren, unter denen ein Boykott von
Nutzen ist, denn diese Schrift stellt sich die viel bescheidenere Aufgabe, im
Zusammenhang mit einigen brennenden Tagesfragen der internationalen
kommunistischen Taktik die russischen Erfahrungen auszuwerten. Die russischen
Erfahrungen haben uns einmal (1905) eine erfolgreiche und richtige und ein
andermal (1906) eine verfehlte Anwendung des Boykotts durch die Bolschewiki
geliefert. Analysieren wir den ersten Fall, so sehen wir, daß es uns gelang,
die Einberufung eines reaktionären Parlaments durch die reaktionäre Regierung
in einer Situation zu verhindern, da sich die außerparlamentarische
revolutionäre Aktion der Massen (insbesondere die Streikbewegung) mit
ungewöhnlicher Schnelligkeit ausbreitete, da keine einzige Schicht des
Proletariats und der Bauernschaft die reaktionäre Regierung irgendwie
unterstützen konnte, da sich das revolutionäre Proletariat durch den
Streikkampf und die Agrarbewegung den Einfluß auf die rückständigen breiten
Massen gesichert hatte. Es ist vollkommen klar, daß diese Erfahrung auf die
gegenwärtigen europäischen Verhältnisse nicht anwendbar ist. Es ist auch
vollkommen klar – auf Grund der oben angeführten Argumente -, daß ein Verzicht
auf die Beteiligung an den Parlamenten, wie er von den Holländern und den
„Linken“, wenn auch nur bedingt, verfochten wird, grundfalsch und für
die Sache des revolutionären Proletariats schädlich wäre.

In Westeuropa und Amerika hat sich
das Parlament den besonderen Haß der fortgeschrittenen Revolutionäre aus der
Arbeiterklasse zugezogen. Das ist unbestreitbar. Es ist durchaus begreiflich,
denn man kann sich schwerlich etwas Niederträchtigeres, Gemeineres,
Verräterischeres vorstellen als das Verhalten der übergroßen Mehrheit der
sozialistischen und sozialdemokratischen Abgeordneten im Parlament während des
Krieges und nach dem Kriege. Es wäre aber nicht nur unvernünftig, sondern
geradezu verbrecherisch, dieser Stimmung nachzugeben, wenn die Frage
entschieden werden muß, wie das von allen erkannte Übel zu bekämpfen ist. In
vielen Ländern Westeuropas ist die revolutionäre Stimmung jetzt gewissermaßen
eine „Neuheit“ oder „Seltenheit“, auf die man allzulange,
vergeblich, ungeduldig gewartet hat, und vielleicht gibt man deswegen dieser
Stimmung so leicht nach. Natürlich kann ohne revolutionäre Stimmung unter den
Massen und ohne Bedingungen, die das Anwachsen einer solchen Stimmung fördern,
die revolutionäre Taktik nicht in die Tat umgesetzt werden; wir in Rußland
haben uns aber durch allzulange, schwere, blutige Erfahrungen von der Wahrheit
überzeugt, daß die revolutionäre Taktik auf revolutionärer Stimmung allein
nicht aufgebaut werden kann. Die Taktik muß auf einer nüchternen, streng objektiven
Einschätzung aller Klassenkräfte des betreffenden Staates (und der ihn
umgebenden Staaten sowie aller Staaten der ganzen Welt) sowie auf der
Berücksichtigung der von den revolutionären Bewegungen gesammelten Erfahrungen
aufgebaut werden. Es ist sehr leicht, seinen „Revolutionismus“ nur
durch Schimpfen auf den parlamentarischen Opportunismus, nur durch Ablehnung
der Beteiligung an den Parlamenten zu bekunden, aber gerade weil das nur allzu
leicht ist, ist es keine Lösung der schwierigen, überaus schwierigen Aufgabe.
In den europäischen Parlamenten ist es viel schwieriger, eine wirklich
revolutionäre Parlamentsfraktion zu schaffen, als es in Rußland der Fall war.
(Unterstreichung vom Herausgeber) Gewiß.
Aber das ist nur ein besonderer Ausdruck der allgemeinen Wahrheit, daß es für
Rußland in der konkreten, historisch außerordentlich eigenartigen Situation von
1917 leicht war, die sozialistische Revolution zu beginnen, während es für
Rußland schwerer als für die europäischen Länder sein wird, sie fortzusetzen
und zu Ende zu führen. Bereits Anfang 1918 mußte ich auf diesen Umstand
hinweisen, und die späteren zweijährigen Erfahrungen haben die Richtigkeit
dieser Erwägung vollauf bestätigt. Solche spezifische Bedingungen wie: 1. die
Möglichkeit, den Sowjetumsturz mit der dank diesem Umsturz herbeigeführten
Beendigung des imperialistischen Krieges zu verbinden, der die Arbeiter und
Bauern aufs äußerste erschöpft hatte; 2. die Möglichkeit, eine gewisse Zeit
lang den auf Tod und Leben geführten Kampf der beiden weltbeherrschenden
Gruppen imperialistischer Räuber auszunutzen, der beiden Gruppen, die sich
nicht gegen die Sowjets, ihren Feind, vereinigen konnten; 3. die Möglichkeit –
teilweise dank der ungeheuren Ausdehnung des Landes und den schlechten
Verkehrsmitteln -, einen verhältnismäßig langwierigen Bürgerkrieg auszuhalten;
4. das Vorhandensein einer so tief gehenden bürgerlich-demokratischen
revolutionären Bewegung unter der Bauernschaft, daß die Partei des Proletariats
die revolutionären Forderungen von der Partei der Bauern (der
Sozialrevolutionäre, einer Partei, die in ihrer Mehrheit dem Bolschewismus
ausgesprochen feindlich gegenüberstand) übernehmen und sie dank der Eroberung
der politischen Macht durch das Proletariat unverzüglich verwirklichen konnte –
solche spezifische Bedingungen sind jetzt in Westeuropa nicht vorhanden, und
die Wiederkehr solcher oder ähnlicher Bedingungen ist nicht allzu leicht
möglich. Deshalb übrigens ist es, neben einer Reihe anderer Gründe, für
Westeuropa schwerer, als es für uns war, die sozialistische Revolution zu
beginnen. Diese Schwierigkeit dadurch „umgehen“ zu wollen, daß man
die schwere Aufgabe der Ausnutzung reaktionärer Parlamente zu revolutionären
Zwecken „überspringen“ möchte, ist reinste Kinderei. Ihr wollt eine
neue Gesellschaft schaffen? und ihr fürchtet Schwierigkeiten bei der Schaffung
einer guten Parlamentsfraktion aus überzeugten, treuen, heldenhaften
Kommunisten im reaktionären Parlament! Ist das etwa nicht Kinderei? Wenn Karl
Liebknecht in Deutschland und Z. Höglund in Schweden es sogar ohne
Unterstützung der Massen von unten vermocht haben, Musterbeispiele einer
wirklich revolutionären Ausnutzung reaktionärer Parlamente zu geben, warum
sollte dann eine rasch wachsende revolutionäre Massenpartei unter den
Nachkriegsverhältnissen der Enttäuschung und Erbitterung der Massen nicht
imstande sein, sich in den schlimmsten Parlamenten eine kommunistische Fraktion
zu schmieden?! Gerade deshalb, weil die rückständigen Massen der Arbeiter und –
in noch höherem Grade – der Kleinbauern in Westeuropa viel stärker als in
Rußland von bürgerlich-demokratischen und parlamentarischen Vorurteilen
durchdrungen sind, gerade deshalb können (und müssen) die Kommunisten nur in
solchen Institutionen wie den bürgerlichen Parlamenten von innen heraus den
langwierigen, hartnäckigen, vor keinen Schwierigkeiten zurückschreckenden Kampf
zur Enthüllung, Zerstreuung und Überwindung dieser Vorurteile führen.

Die deutschen „Linken“
klagen über die schlechten „Führer“ ihrer Partei und geraten darob in
Verzweiflung, wobei sie sich bis zur lächerlichen „Verneinung“ der
„Führer“ versteigen. Aber unter Bedingungen, wo man die
„Führer“ häufig in der Illegalität verstecken muß, ist es besonders
schwer, gute, zuverlässige, erprobte, angesehene „Führer“
herauszubilden, und diese Schwierigkeiten kann man nicht mit Erfolg überwinden,
ohne die legale und die illegale Arbeit miteinander zu verbinden, ohne die
„Führer“ unter anderem auch in der Parlamentsarena zu erproben. Die
Kritik – und zwar die schärfste, schonungsloseste, unversöhnlichste Kritik –
ist nicht gegen den Parlamentarismus oder gegen die parlamentarische Tätigkeit
zu richten, sondern gegen jene Führer, die es nicht verstehen, die
Parlamentswahlen und die Parlamentstribüne auf revolutionäre, auf
kommunistische Art auszunutzen, und noch mehr gegen diejenigen, die das nicht
wollen. Nur eine solche Kritik, natürlich verbunden damit, daß man die
untauglichen Führer fortjagt und durch taugliche ersetzt, wird eine nützliche
und fruchtbringende revolutionäre Arbeit sein, die gleichzeitig sowohl die
„Führer“ erzieht, damit sie der Arbeiterklasse und der werktätigen
Massen würdig sind, als auch die Massen erzieht, damit sie lernen, sich in der
politischen Lage zurechtzufinden und die mitunter sehr komplizierten und
verwickelten Aufgaben zu verstehen, die sich aus dieser Lage ergeben.
(Unterstreichung vom Herausgeber) [19]

Aus: W. I. Lenin, Der „linke
Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus:

Ich will ganz konkret sprechen. Die
englischen Kommunisten müssen meiner Ansicht nach alle ihre vier Parteien und
Gruppen (sie sind alle sehr schwach, einige sogar schwächer als schwach) auf
dem Boden der Grundsätze der III. Internationale und der obligatorischen
Beteiligung am Parlament zu einer einzigen Kommunistischen Partei
zusammenschließen. Die Kommunistische Partei schlägt den Henderson und Snowden
ein „Kompromiß“, ein Wahlabkommen vor: Wir kämpfen gemeinsam gegen
das Bündnis Lloyd Georges und der Konservativen, verteilen die Parlamentssitze
entsprechend der Zahl der von den Arbeitern für die Arbeiterpartei bzw. die
Kommunisten abgegebenen Stimmen (nicht bei den Wahlen, sondern in einer
besonderen Abstimmung), behalten uns aber die vollste Freiheit der Agitation,
Propaganda und politischen Tätigkeit vor. Ohne die letzte Bedingung darf man
sich natürlich nicht auf einen Block einlassen, denn das wäre Verrat: Die
vollste Freiheit der Entlarvung der Henderson und Snowden müssen die englischen
Kommunisten ebenso unbedingt verfechten und durchsetzen, wie die russischen
Bolschewiki sie (fünfzehn Jahre lang, von 1903 bis 1917) gegenüber den
russischen Henderson und Snowden, d.h. gegenüber den Menschewiki, verfochten
und durchgesetzt haben.

Gehen die Henderson und Snowden den
Block unter diesen Bedingungen ein, so werden wir gewonnen haben, denn für uns
ist keineswegs die Zahl der Parlamentssitze wichtig, wir reißen uns nicht
darum, wir werden in diesem Punkt nachgiebig sein (die Henderson aber und
insbesondere ihre neuen Freunde – oder neuen Herren -, die Liberalen, die zur
Unabhängigen Arbeiterpartei übergegangen sind, reißen sich gerade darum am
allermeisten). Wir werden gewonnen haben, denn wir werden unsere Agitation zu
einem Zeitpunkt in die Massen tragen, da Lloyd George selbst sie
„aufgeputscht“ hat, und werden nicht nur der Arbeiterpartei helfen,
schneller ihre Regierung zu bilden, sondern auch den Massen, schneller unsere
ganze kommunistische Propaganda zu begreifen, die wir gegen die Henderson ohne
jede Einschränkung und ohne etwas zu verschweigen treiben werden.

Lehnen die Henderson und Snowden den
Block mit uns unter diesen Bedingungen ab, so werden wir noch mehr gewonnen
haben. Denn wir werden den Massen sofort gezeigt haben (wohlgemerkt, sogar innerhalb
der rein menschewistischen, völlig opportunistischen Unabhängigen
Arbeiterpartei ist die Masse für die Sowjets), daß den Henderson ihre nahen
Beziehungen zu den Kapitalisten lieber sind als der Zusammenschluß aller
Arbeiter. Wir werden sofort gewonnen haben in den Augen der Massen, die
besonders nach den glänzenden, höchst richtigen und (für den Kommunismus)
höchst nützlichen Erläuterungen Lloyd Georges mit einem Zusammenschluß aller
Arbeiter gegen das Bündnis Lloyd Georges und der Konservativen sympathisieren
werden. Wir werden sofort gewonnen haben, denn wir werden vor den Massen
demonstriert haben, daß die Henderson und Snowden einen Sieg über Lloyd George
fürchten, daß sie die alleinige Machtübernahme fürchten, daß sie bestrebt sind,
heimlich die Unterstützung Lloyd Georges zu erlangen, der offen den
Konservativen die Hand gegen die Arbeiterpartei reicht. Es muß bemerkt werden,
daß bei uns in Rußland nach der Revolution vom 27.11.1917 (alten Stils) die
Propaganda der Bolschewiki gegen die Menschewiki und Sozialrevolutionäre (d.h.
gegen die russischen Henderson und Snowden) gerade durch einen ebensolchen
Umstand gewann. Wir erklärten den Menschewiki und Sozialrevolutionären: Nehmt
die ganze Macht ohne die Bourgeoisie, denn ihr habt die Mehrheit in den Sowjets
(auf dem 1. Gesamtrussischen Sowjetkongreß im Juni 1917 hatten die Bolschewiki
nur 13 Prozent der Stimmen). Aber die russischen Henderson und Snowden
fürchteten sich, die Macht ohne die Bourgeoisie zu ergreifen, und als die
Bourgeoisie die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung verschleppte, da sie
sehr wohl wußte, daß die Wahlen den Sozialrevolutionären und Menschewiki die
Mehrheit bringen würden [27] (beide bildeten einen ganz engen politischen
Block, denn sie vertraten praktisch ein und dieselbe kleinbürgerliche
Demokratie), da waren die Sozialrevolutionäre und Menschewiki nicht imstande,
gegen diese Verschleppung energisch und konsequent zu kämpfen.

Lehnen die Henderson und Snowden
einen Block mit den Kommunisten ab, so werden die Kommunisten sofort gewonnen
haben, was die Eroberung der Sympathien der Massen und die Diskreditierung der
Henderson und Snowden betrifft, und sollten wir dadurch einige Parlamentssitze
verlieren, so ist das für uns ganz unwichtig. Wir würden unsere Kandidaten nur
in einer ganz geringen Zahl absolut sicherer Wahlkreise aufstellen, d.h. dort,
wo die Aufstellung unserer Kandidaten nicht dem Liberalen zum Sieg über den
Labouristen (das Mitglied der Arbeiterpartei) verhelfen würde. Wir würden
Wahlagitation treiben, Flugblätter zugunsten des Kommunismus verbreiten und in
allen Wahlkreisen, in denen wir keinen eigenen Kandidaten aufstellen,
empfehlen, für den Labouristen und gegen den Bourgeois zu stimmen. Genossin
Sylvia Pankhurst und Genosse Gallacher irren, wenn sie darin einen Verrat am
Kommunismus oder einen Verzicht auf den Kampf gegen die Sozialverräter sehen.
Im Gegenteil, dadurch würde die Sache der kommunistischen Revolution ohne
Zweifel gewinnen.

Den englischen Kommunisten fällt es
jetzt sehr oft schwer, an die Masse auch nur heranzukommen, sich bei ihr auch
nur Gehör zu verschaffen. Wenn ich als Kommunist auftrete und erkläre, daß ich
dazu auffordere, für Henderson und gegen Lloyd George zu stimmen, so wird man
mich gewiß anhören. Und ich werde nicht nur in populärer Weise erklären können,
warum die Sowjets besser sind als das Parlament und die Diktatur des
Proletariats besser ist als die Diktatur Churchills (die durch das
Aushängeschild der bürgerlichen „Demokratie“ verdeckt wird), sondern
ich werde auch erklären können, daß ich Henderson durch meine Stimmabgabe
ebenso stützen möchte, wie der Strick den Gehängten stützt; daß in dem Maße,
wie sich die Henderson einer eigenen Regierung nähern, ebenso die Richtigkeit
meines Standpunkts bewiesen wird, ebenso die Massen auf meine Seite gebracht
werden und ebenso der politische Tod der Henderson und Snowden beschleunigt
wird, wie das bei ihren Gesinnungsgenossen in Rußland und in Deutschland der
Fall war.

Und wenn man mir entgegnen sollte,
das sei eine zu „schlaue“ oder zu komplizierte Taktik, die Massen
würden sie nicht verstehen, sie werde unsere Kräfte verzetteln, zersplittern,
werde uns hindern, diese Kräfte auf die Sowjetrevolution zu konzentrieren usw.,
so werde ich diesen „linken“ Opponenten antworten: Wälzt euren Doktrinarismus
nicht auf die Massen ab! In Rußland ist das Kulturniveau der Massen gewiß nicht
höher, sondern niedriger als in England. Und dennoch haben die Massen die
Bolschewiki begriffen; und es hat den Bolschewiki nicht geschadet, sondern
genützt, daß sie am Vorabend der Sowjetrevolution, im September 1917, die
Listen ihrer Kandidaten für das bürgerliche Parlament (die Konstituierende
Versammlung) aufstellten und am Tag nach der Sowjetrevolution, im November
1917, an den Wahlen zu dieser selben Konstituierenden Versammlung teilnahmen,
die sie dann am 5.1.1918 auseinanderjagten.