Buchbesprechung „Nebensache Mensch“: Im Rausch der Zahlen

Buchbesprechung:
Nebensache Mensch

Im Rausch der Zahlen

 

Das im Mai 2003 erschienene Buch von Prof. Rainer Roth „Nebensache
Mensch – Arbeitslosigkeit in Deutschland“
ist derzeit unter Linken ein Topseller
und bekommt von allen Seiten Lob. Die UZ, die Zeitung der DKP, veröffentlichte
am 3. Oktober 2003 auf einer ganzen Seite Auszüge aus dem letzten Kapitel des
Buches und empfahl es drei Wochen später in einem theoretischen
Grundsatzartikel noch einmal ihren Lesern. Darin heißt es: „Das Buch von
Rainer Roth gehört in die Bibliothek jedes Gewerkschafters, jedes
klassenbewussten Arbeiters, jedes Sozialisten oder Kommunisten.“
Der eher
trotzkistisch orientierte „Express – Zeitung für Betriebs- und sozialistische
Gewerkschaftsarbeit“
lobte das Buch als „ein antikapitalistisches
Lesebuch, das es in sich hat
“. Das „labournet.de“ schrieb dazu: „Es
(wird) bereits vielfach als ‚Standardwerk’ bezeichnet – und dies zu Recht.“

Die neueste Ausgabe der KAZ (Kommunistische Arbeiterzeitung) lobt das Buch auf
1,5 Seiten. Grund genug, sich das Buch einmal gründlich anzuschauen.

 

Gutes Material

 

„Das Buch hat einen einzigen Zweck: Es will nachweisen, dass nicht
LohnarbeiterInnen und Arbeitslose für die Arbeitslosigkeit verantwortlich sind,
sondern das Kapital. Und es will nachweisen, dass die Lösung des Problems nicht
darin liegen kann, dass die LohnarbeiterInnen sich unter der Leitung von
Gewerkschaftsfunktionären selbst bekämpfen. Arbeitslosigkeit bedeutet eine
ungeheure Verschwendung menschlicher Energien. Die Wirtschaftsordnung, die
solche Probleme erzeugt, steht selbst auf dem Prüfstand.“
(S. 6)

Den ersten Anspruch, nachzuweisen dass Lohnarbeiter und Arbeitslose
nicht verantwortlich für die Arbeitslosigkeit sind, sondern das Kapital,
erfüllt das Buch gut. Es bietet Unmengen von Zahlenmaterial, dass die
bürgerliche Demagogie widerlegt, Arbeitslose seien zu faul, die Löhne seien zu
hoch.

Dabei deckt Prof. Roth immer wieder auch die Lächerlichkeit mancher
Argumente von „Wirtschaftssachverständigen“ auf. So beklagen sie einerseits,
dass Arbeitslose nicht arbeiten wollten, andererseits führt Prof. Roth bei der
hohen Frauenarbeitslosigkeit ein Zitat des Institutes der deutschen Wirtschaft
an, das vom Bundesverband der deutschen Industrie betrieben wird, im dem
beklagt wird, das zu viele Frauen berufstätig sein wollten und damit den
Arbeitsmarkt „belasten“ (S.77). Auch den Menschen in den neuen
Bundesländern wird angelastet: „Hohe Erwerbsbeteiligung vergrößert
Arbeitslosigkeit“
(Zukunftskommission Bayern und Sachsen, lt. R. Roth,
S.56) Prof. Roth schließt richtig, dass die Arbeiter und Arbeitslosen immer als
Schuldige an der Arbeitslosigkeit angeklagt werden, einmal weil sie angeblich
nicht arbeiten wollen, ein anderes Mal, weil sie zu viel arbeiten wollen.

Oder er zitiert entlarvend den Chef von Nestlé, Helmut Maucher: „Wir
haben mittlerweile, provozierend gesagt, einen gewissen Prozentsatz an
Wohlstandsmüll in unserer Gesellschaft. Leute, die entweder keinen Antrieb
haben zu arbeiten, halb krank oder müde sind, die das System einfach
ausnutzen.“
(S.54 f.)

„Nebensache Mensch“ bietet Material und bereitet es strukturiert auf,
das man in der täglichen Arbeit in Betrieb und Gewerkschaft als
Argumentationshilfe gut verwenden kann.

Allerdings ist es nicht immer neu. Viele Daten und Argumente kennt man
aus gewerkschaftlichen und linken Veröffentlichungen. Neu ist der Versuch, das
Ganze in einem Zusammenhang darzustellen.

Leider ist die Fülle der Daten auch ein Problem. Wenn beispielsweise nacheinander
jeweils in einem eigenen Kapitel dargestellt wird, dass das Kapital Ältere,
Jüngere, Frauen, Schwerbehinderte und alle „Minderleister“ aussortiert und
diese zu „Schuldigen“ der eigenen Arbeitslosigkeit erklärt, dann wiederholt
sich einiges. Eine Zusammenfassung und Straffung hätte dem Buch gut getan.
Manchmal verliert sich der Autor wohl selbst im Gestrüpp seiner Daten. So
wiederholt er auf S.195, was er bereits auf S.187 dargelegt hat: In den USA
wird jeder als nicht arbeitslos gezählt, der irgendeine geringfügige
Beschäftigung hat, sei es auch nur für eine Stunde.

Oder auf S.240 behauptet er, es gebe eine „Explosion von Krediten,
die oft genug leichtfertig vergeben werden.“
Auf S.247 behauptet er ohne
jede Erklärung das Gegenteil: „Um die Profite wieder anzuheben, gehen die
Banken auch härter mit ihren Schuldnern um und treten bei der Kreditvergabe auf
die Bremse.“
Die Realität kann ja nicht beliebig sein!

Schwieriger wird es, wenn Prof. Roth mit der flapsigen Bemerkung „Und
im übrigen ist es auch schön, faul zu sein“
(S.38) ein Recht auf Faulheit
propagiert und damit Angriffsfläche für bürgerliche Argumente bietet. Unklar
und verschwommen ist seine Haltung zu besserer Qualifikation, wenn er z.B.
schreibt: „Auf gesamtwirtschaftlicher Ebene aber ist Qualifizierung sogar
eine Bedingung für höhere Arbeitslosigkeit.“
(S.133) Dabei wirft er denen,
die sich qualifizieren, Egoismus vor: „Andere werden arbeitslos, man selbst
aber nicht.“
Das erscheint etwas simpel. Will er zurück zur
Maschinenstürmerei, als empörte Handweber die ersten mechanischen Webstühle
vernichteten? Qualifizierung für sich ist nicht schuld an höherer
Arbeitslosigkeit. Erst in einem kapitalistischen System wird sie dazu benutzt.
Qualifizierung erhöht die Kompetenzen und Fähigkeiten der Arbeiter, den
Produktionsprozess zu beherrschen und künftig zu leiten. Hier wäre eine
differenziertere, dialektische Betrachtungsweise angebracht gewesen.

 

Marxismus light

 

Prof. Roth versucht, die zahlreichen Daten zu analysieren. Dabei bemüht
er immer wieder die Theorien von Karl Marx. In der UZ vom 24.10.03, der Zeitung
der DKP, schreiben Ekkehard Lieberam und Herbert Münchow dazu: „Es ist Karl
Marx, der dabei zu Wort kommt. Je gründlicher der Leser sich mit dem Buch
vertraut macht, desto größer wird sein Staunen darüber sein, dass Marx nach wie
vor sich als bester Kenner des Kapitalismus erweist und auch hinsichtlich des
Ausweges aus der kapitalistischen Barbarei aktuell geblieben ist.“

Doch leider wird Karl Marx im Buch mit keinem Wort erwähnt. In der
Bibliographie taucht nicht eines seiner grundlegenden Werke auf. Wir wissen
nicht, warum. Angst vor Repression kann es kaum sein, denn selbst bürgerliche
Ökonomen müssen sich immer wieder mit den aktuellen wissenschaftlichen Theorien
von Marx herumschlagen.

Doch der Mangel, sich offen auf Marx zu beziehen, rächt sich. Vieles was
Prof. Roth anspricht wie Wert der Ware Arbeitskraft, Überproduktionskrise,
fallende Profitraten usw., steht bei ihm als ehernes Naturgesetz ohne
ausreichende Erklärung da. Und manchmal wird es direkt falsch.

Beispiel: Ware Arbeitskraft

Prof. Roth spricht immer wieder von der Ware Arbeitskraft und sagt, dass
diese den Mehrwert schaffe, den das Kapital sich aneignet. Das ist sicher
richtig. Doch leider redet er nie darüber, wie sich denn der Wert von Waren
erklärt. Bei der Ware Arbeitskraft kommt er daher zu falschen
Schlussfolgerungen und kann die Entstehung von Mehrwert nicht erklären. Er
postuliert einfach: „Der Lohn muss hierzulande ein Existenzminimum abdecken,
das weit darüber hinausgeht, nur das physische Überleben von einem Tag auf den
anderen zu sichern.“
(S.149)

An anderer Stelle (S.223) meint er:

„LohnarbeiterInnen erhalten mit dem Lohn also nicht den ‚Wert ihrer
Arbeit’, sondern im durchschnitt bestenfalls den Wert ihrer Arbeitskraft, d.h.
die durchschnittlichen Lebenshaltungskosten auf einem jeweiligen Stand
durchschnittlicher Bedürfnisse.“

Warum der Lohn „muss“, wird nicht erklärt. Was der „jeweilige
Stand durchschnittlicher Bedürfnisse“
ist, ebenfalls nicht.

Er kritisiert den Präsidenten der Bundesvereinigung der deutschen
Industrie, Rogowski, der will, dass der Preismechanismus auf dem Arbeitsmarkt
voll zur Geltung kommt (S.144). Nun, der Preismechanismus kommt bei der Ware
Arbeitskraft in dieser Gesellschaft zur Geltung. Wie jede andere Ware
unterliegt sie den Schwankungen des Marktes. Um überhaupt über den Preis der
Ware Arbeitskraft zu reden, müsste man zunächst einmal über ihren Wert reden
und daraus das Geheimnis des Profites erklären.

Marx zu Wert und Preis der Ware Arbeitskraft:

„Ich könnte mit einer Verallgemeinerung antworten und sagen, dass wie
bei allen andern Waren so auch bei der Arbeit ihr Marktpreis sich auf die Dauer
ihrem Wert anpassen wird; dass daher der Arbeiter, was er auch tun möge, trotz
aller Auf- und Abbewegungen, im Durchschnitt nur den Wert seiner Arbeit
erhielte, der sich in den Wert seiner Arbeitskraft auflöst, bestimmt durch den
Wert der zu ihrer Erhaltung und Reproduktion erheischten Lebensmittel, deren
Wert in letzter Instanz reguliert wird durch das zu ihrer Produktion
erforderliche Arbeitsquantum.“

(Marx: Lohn, Preis, Profit,. MEW Bd. 16, S. 147)

Prof. Roth sagt auf Seite 162 zu den Kapitalisten: „Sie selbst
erzeugen überhaupt keine Werte, sondern schöpfen sie nur ab.“
Doch das ist
nicht erklärt, wenn nicht das Geheimnis des Wertes der Ware Arbeitskraft
erklärt ist, wenn nicht erklärt ist, dass die Arbeitskraft selbst weniger Wert
hat, als sie Wert schaffen kann, den Mehrwert. Auch dies wird in Lohn, Preis
und Profit einfach und klar nachgewiesen. Ist der Mehrwert nicht erklärt, kann
auch der Profit und fallende Profitraten nicht erklärt werden.

Marx hat den Fall der Profitrate bereits in Lohn, Preis, Profit, MEW Bd.
16, S. 139 erklärt. Auch das, was der Autor in Kapitel 2 seines Buches lang
ausführt ist nicht neu, nur im Gegensatz zu Karl Marx nicht analysiert, sondern
anhand der Erscheinungsformen aufgezeigt.

Marx noch einmal zum Wert der Ware Arbeitskraft und zum Lohn:

„Allein es gibt gewisse eigentümliche Merkmale, die den Wert der
Arbeitskraft oder den Wert der Arbeit vor dem Wert aller andern Waren
auszeichnen. Der Wert der Arbeitskraft wird aus zwei Elementen gebildet – einem
rein physischen und einem historischen oder gesellschaftlichen. Seine äußerste
Grenze ist durch das physische Element bestimmt, d.h. um sich zu erhalten und
zu reproduzieren, um ihre physische Existenz auf die Dauer sicherzustellen,
muss die Arbeiterklasse die zum Leben und zur Fortpflanzung absolut
unentbehrlichen Lebensmittel erhalten. Der Wert dieser unentbehrlichen
Lebensmittel bildet daher die äußerste Grenze des Werts der Arbeit.“

(Marx: Lohn, Preis, Profit, MEW Bd. 16, S. 147)

Der Lohn im Kapitalismus „muss“ also weder über das
Existenzminimum gehen noch „durchschnittliche Bedürfnisse“ erfüllen.

 

Historischer Materialismus

 

Marx: „Dies historische oder gesellschaftliche Element, das in den
Wert der Arbeit eingeht, kann gestärkt oder geschwächt, ja ganz ausgelöscht
werden, so dass nichts übrig bleibt als die physische Grenze.“

(Marx: Lohn, Preis, Profit, MEW Bd. 16, S. 148)

Dieses kleine Marx-Zitat offenbart den grundlegenden Mangel von Prof.
Roths Werk: Er arbeitet mit Statistiken, mit Daten und Zahlen, aber es fehlt
das „historische oder gesellschaftliche Element“.

Die Profitraten fallen, seit Marx das Mitte des 19. Jahrhunderts
analysiert hat, durch die fortschreitende technische Entwicklung. Dabei gibt es
immer wieder Phasen der relativen Ruhe und Phasen der stürmischen Entwicklung.
Die derzeitigen hemmungslosen Angriffe des Kapitals auf die Arbeiterklasse
lassen sich nicht allein aus dem Fall der Profitraten erklären, wie der Autor
das versucht. Tatsächlich ist der Fall der Profitraten nur ein – wenn auch
wichtiger – Aspekt. Die Angriffe müssen auch historisch und gesellschaftlich erklärt
werden.

Die sozialen Errungenschaften, die jetzt angegriffen und demontiert
werden (z.B. Renten- und Krankenversicherung), hat die Arbeiterklasse im
19.Jahrhundert und zu Anfang des 20. Jahrhunderts erkämpft, in einer Zeit
stürmischer technischer Entwicklung und damit eines entsprechenden Falls der
Profitrate. Aber es gab damals „historische“ Umstände, nämlich eine ebenso
stürmisch wachsende und stärker werdende Arbeiterbewegung, die das Kapital in
Rechnung stellen musste.

Heute sieht die Lage schlechter aus. Die Arbeiterbewegung ist schwach
und wenig entwickelt. Dies hat „historische“ Gründe. Der Sozialismus wurde
zerstört! Mit der Entartung der ersten Versuche, eine andere Gesellschaft
aufzubauen, wurde die Arbeiterbewegung in einem jahrzehntelangen Prozess
geschwächt. Sie ist zersplittert und sozialdemokratisch dominiert. Eine starke,
in der Arbeiterklasse verankerte kommunistische Partei gibt es nicht. Die
Gewerkschaftsführungen stehen auf der Seite des Kapitals, wie auch der Autor
immer wieder andeutet. Hier wären Fragen, die gestellt und beantwortet werden
müssten, wenn man aus der „Nebensache Mensch“ die Hauptsache Mensch machen
will. Dann würde das Werk allerdings auch nicht mehr den ungeteilten Beifall
all derer finden, die auf unterschiedliche Weise mit verantwortlich für den
Niedergang der Arbeiterbewegung sind.

Dann könnte sich der Autor auch nicht mehr mit moralischen Appellen an
die Arbeiterklasse begnügen, sie sollten nicht über die Faulheit der
Arbeitslosen schimpfen (S.37), die Arbeitslosen sollten nicht „sich selbst
fertig“
machen (S.40), sie sollten sich „zur Wehr setzen“, sie
sollten nicht die nationale „Konkurrenz anheizen“ (S.138). Moralische
Aufrufe dieser Art findet man in jedem Kapitel. Doch es fehlt eine Analyse, wie
und unter welchen Umständen die Arbeiterklasse kämpft, und was nötig wäre, um
diese Aufrufe zu erfüllen. Dazu müsste sich der Autor u.a. mit der Situation in
den Gewerkschaften auseinandersetzen. Doch er klagt nur, dass die
Gewerkschaftsführungen mit dem Kapital zusammen arbeiten. Manchmal wird das
unscharf und er klagt sogar nicht die Führungen, sondern pauschal die
Gewerkschaften an. Das bringt nichts. Die Arbeiterklasse braucht
Gewerkschaften! Es wäre zu klären, was für welche und was man unter den
gegebenen Umständen tun muss, um das zu erreichen. Dann müsste sich der Autor
mit sektiererischen Positionen auseinandersetzen, die jede ernsthafte Arbeit in
den Gewerkschaften ablehnen, und mit opportunistischen Positionen z.B. der DKP,
die jede ernsthafte Auseinandersetzung in den Gewerkschaften scheut. Auch dann
würde das Buch anecken und nicht überall Beifall finden.

 

Perspektivlos

 

Das Buch ist in mehrfacher Hinsicht perspektivlos. Die Arbeiterklasse
wird nur als Objekt moralischer Appelle angesehen, nicht jedoch als handelndes
Subjekt. Ihre objektiv wachsende Macht kommt nirgendwo zur Sprache. In der „Erklärung
der Organisation für den Aufbau einer kommunistischen Arbeiterpartei
Deutschlands“
haben wir festgestellt:

„Trotz der sinkenden Arbeiterzahl nimmt die Bedeutung der Arbeiterklasse
für die Volkswirtschaft zu.

+ Das Qualifikationsniveau der
Gesamtarbeiterklasse stieg erheblich. Durch ihre gewachsenen Fähigkeiten ist
die Arbeiterklasse objektiv gesehen heute mehr als früher schon in der Lage,
die Produktion in ihre Hände zu nehmen und zu leiten.

+ Die Produktivität der Arbeit ist drastisch
angestiegen. Eine kleiner werdende Zahl von Arbeiterinnen und Arbeitern schafft
immer mehr gesellschaftlichen Reichtum, der jedoch privat vom Kapital
angeeignet wird. Damit ist auch die Macht und die Bedeutung der Arbeiterklasse in
der Produktion und der Gesellschaft objektiv gestiegen.

+ Die Veränderungen in der modernen Produktion
wie „Just-in-time”, Flexibilisierung, „atmende Fabrik” usw. haben die Bedeutung
und Macht der Arbeiterklasse ebenfalls erhöht. Selbst kurze Störungen der
Produktion können zur Stilllegung ganzer Industriezweige führen.“

Wer die Arbeiterklasse durch die Brille der Statistik weitgehend nur als
Objekt sieht, kann die Bedeutung, die sie real hat, nicht wahrnehmen. Er muss
sich dann mit moralischen Appellen behelfen. Wir schätzen diesen guten Willen,
doch er ist nicht materialistisch. Die weitgehende Beschränkung auf ökonomische
Fakten, das Vergessen der historischen Dimension führt zu einem neuartigen
Ökonomismus.

Besonders deutlich wird die Perspektivlosigkeit in dem Schlusswort, dass
den Perspektiven gewidmet ist. Der Autor meint offensichtlich den Sozialismus,
wenn er schreibt: „Die Verhältnisse, in denen die Menschen das erreichen,
was sie wollen, müssen erst noch geschaffen werden.“
(S.594) Doch er schweigt
zu all den reichen Erfahrungen, die die Menschen mit dem Sozialismus, aber auch
mit seiner Entartung haben. Heute kämpfen die fortgeschrittenen Menschen, die
sich überhaupt mit dem Ziel einer anderen Gesellschaft beschäftigen, – und das
ist gut so – nicht mehr einfach für „den Sozialismus“. Sie wollen wissen, wie
die Fehler und Mängel des ersten Versuches behoben werden können. Sie wollen
nicht irgendwelche weichen Phrasen von einer besseren Gesellschaft, sondern
harte, unbequeme Wahrheiten und Fakten. Sie wollen ernstzunehmende
Perspektiven! Es ist nicht zufällig, dass die DKP ausgerechnet dieses
Schlusswort in Auszügen in ihrer Zeitung veröffentlicht und überschwänglich
lobt. Dieses Kapitel steht in keinem Widerspruch zu den Illusionen der
„antimonopolistischen Demokratie“, die die DKP weiter anstrebt. Hier wird eine
konturlose „andere Gesellschaftsordnung“ gepredigt. Dieses Kapitel steht auch
nicht in Widerspruch zu der „Geschichte“ der DKP, die jahrzehntelang die
Entartung des Sozialismus beschönigte und rechtfertigt und die heute noch Korea
und China als sozialistische Staaten anpreist. Wir verlangen von Prof. Roth
keineswegs, dass er sich mit allen anlegt. Das ist seine Entscheidung! Doch
dadurch verfehlt das Buch seine hohen Ansprüche. Es bleibt ein Quell wichtiger
Daten und Fakten für die betriebliche und gewerkschaftliche Arbeit.

Prof. Rainer Roth, „Nebensache Mensch“, DVS – Digitaler
Vervielfältigungs- und Verlagsservice, Frankfurt/M. 2003, 608 Seiten, 15 Euro,
ISBN 3-932246-39-X

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