3. Juni 2006: Kämpferische Demo gegen Sozialraub in Berlin – trotz massiver Politzeigewalt!

Polizeieinsatz gegen Demo Berlin 3.6.06

Ungefähr 10.000 Demonstranten (nach anderen Quellen bis zu
20.000) aus der ganzen Bundesrepublik versammelten sich am 3. Juni mittags vor
dem Roten Rathaus in Berlin, um unter dem Motto: „Schluss mit den Reformen
gegen uns!“ gegen die erneute Verschärfung der Hartz-Gesetze durch die
Bundesregierung und gegen ihre ganze Sozial- und Wirtschaftspolitik zu
protestieren. Dazu hatte ein breites Bündnis aufgerufen: Einzelne
gewerkschaftliche Gliederungen von IG Metall und ver.di, Attac, Linkspartei,
WASG bis hin zu DKP und MLPD.

Das Gesamtbild prägten aber auch die zahlreichen
Delegationen von Montagsdemonstrationen, deren Koordinationsgruppe zu den
Initiatoren gehört. Es beteiligten sich aber auch Friedens- und Migrantenorganisationen,
Studentenorganisationen gegen Studiengebühren, fast alle
Erwerbsloseninitiativen sowie ein starker Block unter dem Motto „Wir wollen
alles“. Ein Sonderzug hatte entlang der Rhein-Ruhr-Schiene zahlreiche Demonstrations-
Teilnehmer nach Berlin gefahren.

Keine Unterstützung kam dagegen aus den
Gewerkschaftszentralen. Ver.di-Chef Frank Bsirske, der angeblich hatte sprechen
wollen, hatte kurz vor der Demo seine Teilnahme abgesagt – aus terminlichen
Gründen, wie es hieß.

Hinter den Kulissen war davon die Rede, Bsirske habe aus
Verstimmung gegenüber Kritik an seiner Person die Teilnahme zurückgezogen, die
unter anderem aus der Vorbereitungsgruppe zu hören war. Auch der
Forderungskatalog des Demo-Bündnisses mag eine Rolle gespielt haben: Die
DGB-Gewerkschaften fordern nur einen Mindestlohn von 7,50 Euro. Die
Erwerbsloseninitiativen dagegen fordern frecherweise 10 Euro.

In den zahlreichen Wortbeiträgen vor und nach der Demo war  der Mindestlohn nur ein Thema. Viele Redner
forderten darüber hinaus die Rücknahme der jüngsten Gesetzesverschärfungen für
Erwerbslose und plädierten für eine grundsätzlich andere Wirtschafts- und
Sozialpolitik.

„Die Welt zu Gast bei Arbeitslosen“, hieß es unter Bezug auf
die Fußball-WM auf einem Transparent. In Sprechchören riefen die Demonstranten „Wer
hat uns verraten? Sozialdemokraten!“ sowie „Zwangsarbeit streichen – schröpft
die Reichen!“. Sarkastisch und bitter hieß es auf einem Schild: „“Wie wäre es
mit Lagern für Zwangsarbeit?

Streicht den Arbeitslosen doch gleich alles! Nach 43 Jahren
Vollzeitarbeit gehöre ich zum Abfall der Gesellschaft! Sozialrecht wird zu
Feindrecht!“

Mit Blick auf die weitaus größeren und zum Teil
erfolgreichen Proteste im Nachbarland wurde außerdem dazu aufgerufen, in der
Bundesrepublik »französische Verhältnisse« zu schaffen.

Ziel der Demonstration war es laut den Veranstaltern, die mit
dem so genannten Optimierungsgesetz beschlossenen Gesetzesentwürfe zu
verhindern oder rückgängig zu machen und einen Wandel in der Sozial- und
Wirtschaftspolitik einzuleiten.

Immer deutlicher tritt in manchem Redebeitrag die dringliche
Suche nach einem Ausweg aus dem Menschen verachtenden und zerstörenden Kapitalismus,
auch wenn zunächst Utopien formuliert werden.

Martin Behrsing vom Erwerbslosen Forum Deutschland auf der
Demo zu seinen zentralen Stichworten: menschenwürdiges Grundeinkommen.
Arbeitszeitverkürzung und Mindestlohn!:

„Bei einem jährlichen Volkseinkommen von 1,7 Billionen EUR
sollte dies schmerzlos machbar sein. Das Festhalten an neoliberalen
Wirtschaftsmodellen, mit ihren Versprechungen von Wohlstand und Arbeit für alle
– sie hat sich als Trugschluss erwiesen!  Ziel jeder Wirtschaft muss es sein, Menschen
von Arbeit zu befreien und einen Wertewandel herbei zuführen, wonach der
gesellschaftliche Wert nicht mehr in der bezahlten Erwerbsarbeit besteht, denn
bei unserer Produktivität der europäischen Wirtschaft besteht keine
Notwendigkeit einer Vollbeschäftigung mit bezahlten Lohn bei den Teilhabenden,
sondern hier kommt es darauf an, dass wir einen Paradigmenwechsel herbeiführen,
der z.B. Erziehung und gesellschaftlichen Aufgaben einen genauso hohen
Stellenwert einräumt“.

Auch wurde fortgesetzter ziviler Ungehorsam sowie weiterer
Protest gefordert. Zusammen mit zahlreichen Betroffenen und den neuen
Aktionsformen der Studenten gegen die Studiengebühren sollte die Regierung
gerade während der Fußball-WM mit ihrer menschenverachtenden Politik einer
Weltöffentlichkeit vorgeführt werden.

„Es darf nicht sein, dass ein so reiches Land wie
Deutschland künstlich Armut und Niedriglöhne schafft, während gleichzeitig 900
EUR für eine Eintrittskarte zur Fußball-WM bezahlt werden können.“

Gegen 14:30 Uhr machte sich die Demonstration im strömenden
Regen auf den Weg, wurde aber fast sofort von einem Polizeiangriff gestoppt.
Immer wieder musste sich die Demo gegen diese Attacken durchsetzen. Vorwand für
die Angriffe waren seitlich der Demo getragene Transparente, die die Polizei
wegzureißen versuchte, weil sie angeblich „Sichtschutz für Personen“
darstellten, die „sich auf Straftaten vorbereiten“. Am Hackeschen Markt und –
welch historische Ironie! – in Sichtweise der Synagoge, u. a. an der Ecke Oranienburger
Straße/ Kurt-Tucholski-Straße(!) nahm die Polizei unter massivem
Schlagstockeinsatz Demonstranten fest und zerstörte Seitentransparente. Aber
immer stärker solidarisierte sich die Masse der Demoteilnehmer. Unter wütenden,
lautstarken Rufen wie „Haut ab, haut ab!“ oder „Deutsche Polizisten schützen
nur Faschisten!“ musste sich die Polizei immer wieder zurückziehen.

Sehr eindrucksvolle Fotodokumentationen dazu finden sich im
Internet, z.B. unter http://www.carookee.com/forum/freies-politikforum/1/20_000_bei_der_Grossdemo_3_Juni_in_Berlin_Fotobericht_Teil_1.11074166.0.01105.html
oder unter http://www.protest2006.de/presse/presseerklarungen/gewaltsam_gegen_hartz-iv_empfanger_vorgegangen.html.

Die Übergriffe dauerten bis in die Abschlusskundgebung hinein
an und wurden unter immer stärkerer Beteiligung der Demoteilnehmer und der
Demoleitung zurückgewiesen. Letztere machte die Polizeiübergriffe über die Lautsprecheranlage
öffentlich.

Hier Auszüge aus der Presseklärung der Veranstalter vom
6.6.2006:

„…Viele – vor allen ältere – Demonstrationsteilnehmer
konnten die Bilder, die sich vor ihren Augen während der Demonstration und auf
der Abschlusskundgebung vor dem Roten Rathaus abspielten, kaum fassen. Die
friedlich begonnene Demonstration wurde von gewaltsamen Szenen durch
Einsatzkommandos der Polizei überschattet, bei der es mehrere Verletzte auf
Seiten der Demonstranten gegeben hatte…

Dabei wurde nach vielfältigen Zeugenaussagen wahllos auf
ältere und jüngere Demoteilnehmer eingeschlagen. Diese Aussagen wurden
inzwischen durch Journalisten bestätigt, die diese Vorfälle beobachten konnten.

Kundgebung Berlin 3.6.06Auch zur Abschlusskundgebung rückten Einsatzkräfte auf dem
Platz vor dem Roten Rathaus vor und lieferten sich zum Teil regelrechte
Prügelszenen mit Demonstranten. Erst auf Grund der scharfen Aufforderungen der
Demoveranstalter und der gezeigten Entschlossenheit, gegen diese Form des
Übergriffes vorzugehen, rückten die Einsatzkräfte dann ab.

Wir fordern den Berliner Innensenator Körting (SPD) auf,
Stellung zu diesen Vorfällen zu beziehen. Hier wurde nicht mehr die
Verhältnismäßigkeit der Mittel gewahrt. Es gab keinerlei Anlass, der diese
Aktionen auch nur im Geringsten gerechtfertigt hätte. Wenn dies jetzt die neue
Linie ist, wie gegenüber friedlichen Hartz-IV Demonstranten vorgegangen wird,
müssen sich die Verantwortlichen nicht wundern, wenn zukünftig zu ähnlichen
Mitteln von Seiten der Betroffenen gegriffen wird.

Die verbalen Attacken maßgeblicher Unionspolitiker gegenüber
Arbeitslosen wurden nun durch gewaltsame Attacken der Staatsgewalt ausgeweitet.
Die Abgeordneten der Berliner Linkspartei sollte dringend hierzu Stellung
beziehen! Schließlich hat bundesweit die Linkspartei zu diesem Protest
aufgerufen, der durch das Verhalten der Berliner Polizei und dessen obersten
Dienstherren solch einen Ausgang gefunden hat“, so Martin Behrsing, der Pressesprecher
der Demonstration und Erwerbslosen Forum Deutschland. Einig waren sich die
Veranstalter, dass dieser Protest nur ein Anfang war und man die Aktionsformen
intensivieren wird. Der nächste Anlass soll das Achtelfinale in Köln sein, an
dem die vielen Montagsdemos aus NRW dann gemeinsam in Köln mit den Studenten
auf der Kölnerdomplatte „zurückschießen“ wollen. Unter dem Motto: „Arbeitslose
raus aus dem Abseits, jetzt wird zurückgeschossen“ soll die Welt zu Gast bei
Arbeitslosen begrüßt werden, denn eins ist sicher Die versprochenen
Arbeitsplätze durch Arbeitsagentur und DFB hat es in diesem Ausmaß nicht
gegeben.“

Auf der Abschlusskundgebung hielt der Europa-Abgeordnete
Tobias Pflüger eine eindrucksvolle Rede, in der er nicht nur die Verlogenheit
der Regierungskoalition und den zunehmend menschenverachtenden Charakter der
deutsche Regierungspolitik anprangerte – nicht nur im „sozialen Bereich“,
sondern auch in der Großmachtpolitik, die international immer deutlicher
hervortritt   nein, er forderte angesichts dieser Lage auch
dazu auf, gegenüber dem Kapitalismus die Systemfrage zu stellen!

Auf der Demo wurden mehrere hundert Exemplare unserer
Zeitung verteilt.

ft.