Korrespondenz: Harte Arbeitskämpfe in Belgien

Nahezu totgeschwiegen werden in Deutschland die wiederholten
Generalstreiks und großen Arbeitskämpfe im benachbarten Belgien, wo allein im
Oktober und November jeweils mehr als 100.000 Gewerkschafter laut protestierend
durch Brüssel zogen. Anlass der massiv gewordenen Proteste ist die
„Rentenreform“ der sozialliberalen belgischen Regierung. Insbesondere
die Heraufsetzung des Altersrenteneintrittsalters von 58 auf 60 Jahre treibt
viele Menschen in den Protest, denn immer mehr Jugendliche finden keinen Job,
und viele ältere Arbeiter vor allem in Berufsgruppen mit schwerer körperlicher
Arbeit sind auf Vorruhestandsregelungen und ein nicht zu hohes Renteneintrittsalter
sehr angewiesen.

Bei den beiden großen nationalen Generalstreiks sorgten die
Gewerkschaften dafür, dass der Hafen von Antwerpen, die Metall- und
Chemiewirtschaft sowie weitere Großindustrien sowie der öffentliche Nahverkehr
stark beeinträchtigt bis paralysiert waren, während die staatliche Bahn fuhr, damit
die Gewerkschafter zur Demonstration nach Brüssel fahren konnten.

Erschwerend für die Schlagkraft der Generalstreiks ist der
stark angewachsenen Anteil von Zeitarbeitern, die nur selten gewerkschaftlich organisiert
sind, zumeist für minimale Löhne ab 1300 Euro brutto (ca. 800 Euro netto) im
Dienstleistungssektor (Callcenter, privates Transportwesen, unterer und
mittlerer Angestelltenbereich, aber auch im Produktionsbereich) schuften und im
Fall einer Arbeitsniederlegung und Beteiligung an den Demonstrationen unter der
Lohneinbuße besonders stark zu leiden hätten. Da der Weg zum Job fast nur noch
über Zeitfirmen möglich ist, werden die Strukturen der Arbeiterklasse weiterhin
im alleinigen Interesse der Maximierung privatkapitalistischer Profitmacherei
verändert.

Dabei ist Streik nicht immer die effektivste Kampfform der
Gewerkschaften. In vielen Grossbetrieben werden einfach tagelange
Belegschaftsversammlungen abgehalten, in denen die Beschäftigten nahezu ihre
gesamte Schicht lang über die Rentenreform und die Folgen für alle Leute
einfach diskutieren. Dies bringt den Kapitaleignern herbe Verluste an Profit,
denn die nicht gearbeitete Zeit muss wegen der Anwesenheit der Beschäftigten im
Betrieb und deren Anspruch auf Meetings in der Arbeitszeit bezahlt werden, während
bei Streik ein betroffener Unternehmer kurzerhand für die Streikdauer den Lohn
einbehalten kann. Oftmals halten dann Gewerkschaftsfunktionäre vor Ort ihren
Kopf für ganze Belegschaften hin, was bis zu folgenschweren Schadenersatzklagen
gegen sie vor Gericht führen kann, wo dann Haus und Hof des
Gewerkschaftsfunktionärs riskiert werden. Es gibt Gewerkschaftsfunktionäre,
denen dies bereits wiederholt drohte. Da optional zur Zwangsversteigerung auch
der Gang ins Gefängnis als eine Art Haft im Schuldturm rechtlich möglich ist,
wählen Gewerkschaftsfunktionäre dann nicht selten den Freiheitsentzug, womit
sie zum Märtyrer zu werden drohen. Dies bewegt dann unter erneut aufkommendem
massiven Druck von Belegschaften zumeist die Kapitaleigner in ihrem
Profitinteresse dazu, auf das Durchsetzen der gegen die Person des
Gewerkschaftsfunktionärs geltend gemachten Schadenersatzansprüche letztlich
doch besser zu verzichten, es bei einer Kontopfändung zu belassen und die
Gerichtsvollzieher vor dem Hause des Verurteilten abzuziehen. Derzeit
konzentrieren sich die kämpferischen Gewerkschaften auf Proteste vor Ort auf
regionaler und lokaler Ebene.

Die belgische Arbeiterklasse hat sich in den vergangenen
Jahrzehnten einen soliden sozialen Standard erkämpft. Pro gearbeiteten Tag
erhalten die Beschäftigten vieler Firmen Mahlzeitgutscheine im Wert von 6 Euro,
wofür ihnen lediglich etwas mehr als 1 Euro vom Nettolohn abgezogen werden. Fahrtkosten
zur Arbeit werden gesetzlich per Pauschalzahlung abhängig von der Entfernung
zwischen Wohn- und Arbeitsort durch die Firmen gezahlt, vergleichbare
Regelungen gibt es in den Niederlanden. Löhne/Gehälter werden gesetzlich durch
Indexregelung alljährlich inflationsausgeglichen in Holland und Belgien. In
wohl allen größeren und mittleren Betrieben gibt es Betriebsräte, in denen vor
allem Gewerkschaftsdelegierte der Belegschaftsabteilungen sitzen und die
Betriebsvereinbarungen aushandeln und mitbeschließen.

Wer als Kommunist von Deutschland nach Belgien vor der Massenarbeitslosigkeit
und diskriminierenden „Verhartzung“ der Arbeitslosen in Deutschland
emigriert, wird zumindest einen Job finden, auch wenn es „nur“ ein
Zeitjob ist. Sollte so jemand dann zufällig in den christlichen Gewerkschaftsverband
CSC/ACV gelangen, wird er bald feststellen, dass dort keinerlei Gebetsstunden
stattfinden, sondern gelegentlich „Die Internationale“ erklingt, eine
beeindruckende internationale Solidaritätsarbeit beispielsweise für Volk und
Gewerkschaften in den Philippinen geleistet wird und engagiert für die
Interessen der Arbeitenden vor Ort eingestanden wird. Irgendwann findet dann
jeder suchende Kommunist auch die vor Ort aktiven Mitglieder der PTB/PvdA, in
Veranstaltungen wie „Cafe Syndicaal“ oder denen der Kubasolidaritäts-
oder Friedensbewegung, bei den Vorträgen und Diskussionsrunden der
Gesellschaftskritiker von ATTAC oder auf den Drittweltfesten. Die Genossen
erkennen unsereins dann auch beim Vorbeilaufen an der Brasserie und laden gerne
zum guten belgischen Bier ohne deutsches Reinheitsgebot ein, Belgier gelten zu
recht als freundliche und offene Menschen. Und da spielt es überhaupt keine
Rolle, ob die Genossen in der roten sozialistisch orientierten Gewerkschaft
CGTB/ABVV Mitglied oder eben in der grünen aus der christlichen
Arbeiterbewegung stammenden CSC/ABV.

Der Umgang miteinander ist freundlich und solidarisch.

Die hoffnungslose Lage von immer mehr Arbeitsuchenden in
Deutschland lässt immer mehr von ihnen auch jenseits der Staatsgrenzen nach
Arbeit suchen, darunter zunehmend ostdeutsche Jugendliche. In den Niederlanden
und Belgien erlebte ich zuweilen, dass neuen deutschen Kollegen zu recht oft
mit vorerst Misstrauen seitens der einheimischen Kollegen begegnet wird. Die Knechtsmentalität
vieler deutscher Michels erregt größten Ärger bei den westlichen Nachbarn. Es
passiert, dass sich die Duckmäuser unter den deutschen Kollegen dann so stark
isolieren, dass ihnen schon mal jemand sagt „dich haben sie auch
vergessen, ’45“. Andererseits lernen auch große Duckmäuser zuweilen hinzu,
lässt sich auch simple Kollegialität irgendwann erlernen. Denn, immer des Chefs
Liebling sein zu wollen, endet dann irgendwann im Konflikt mit den Kollegen…
Und in den Nachbarländern wissen viele arbeitende Menschen, dass sie bei sich
bitte nicht die Altersdiskriminierung älterer Arbeitssuchender haben wollen.
Dass sie bei sich keine Hartz-Gesetze wünschen. Dass eine Altersrente ab 67
wohl das Allerletzte wäre, was sie akzeptieren können. Dass Deutschlands
soziale Kälte einfach nicht zu ihnen passt.

 

Jens-Torsten Bohlke

(aufgewachsen in Berlin/DDR, seit 2000 in den Niederlanden
und Belgien berufstätig, Betriebsratsmitglied bei Sony, ACV/CSC-Gewerkschaftsdelegierter
seiner Kollegen)

Groetjes,

Jens