Aus der Arbeit der Roten Hilfe: Ein Statement aus dem Knast

Im folgenden dokumentiert die Rote Hilfe eine Erklärung von Gefangenen nach dem Nato-Gipfel in Strasbourg:

„Im Gefängnis geht alles nicht so schnell. Wenn man einen Brief
schreiben will, müssen erstmal Briefmarken und Papier bestellt werden.
Dafür braucht es Geld. Und auch wenn dir Geld zur Verfügung steht, kann
es dauern bis die bestellten Dinge da sind. Alle Briefe werden geöffnet
und wahrscheinlich gelesen, dass braucht auch seine Zeit. Informationen
gelangen nur sehr langsam herein und heraus. – Und so melden wir uns
erst jetzt zu Wort …

1,2,3 und du bist nicht mehr frei!
Als die NATO am 3. und 4. April 2009 ihren Geburtstag feiern wollte,
war sie nicht allein. Zehntausende Menschen fuhren nach Frankreich, um
gegen das Kriegsbündnis auf die Straße zu gehen. Tausende deutsche und
französische Polizist/innen waren im Einsatz. Das Schengener Abkommen
wurde außer Kraft gesetzt und die Stadtzentren von Baden-Baden und
Straßburg wurden abgeriegelt. Viele Menschen bekamen Einreiseverbote
nach Frankreich und umliegende Länder. Bereits zwei Tage vor dem Gipfel
wurde eine ganze Demonstration bei Straßburg eingekesselt und
verhaftet, welche sich gegen die tödliche Polizeigewalt beim G20-
Gipfel in London gerichtet hatte. Vor der Masseningewahrsamnahme wurden
die Menschen mit Tränengasgranaten und Gummigeschossen durch einen Wald
gehetzt. So wurden zwei Menschen die sich im Wald völlig ruhig
verhalten hatten mit Gummigeschossen angegriffen. Dabei wurde der
Mindestabstand von fünf Meter weit unterschritten, was tödliche
Verletzungen zur Folge haben kann. Eine erste medizinische Versorgung
der Wunden wurde z. T. erst am nächsten Morgen gewährt. Die nächsten
Tage verliefen ähnlich: über 350 Menschen wurden willkürlich in
Gewahrsam genommen und mussten zum Teil mehrere Nächte in überfüllten
Sammelzellen verbringen, ohne Essen und teilweise verletzt. Die meisten
Menschen wurden wieder frei gelassen, nur einige wenige traf die
Polizeiwillkür besonders hart: Neun Menschen sind seit mittlerweile
einem Monat im Knast. Wir, die wir diesen Text schreiben, sind einige
davon.

Justiz im Auftrag des Präsidenten
Dass ausgerechnet wir hier sind, ist reiner Zufall – jede/n hätte es
genauso treffen können. Die Medien ereiferten sich über Randalierer.
Präsident Sarkozy forderte öffentlich, die Täter so hart wie möglich zu
bestrafen. Polizei und Justiz standen unter dem Druck, „Erfolge“ ihrer
Arbeit zu präsentieren, als zwei Tage nach dem Gipfel die
Schnellverfahren stattfanden. So ging es bei den Prozessen im
Wesentlichen nicht um die konkreten Tatvorwürfe. Die Urteile
orientierten sich stark an den Plädoyers des Staatsanwaltes, dessen
Argumentation stützte sich zum großen Teil auf Vermutungen und
Behauptungen ohne jede Beweiskraft. Es wurde erst gar nicht versucht
den Eindruck eines fairen Verfahrens zu erwecken. Es handele sich um
einen „Professionellen“ der „vor Gericht Reden hält“, so der
Staatsanwalt über einen der Angeklagten. Als Beweis reichte ihm die
Aussageverweigerung bei der Polizei und die große Distanz, die der
Beschuldigte zurück gelegt hatte, um an den Protesten teilnehmen zu
können. Einer weiteren Person wurde die Mitgliedschaft in der
„Organisation Black Block“ vorgeworfen. Das Gericht musste sich erst
darüber aufklären lassen, dass es eine solche Organisation gar nicht
gibt. Es ging hier eindeutig darum, medienwirksam ein abschreckendes
Exempel zu statuieren. Die Äußerungen Sarkozys hatten uns schon im
Vorfeld Schlimmes befürchten lassen. Die Strafen und die Härte der
Urteile überraschten auch unsere Rechtsanwälte, da es sich um ein
Vielfaches des gewöhnlichen Strafmaßes handelte – selbst wenn alle
Anschuldigungen wahr gewesen wären. Drei Menschen wurden zu Haftstrafen
mit sofortigem Haftantritt verurteilt. Zwei Menschen gingen in
Berufung. Einige weitere Personen bekamen Bewährungsstrafen. Ein
Deutscher, der zu 3 Monaten Haft ohne Vollzug verurteilt worden war,
wurde ohne ersichtlichen Grund für 48 Stunden in einen Abschiebeknast
gesteckt, bevor er an der wenige Kilometer entfernten Grenze den
Behörden der Bundespolizei übergeben wurde. Die sechs anderen hier
Einsitzenden hatten bisher keinen Prozess. Vier davon werden am 5. Mai
vor Gericht stehen – ein weiterer Fall von Gesinnungsjustiz ist zu
erwarten. Zwei sitzen vorerst vier Monate in U- Haft. In der populären
Straßburger Tageszeitung „DNA“, die wir hier zu lesen bekommen, sollte
der Eindruck erweckt werden, dass die „Schuldigen“ der Ausschreitungen
vom 4. April zu „gerechten Strafen“ verurteilt wurden. So wurden gezielt
Informationen unterschlagen, etwa dass drei der Angeklagten bereits
zwei Tage zuvor festgenommen wurden. Außerdem wurden Zitate aus den
Verhandlungen in völlig falschen Kontexten wiedergegeben. Die Zeitung
druckte auch die vollen Namen und Wohnorte der Verurteilten aus der BRD
ab. In einem anderen Fall wurde über einen Angeklagten berichtet, der
einen Polizisten gebissen haben soll und behauptete, er habe AIDS. Dazu
wurde ein Foto veröffentlicht, dass einen Angeklagten vom Vortag zeigt.
Dieser hatte jedoch nichts mit den Vorwürfen zu tun. In der Wirkung ein
reiner Rufmord, zumal 90% der hier Inhaftierten die „DNS“ lesen.

Die Brandstifter als Friedensstifter
Bei der Medienberichterstattung über die Proteste, soweit wir sie hier
mitbekommen konnten, war die berechtigte Kritik an der NATO- Politik
völlig aus dem Blick geraten oder wurde gezielt weggelassen. Statt
dessen wurden die beteiligten Politiker/innen als Friedensstifter/innen
dargestellt. Der „60. Geburtstag“ des Kriegsbündnisses wurde
medienwirksam gefeiert und als eine Art Gala der Wohltätigen der
westlichen Welt verklärt. Dabei steht die NATO, fast zwei Jahrzehnte
nach Ende des Kalten Krieges, wie kein anderes Militärbündnis für
Aufrüstung, für die Herstellung von mehr und noch „besseren“ Waffen und
für immer mobilere Armeen, die jederzeit und überall die
Machtinteressen der Herrschenden durchsetzen können. Der aktuelle
Vorwand kann sich ändern, die Palette reicht hierbei von der
sogenannten Durchsetzung von Menschenrechten, der Jagd auf Terroristen
oder aktuell der Kampf gegen die Piraten von Somalia. Die wahren Gründe
für Interventionen bleiben die gleichen: Ausweitung der freien Märkte, Rohstoff – und Ressourcensicherung, sowie
geopolitisches Machtkalkül. Einige der am NATO- Gipfel Beteiligten sind
für tausende Tote auf der ganzen Welt verantwortlich. Der Irak und
Afghanistan sind hierbei nur die populärsten Beispiele. Das mit hoher
Wahrscheinlichkeit auf dem Gipfeltreffen diskutierte NATO-
Strategiepapier „ Zu einer Gesamtstrategie in einer ungewissen Welt-
Die transatlantische Partnerschaft erneuern“ zeigt nicht nur ganz klar
die zukünftigen Kriegsschauplätze des Nordatlantik Paktes auf, es nennt
auch noch ungeniert die oben bereits erwähnten wirtschaftlichen Gründe
für eine militärische Präsenz. Hier wird insbesondere die Bedeutung
Afrikas in Bezug auf Ressourcenknappheit, Klimawandel und
Migrationskontrolle hervorgehoben. Aktuelle Fragestellungen des 21.
Jahrhunderts sollen mit Hilfe einer neuen, gemeinsamen Militärstrategie
gelöst werden. Es bedarf also keines großen Rechercheaufwands um die
NATO als Kriegstreiber in der Pose einer Weltpolizei zu überführen.
Umso skurriler erscheint das produzierte Medienbild. Völlig verzerrt,
werden auf der einen Seite die NATO- Staaten als „Friedensstifter“
dargestellt und auf der anderen Seite die Demonstranten/innen als
Gewalttäter/innen diffamiert. Das Problem der strukturellen Gewalt
eines Kriegsbündnisses wird komplett ausgeblendet. So ist es nicht
verwunderlich das Kriege relativiert und mit den Ausschreitungen in
Straßburg verglichen werden. Brennende Barrikaden können dann schon
einmal mit den Bildern des zerstörten Beiruts gleichgesetzt werden. So
gerät eine freie Berichterstattung zur Farce. Egal was man nun von den
Ausschreitungen hält, das Verhalten der Medien legt nur einen Schluss
nahe, es soll von den wahren Brandstiftern, in Form der NATO, abgelenkt
werden.


Im Knast….
Irgendwie sind wir im Knast weit weg von der Welt und doch mittendrin.
Das klingt paradox, doch vor allem hier drin werden die negativen
Aspekte unserer Gesellschaft deutlich. Staatlicher Rassismus und totale
Kontrolle sind nicht nur Phänomene innerhalb der Knastmauern.
Abschiebung, Erfassung biometrischer Daten, Videoüberwachung und das
Ausschnüffeln der Privatsphäre sind nur einige Beispiele die auch in
der sog. Freiheit allgegenwärtig sind. Auch Methoden zur
Widerstandsbekämpfung gibt es im Knast. So wurde die Polizeieinheit
„IRISSE“ allein aus dem Grund der Aufstandsbekämpfung gegründet.
Zuletzt wurde diese Anfang April im Gefängnis von Mulhouse eingesetzt.
Hier wollten Gefangene nach dem Hofgang nicht zurück in ihre Zellen.
Die Beamten sind wie die Cops auf der Straße und bei Demos, mit Tasern,
Knüppeln und Tränengas ausgestattet. Die meisten Gefangenen, denen wir
hier begegnen, sitzen wegen kleinen Delikten ein. Benutzung falscher
Papiere um nicht abgeschoben zu werden oder arbeiten zu können. Alkohol
am Steuer. Diebstahl und Etikettenschummel, Besitz von kleinen Mengen
Drogen. Viele kamen wie wir per Schnellverfahren direkt in den Knast,
für Monate oder gar Jahre. Die meisten sind jung, mit migrantischem
Hintergrund und aus den Banlieues. Viele erzählen uns das
„Ausländer/innen“ immer die härtere Strafe bekommen. Als Gefangene/r
lebt man nicht völlig schlecht. Die Grundbedürfnisse wie Essen, Wärme,
Bewegung, Kontakt zu anderen Menschen sowie medizinische Versorgung
werden einigermaßen erfüllt- zumindest so lange du dich normgerecht
verhältst. Alles hier ist portioniert und rationiert. Es fängt beim
Essen an, geht bei der Zeit auf dem Hof weiter und hört bei den
spärlichen Informationen keines Falles auf. Manche Schließer sind
scheiße, andere weniger, aber immer ist man abhängig von ihnen,
jederzeit haben sie unbegrenzte Zugriffsrechte, immer besteht die
Möglichkeit, beobachtet zu werden, immer kann es für unangepasstes
Verhalten Disziplinarstrafen geben. Dieses totalitäre System, dass
allen Knästen innewohnt beruht auf der Macht der Überwacher und der
Ohnmacht der Überwachten. Unsere Freiheiten hier bestehen z. B. darin,
zum Gottesdienst zu gehen oder nicht, zum Hofgang zu gehen oder nicht.
Schon beim Duschen hört die Freiheit auf. Wer dreimal nicht zu
vorgeschrieben Zeiten duschen geht, kommt in die Arrestzelle in den
Keller. Auch die Wassertemperatur ist nicht frei wählbar und damit
Glückssache. Wer Geld hat, hat noch ein paar weitere Freiheiten:
nämlich die Wahl, dieses oder jenes zusätzlichen Essens oder einige
andere Konsumgüter zu kaufen. Mindestens 100 Gefangene haben kein Geld
und können sich noch nicht einmal Seife oder Briefmarken kaufen. Sie
sind auf die Almosen der Sozialarbeiter und Seelsorger angewiesen. Doch
auch das sind nur Tropfen auf den heißen Stein. Im Knast in Straßburg
sitzen über 700 Gefangene, bei einer eigentlichen Kapazität von 450
Plätzen. Um die chronische Überfüllung möglich zu machen, werden in die
meisten Einzelzellen einfach Doppelstockbetten gestellt. So teilen sich zwei Personen etwa 9 qm – einschließlich Toilette. Die Überbelegung ist
aber keine Straßburger Besonderheit. Frankreich weit saßen in 200
Gefängnissen am 1. April 63.521 Menschen im Knast. Die Gesamtkapazität
beträgt dagegen nur 52.535 Plätze. In der BRD scheint es nicht anders
zu sein: Im März diesen Jahres musste z. B. die Justizministerin von
NRW einräumen, dass die Haftbedingungen, unter anderem wegen der
Überfüllung, teilweise menschenunwürdig seien.



Solidarität yeah!
Das Solidarität hilft, können wir hier drin wirklich erleben. Nicht nur
die Gefangenen der Proteste, sondern auch die vielen anderen helfen
sich gegenseitig mit Infos, mit Süßigkeiten, mit Zuhören, mit Rat und
Tat und das tut gut. Wir freuen uns über die vielen
Solidaritätsbekundungen in den verschiedenen Städten. Über all die
Menschen, die uns öffentlich, privat und praktisch den Rücken stärken.
Wenn die gegen uns verübte Willkür und Gewalt überall, über Grenzen
hinweg Menschen auf die Straße und zusammen bringt, dann geht das
geplante Exempel, das die Mächtigen an uns statuieren wollen, nach
hinten los. Wir freuen uns sehr, wenn jetzt in Frankreich und in der
BRD und vielleicht darüber hinaus eine Vernetzung entsteht, ein
Netzwerk der Antirepression,dass noch länger Bestand hat. Darum gilt
nach wie vor: Solidarität muss praktisch, in Zukunft aber vor allem
grenzübergreifend werden!

Einige Gefangene aus Straßburg – Straßburg, den 29.04.2009″

Solidarität hilft siegen – Werdet Mitglied der Roten Hilfe e.V.!

Anm. der Red: über den Ausgang des Prozeßes am 5. Mai war uns bis Redaktionsschluss nichts bekannt.