Kein Gesetz auf Bundesebene scheint so viel Aufmerksamkeit im Zuge der Wahlen bekommen zu haben, wie die Schuldenbremse. Die Vehemenz, mit der die Befürworter und Gegner über die Schuldenbremse diskutierten, erweckte den Anschein, dass alle sozialen Probleme direkt oder indirekt vom Schicksal dieses Gesetzes abhängen würden. Die Schuldenbremse wurde zwar nicht abgeschafft. Doch sie wurde gelockert. Anders als die meisten ihrer Gegner wohl forderten und ihrer Anhängerschaft glauben machten. So viel anders kam es sogar, dass die Gegner von links sich mit ihrer inhaltlichen Begrenzung auf die Schuldenbremse dabei selbst enttarnten. Sie haben dabei alles auf eine Karte gesetzt und verloren. Es ist jedoch nicht zu spät aus dieser Erfahrung zu lernen und die richtigen Schlussfolgerungen für die kommenden Kämpfe zu ziehen. Warum die bisherigen oppositionellen Einordnungen der Schuldenbremse dabei nicht ausreichen und wir den Fokus verschieben müssen, wollen wir in diesem Artikel klären.
Ein temporäres Werkzeug des deutschen Imperialismus
Die Schuldenbremse wird in den Artikeln 109 und 115 des Grundgesetztes geregelt. Sie ist also fest in die deutsche Verfassung geschrieben und soll die sogenannten Maastricht-Regelungen hierzulande umsetzen. Bereits in den 1990er Jahren wurden auf EU-Ebene Grenzen für die Neu- und Gesamtverschuldung der Mitgliedsstaaten verabschiedet. Die Regelungen in Deutschland sind sogar noch strikter, weshalb die deutsche Ausprägung der Maastrichtkriterien einzigartig ist.[1] Die Nettokreditaufnahme zur Finanzierung des Bundeshaushalts darf nicht mehr als 0,35 Prozent des BIPs übersteigen, wenn keine „Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen“ auftreten. Tatsächlich konnte Deutschland die Schuldenquote bis einschließlich 2019 einhalten. In der Corona-Pandemie, die als außergewöhnliche Notsituation bewertet wurde, setzte die Bundesregierung die Schuldenbremse faktisch aus. Ferner wurde über Umwege – in Form von sogenannten Sondervermögen mit „eigener Kreditermächtigung“ – die Schuldenbremse übergangen. Das Sondervermögen Bundeswehr von 2022 und das Sondervermögen Infrastruktur von 2025 ermöglichen eine Kreditaufnahme, die nicht in den regulären Haushalt aufgenommen ist.[2]
Die deutsche Schuldenbremse und ihre EU-Variante werden in bürgerlichen Medien und Artikeln, von liberaler bis konservative Seite, als Bollwerk und Gegenmittel gegen zu hohe Verschuldungen der entsprechenden Mitgliedsstaaten gelobt. Dabei ist die Schuldenbremse weniger dem Erfindungsreichtum deutscher Bürokraten geschuldet, als vielmehr der spezifischen Situation des deutschen Imperialismus in den wirtschaftlichen und geopolitischen Grenzen der EU. Bereits 2009 wurde sie beschlossen und 2011 eingeführt, inmitten der in der EU sich ausbreitenden Krise. Für die Regierung in Berlin hatte die Einführung der Schuldenbremse eine doppelte disziplinierende Funktion. Zum einen wurde parallel zur deutschen Situation ein EU-Instrumentarium eingesetzt, um hochverschuldete Länder wie Portugal, Italien, Griechenland oder Spanien dazu zu drängen, nach dem deutschen Vorbild ebenfalls strikte Sparprogramme durchzuführen. Kredite gab es nur zu hohen politischen Kosten. In den südlichen Ländern wurde ein beispielloser Sozialkahlschlag durchgeführt. Als bequemer Nebeneffekt wurde dem deutschen Imperialismus Zugriff auf Kapital in diesen Ländern gewährt. Das prominenteste Beispiel ist wohl der Aufkauf von 14 griechischen Flughäfen durch Fraport.
Zum anderen signalisierte der deutsche Staat seiner Bevölkerung durch seine strikte Fiskalpolitik, dass es zukünftig weniger Geld für die Finanzierung kaputtgesparter sozialer Bereiche geben wird. Dass die Schuldenbremse im Grundgesetz steht, nötigt, wenn auch in aller erster Linie symbolisch, der deutschen Bevölkerung Verfassungstreue in Form von Verzicht ab. Zwar wurde bereits in den Jahren vor der Einführung der Schuldenbremse eine massive Kürzungspolitik durchgeführt, die sich nach den Krisenjahren um 2008-09 nicht grundsätzlich verschärft hat. Doch konnte jetzt sogar mit dem Verweis auf die Weltwirtschaftskrise die Kürzungspolitik in den Köpfen der Werktätigen zum alternativlosen Modell verklärt werden.[3] Die Begründung für die Schuldenbremse ist dabei stets gewesen, die Schulden zu begrenzen, um die Lasten für die kommenden Generation zu minimieren, die mit einer höheren Verschuldung einhergehen würden. Wir werden hier auf dieses Argument eingehen. Bis hierhin sei jedoch unterstrichen, dass die Schuldenbremse zumindest temporär dem deutschen Kapital innen- sowie außenpolitisch einen gewissen Vorteil verschafft hat. Einige Seiten sind symbolischer Natur, wohingegen andere Seiten – wie die Ausplünderung ganzer „Nachbarn“ – eine praktische Konsequenz der strikten nicht nur auf Deutschland begrenzten Sparprogramme darstellen.
Schuldenbremse contra Kriegsvorbereitung?
Für die imperialistischen Zentren hat sich die globale Ausgangslage beginnend mit der Krise von 2020-21 und dem Ukrainekrieg von 2022 fortführend bis heute spürbar verändert. Die strikte Kürzungspolitik im Verbund mit geringen staatlichen Investitionsquoten konnte unter den neuen Vorzeichen nicht bedingungslos eingehalten werden. Allmählich wurden in den westlichen Zentren Maßnahmen ergriffen und zumindest verbal antizipiert, die eine stärkere staatliche Interventionspolitik für die Kapitale ermöglichen sollen. Der Inflation Reduction Act unter Biden, die Zollpolitik unter Trump, die Schuldenaufnahme der Ampelregierung und das Infrastrukturprogramm der Merz-Regierung und schließlich die Ankündigung Macrons eine zukünftige französische Kriegswirtschaft entwickeln zu wollen, verdeutlichen eine allgemeine Tendenz: die großen und größten Player in der Welt versuchen mit staatlichen Investitions- und Subventionsprogrammen einerseits direkt die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Kapitale zu verbessern und andererseits die Infrastruktur und Produktion militärisch umzurüsten, um wiederum indirekt den Wettbewerbsdruck im Zweifelsfall mittels Krieg abzubauen.
Der deutsche Imperialismus ist im Gegensatz zu seinen Konkurrenten und Verbündeten in einer größeren Zwangslage. Nicht nur muss er sein Kapital durch staatliche Investitionen in Forschung und Produktion absichern. Er muss auch gleichzeitig massiv aufrüsten und eigenständige militärische Kapazitäten aufbauen, die ihm bisher im direkten Vergleich zu Washington und Paris fehlen. Die mögliche zukünftige Abnahme der militärischen US-Präsenz und ihrer Finanzierung in Europa, erhöhen den Druck auf Berlin die NATO-Ziele über zu erfüllen. Doch trotzdem tragen sie auch der Notwendigkeit des deutschen Kapitals Rechnung unabhängiger vom großen US-Bruder zu agieren.
Die Schuldenbremse ist vor diesem spezifisch deutschen Hintergrund zumindest teilweise antiquiert. Hierbei sind zwei Seiten zu betrachten. Erstens hält der deutsche Staat die aus dem laufenden Haushalt finanzierten Verteidigungsausgaben bisher prozentual stabil bei ca. 10-11 Prozent des regulären Haushaltes.[4] Dazu werden jährlich aus dem Sondervermögen Bundeswehr die restlichen Milliarden finanziert, um das Zwei-Prozent-Ziel der NATO zu erfüllen. Um flexibel genug in der Zuweisung der Haushaltsmittel zu bleiben, behält sich die herrschende Klasse die Option offen, den Haushalt in absoluten Zahlen zu vergrößern.
Zweitens erfordert eine Lockerung der Schuldenbremse nur eine einmalige Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag, wohingegen ein regelmäßiges Auflegen neuer Sondervermögen auch jedes Mal einer solchen Zwei-Drittel-Mehrheit bedarf, wobei die Höhe des Sondervermögens im Vorhinein festgeschrieben ist. Der alljährliche Beschluss des Bundeshaushalts erfordert nur eine einfache Mehrheit. Der jedesmalige Beschluss von Sondervermögen führt also zu technischen Hürden und damit zu einer unnötigen gesetzlichen Selbstbegrenzung des deutschen Imperialismus. Daher war der Zeitpunkt der Grundgesetzänderung vor der Konstituierung des aktuellen Bundestages entscheidend. Hätte der deutsche Imperialismus länger gewartet, wäre eine solche Lockerung vielleicht gar nicht zustande gekommen. Und falls sie doch zustande gekommen wäre, so nur unter noch größeren Hürden und mit größerem Aufwand.[5]
Die politischen Entscheidungsträger haben also den Weg frei gemacht, unbegrenzte Aufrüstung aus dem regulären Haushalt zu ermöglichen. Gleichzeitig sendet die Lockerung der Schuldenbremse, wie auch ihre damalige Einführung, zwei Signale, nach innen und nach außen. Der deutsche Imperialismus lässt seinen Worten einer militärischen Führungsmacht in Europa und der Welt Taten folgen. Das Sondervermögen Bundeswehr von 2022 war kein einmaliger Ausflug in die militärische Hochrüstung. Es markiert den Beginn einer zunehmenden und allumfassenden Kriegsvorbereitung, die nun schließlich auch indirekt durch eine Änderung ins Grundgesetz festgeschrieben wurde.
Die Bevölkerung hierzulande wird mit der Politik konfrontiert, dass Geld zwar da ist, dass dieses Geld jedoch im Zusammenhang mit der Hochrüstung stehen müsse. Wenn Geld da ist oder es sich geliehen wird, dann muss es entweder direkt in die Rüstung fließen oder indirekt die Kriegsvorbereitung unterstützen. Das für die Rüstung kreditfinanzierte Haushaltsbudget wird früher oder später von den Werktätigen entweder durch höhere Steuern oder durch Kürzungen in anderen Bereichen bezahlt. Die Zinslast lastet auf den Rücken der Werktätigen hierzulande bereits und nimmt mit der Lockerung der Schuldenbremse und dem Sondervermögen Infrastruktur weiter zu. Die Zinsen für deutsche Staatsanleihen steigen durch die Lockerung der Schuldenbremse und damit auch die Lasten der Arbeiterklasse.
Eine Ablenkungsdebatte
Die Debatte um die Schuldenbremse hat insbesondere sozialreformerische Kräfte in eine Situation gebracht, wo sie der Lockerung zum Zwecke der Aufrüstung sogar zustimmen, wie am Wahlverhalten der Linkspartei-Mitglieder des Bundesrates zu beobachten war. Die Begrenzung der Debatte auf die technischen Hürden der Schuldenbremse seitens Linkspartei, linksliberaler und sozialreformerischer Intellektueller und Protagonisten hat das Wesen der eigentlichen Debatte vollkommen entkernt. Die Frage ist dabei nicht, welche Menge an Mitteln ein bürgerlicher Staat zur Verfügung hat, um eine konkrete Finanzierung zu bewerkstelligen. Die Frage ist, von wem der Staat das Geld nimmt und wofür er es einsetzt.
Dabei sagt die Lockerung dieser oder jener Finanzierungshürde noch nichts darüber aus, für was der Staat Geld bereitstellt und ausgibt. Die höhere steuerliche Last für Reiche würde ebenfalls noch nichts darüber aussagen, wofür der Staat Geld bereitstellt und ausgibt. Umgekehrt sagt die Verteilung des Etats noch nichts darüber aus, wie und von wem das Ganze finanziert werden soll. Es gibt Zeiten, wie in der Vorkriegs- und Kriegszeit, in der die steuerlichen Abgaben der herrschenden Klasse auffällig hoch ausfallen können, wobei die Gelder für die Kriegswirtschaft bereitgestellt werden.[6]
Die Antwort auf die obige Frage ist nicht abstrakt, sondern eine konkret-politische. Der deutsche Imperialismus ist flexibel genug, eine andere Antwort zu finden, d.h. in bestimmten Phasen wird er selbst die Steuerlast für die höchsten Einkommen erhöhen, um gewaltige Ausgaben decken zu können. Beide sozialreformerischen Ansätze, die bloße Frage nach den steuerlichen Abgaben einerseits und die Forderung nach Schuldenaufnahme andererseits ignorieren den Klassencharakter des Staates. Wie wir oben bereits gesehen haben, gibt der Staat dort Geld aus, wo er die Gesamtbedingungen des deutschen Kapitals verbessert.
Die Modern Monetary Theory (MMT) ist dabei nur ein Extremfall einer völligen Ignoranz gegenüber den Klassenverhältnissen und dem Klassencharakter des Staates. Die Idee hinter der MMT ist im Grunde die Nutzung der technischen Möglichkeiten der Geldschaffung und -beschaffung durch die Zentralbank. Durch dieses Geld sollen bspw. Infrastrukturprojekte finanziert und damit Arbeitsplätze geschaffen werden bis irgendwann Vollbeschäftigung entsteht. Dadurch stiege die Kaufkraft, das Wachstum vergrößere sich und der Staat könne in Zeiten der Wachstumseinbrüche höhere Steuern verlangen. Da die Produktion nach dieser Logik hochgefahren wird, entstünde auch keine Inflation. Der Staat hängt mit einer unabhängigen Zentralbank außerdem weniger von der Gunst privater Gläubiger ab.[7]
Was die MMT nicht berücksichtigt, ist der bürgerliche Staat mit seinen Klasseninteressen. Warum sollte der bürgerliche Staat mit der gezielten Vergrößerung des staatlichen Sektors der herrschenden Klasse gegenüber in Konkurrenz treten? Der bürgerliche Staat würde sich selbst negieren, indem er gegen die gemeinsamen Grundinteressen der Klasse handelt, in dessen Dienst er ja überhaupt erst besteht. Mehr Geld entscheidet nicht darüber, wofür ein Staat dieses ausgibt. Die MMT lenkt als extreme Vertreterin sozialreformerischer Ideologie von der einzigen schlagkräftigen Waffe für eine Verbesserung der Lebensbedingungen der arbeitenden Klasse ab. Nicht die Notenpresse der Zentralbank, sondern der Klassenkampf der werktätigen Bevölkerung kann den Druck auf jene erhöhen, die den von der Mehrheit geschaffenen Reichtum zum Zwecke ihrer eigenen Privatinteressen nutzbar machen.
Dieser Staat ist nicht auf unserer Seite
Die Diskussion um die Schuldenbremse ist in ihrer jetzigen Form eine Ablenkungsdebatte. Der Kern des Problems wird umgangen. Nicht die technischen Möglichkeiten oder Begrenzungen sind es, die den bürgerlichen Staat zu einem besseren oder schlechteren Staat machen. Die Werkzeuge des bürgerlichen Staates und welche er in welchen Situationen wie verwendet sind von der herrschenden Klasse abhängig, in dessen Dienst er agiert. Die Schuldenbremse schien für den heute höchsten politischen Vertreter der herrschenden Klasse Deutschlands, Friedrich Merz bis März unumstößlich und heute geht er sogar noch weiter als sein sozialdemokratischer Vorgänger. Abgesehen von wahltaktischen Gründen haben sich die Vorzeichen, unter denen der deutsche Imperialismus operieren muss, geändert. Um dieser Zwangssituation zu entsprechen, müssen auch die Mittel angepasst und gegebenenfalls geändert werden.
Nicht die Schuldenbremse in ihrer Existenz ist dabei Kern des Problems, sondern die Tatsache, dass immer mehr Geld für Aufrüstung im Dienst des deutschen Imperialismus ausgeben wird, dessen Zinsen gleichzeitig von den Werktätigen durch Steuererhöhungen oder Kürzungen im sozialen Bereich abbezahlt werden muss. Indem jedoch die Schuldenbremse für die Ursache gehalten wird, läuft man gegen eine Wand, die ein paar Meter weiter von der herrschenden Klasse selbst ein stückweit aufgebrochen wird. Währenddessen ist man selbst aber schon
[1] So ist die selbst die strukturelle, also konjunkturunabhängige Neuverschuldung auf 0,35 Prozent beschränkt.
[2] Tatsächlich gibt es 29 aktive Sondervermögen, von denen jedoch nicht alle mit eigener Kreditermächtigung aufgesetzt sind.
[3] So ergab eine im letzten Jahr durchgeführte Umfrage der ARD, dass mehr als die Hälfte der deutschen Bevölkerung die Schuldenbremse für sinnvoll erachten. Erst mit dem Jahreswechsel sind die Mehrheitsverhältnisse in den Umfragen umgeschwenkt.
[4] Das mag wenig klingen, quantifiziert jedoch die massive Aufrüstung, die bereits seit über 10 Jahren zur dauerhaften Tendenz geworden ist.
[5] Die Rolle der Linkspartei wäre in einem solchen neuen Bundestag kritisch gewesen und zugleich auch ein Prüfstein des deutschen Sozialreformismus.
[6] So lag der Spitzensteuersatz in den USA der 1930er Jahre bei 80 Prozent.
[7] Die MMT geht sogar so weit, dass eine solche Abhängigkeit faktisch gar nicht existieren müsste.