Baden-Württemberg: Streiks der Bus- und Bahnfahrer verschärft!

Massive Nahverkehrsstreiks in mehreren Städten Baden-Württembergs!

Provokation des Stuttgarter-Straßenbahnen-Vorstands mit faktischer Aussperrung!

 

Verdi-Streik Freiburg, Nahverkehr 2011Getragen von einer ziemlich breiten Solidarität unter den Kunden und in der Öffentlichkeit legten tausende kämpfende Straßenbahnfahrer/innen, Busfahrer/innen, Kontrolleur/innen, Schalterpersonal und Servicekräfte des öffentlichen Nahverkehrs Baden-Württemberg in den letzten Wochen immer wieder Tageweise Busse und Straßenbahnen still! Streiks gab es in Heilbronn, Karlsruhe, Esslingen, Baden-Baden, Freiburg, Konstanz, Pforzheim und Stuttgart. Betroffen waren über 7.500 Beschäftigte. Trotz massiver Vorwürfe in allen Medien, die Streikenden bzw. ver.di würden die Fahrgäste „als Geiseln nehmen“ und ähnlicher hetzerischer Anwürfe, trotz ausgewählter vorwurfsvoller Leserbriefe reagierten die allermeisten cool bis verständnisvoll. Endlich wehrten sich mal Kolleg/innen kämpferisch und entschieden.

Die zuständige ver.di Tarifkommission hatte die Verhandlungen am 27. September für gescheitert erklärt. In der vierten Verhandlungsrunde hatte keine Annäherung erzielt werden können. Bis zum 12. Oktober lief die Urabstimmung, begleitet von massiven Warnstreiks! So standen die Straßenbahnen in mehreren baden-württembergischen Städten am Montag und Dienstag, 10. und 11.Oktober zwei Tage lang komplett still!

Die Urabstimmung brachte eine Zustimmung von nahezu 98 % für Streiks, bewies also hohe Streik- und Aktionsbereitschaft der Mitglieder!

 

Am 19. Oktober gingen die Streiks in den erwähnten Städten umschichtig in einer Art Nadelstichtaktik los. Sie erfassten aber ziemlich alle Bereiche: Instandhaltungswerkstätten, Ticketschalter und –büros, die Fahrgastkontrolleur/innen, den Fahrscheinautomatenservice. So wurden die Unternehmen wirtschaftlich getroffen. Und natürlich immer wieder die Busse und Bahnen, am Donnerstag und Freitag (20. und 21 Oktober) wieder die Stuttgarter Straßenbahnen und Busse (SSB). Ver.di hatte allerdings angekündigt, dass die Fahrgäste zwei Tage im Voraus über geplante Streiks informiert würden.

In Stuttgart sind seitdem die Verkaufsbüros geschlossen, ebenso werden keine Fahrscheinkontrollen durchgeführt. Für Donnerstag den 27. und Freitag, den 28.10. waren weiter Straßenbahn –und Busstreiks in Stuttgart angekündigt.

 

Provokation durch die Stuttgarter Straßenbahn-Chefs

 

Am Montag, dem 24. Oktober, ordnete der Vorstand der SSB völlig überraschend die Stilllegung aller Bahnen und Busse für den ganzen Rest der Woche an, ließ aber dreist verkünden, „streikbedingt“ führen die Fahrzeuge nicht. Denn „streikbedingt“ seien die Fahrzeuge nicht vorschriftsmäßig gewartet und somit stünde die Sicherheit der Fahrgäste auf dem Spiel. Natürlich wurde der Eindruck in der Öffentlichkeit erweckt, ver.di halte sich nicht an die selbst gesetzte Ankündigungsfrist von zwei Tagen. Das provokative wie plumpe Kalkül bei alledem: Die Öffentlichkeit sollte gegen den Streik aufgehetzt werden. Auf allen Anzeigetafeln an den Haltestellen prangte denn auch die Ansage, „streikbedingt“ führen die Bahnen und Busse nicht.

Für das Fahrpersonal kam diese Maßnahme einer Aussperrung der Fahrer/innen gleich. Natürlich wollte der SSB-Vorstand diese Stunden nicht bezahlen. Dann musste er aber einräumen, dass ver.di sehr wohl Verhandlungen über einen Notdienst zwecks Aufrechterhaltung der technischen Fahrzeugsicherheit angeboten hatte, was man aber abgelehnt hatte. Plötzlich sahen die SSB-Bosse gar nicht mehr gut aus.

Schon am Donnerstag, dem 27.10.11 fuhren in Stuttgart Busse und Stadtbahnen wieder. In mehrstündigen Verhandlungen wurde auf Initiative von ver.di die bestehende Notdienstvereinbarung erneuert. Auch aus Sicht der SSB-Chefs durften plötzlich Stadtbahnen und Busse am Donnerstag wieder fahren. Ohne die Kampfbereitschaft der Kolleg/innen wäre das nie so geglückt. Allerdings darf das nicht heißen, dass die Streiks irgednwie ausgesetzt würden. Soviel muss klar sein!

Die Tarifverhandlungen wurden nun am Donnerstag, dem 27.10.11 fortgesetzt. Ein Punktsieg für die Kolleg/innen, auch wenn es noch kein Ergebnis gab!

 

Verhandlungen laufen – über zum Teil fragwürdige Forderungen

 

Dabei gehen die Forderungen nicht etwa um Lohnerhöhungen, sondern lauten:

* Gleiche Arbeitsbedingungen für Fahrdienst und Verwaltung bei der Feiertagsregelung!

Beschäftigte im Fahrdienst müssen einen Tag frei nehmen, wenn sie an einem Feiertag frei haben wollen. Kolleg/innen in Büros und Werkstätten dagegen nicht!

* Anrechnung der betrieblichen Wegezeiten.

Fahrer beginnen zum Beispiel morgens im Depot, fahren also dort mit ihrem Auto hin, dann fahren sie ihre Schicht, diese endet dann an irgendeiner Haltestelle. Jetzt endet ihre Arbeitszeit, aber sie müssen in ihrer Freizeit die Straßenbahn oder den Bus zurück zum Depot fahren. Das gleiche gilt, wenn während einer längeren Pause zwischen zwei Haltestellen gewechselt werden muss.

* Erhöhung der jährlichen Sonderzahlung auf 100 Prozent.

Diese lag früher bei 100 Prozent, liegt aber wegen der zurückliegenden Lohnraubabschlüsse gegenwärtig bei nur 82 Prozent.

* 30 Tage Urlaub für alle!

Die derzeit gültige Staffelung der Urlaubstage nach Alter ist nach EU-Rechts unzulässig.. ver.di fordert als Neuregelung nun den gleichen Urlaubsanspruch für alle. Denn unter 30 Jährige haben gegenwärtig nur 26 Tage Urlaub.

* Die Leistungsorientierte Bezahlung soll in Form von freien Tagen gewährt werden!

Die im öffentlichen Dienst geltende leistungsorientierte Bezahlung hat im Nahverkehr keinen Sinn. Die Kolleg/innen fragen zu Recht: Wann leistet z. B. ein Busfahrer viel? Wenn er z. B. pünktlich ist, wenn er an Haltestellen auf alle wartet, wenn er langsam und damit sicher fährt? Deshalb fordert ver.di, dass die für leistungsorientierte Bezahlung vorgesehenen Geldwerte in freie Tage umgewandelt werden.

* Eigenständige Entgeltverhandlungen!

Die Manteltarifvertragsregelungen werden schon seit Jahren für Baden-Württemberg eigenständig geregelt; nicht zuletzt, weil die Arbeitgeber dies so wollten. Nun soll auch das Gehalt eigenständig verhandelt werden.

* Nachteilsausgleich für ver.di-Mitglieder!

Ein Tarifabschluss werde vom Arbeitgeber auf alle Beschäftigten angewandt. Nur die Gewerkschaftsmitglieder seien aber dafür eingestanden – durch Mitgliedsbeiträge und Einsatz im Kampf. Das Bundesarbeitsgericht habe deshalb erlaubt, diese reale Belastung der Gewerkschaftsmitglieder in Geld auszugleichen.

 

Die hohe Kampfbereitschaft und das starke Urabstimmungsergebnis zeigen die breite Unterstützung dieser Forderungen durch die Mitglieder. Die kämpfenden Kolleg/innen wollen die ständige, jahrelange Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen rückgängig machen. Hier bricht sich der enorme Unmut der Mitglieder über die Regelungen im Tarifvertrag des öffentlichen Dienste Bahn. In dessen Regelungen fühlen sich die Kolleg/innen des Nahverkehrs, wie viele andere in jeweils ihrer Branche, nicht angemessen vertreten. Sie kämpfen für ihre eigenen Rechte. Aber sie sollten sich nicht von den Kolleg/innen anderer Bereiche des öffentlichen Dienstes trennen lassen.

 

Die Kritik an zwei Forderungen ist notwendig!

 

Hier äußert sich eine Kritik an der ver.di-Politik der letzten Jahre, wie Mathias Schiermayer von der Stuttgarter Zeitung nicht ganz zu Unrecht feststellt: „Somit wendet sich der Streik nicht nur gegen die Arbeitgeber, sondern auch gegen die Gewerkschaft, die ihn organisiert: Verdi hat den Nahverkehr bei den bundesweiten Verhandlungen über das öffentliche Tarifvertragswerk offensichtlich vernachlässigt.“

Die Forderung nach „Eigenständigen Entgeltverhandlungen!“ ist sogar fragwürdig. Fragwürdig ist die Begründung: Auch die Manteltarifvertragsregelungen würden schon lange – auch auf Betreiben der Arbeitgeber – eigenständig geregelt; nun sollte auch das Gehalt im Land künftig eigenständig verhandelt werden. Man muss auf die Spaltungsgefahr in dieser Begründung achten, allerdings auch auf die berechtigten Interessen der betroffenen Kolleg/innen!

Wenn Schiermayer hinzufügt, dies sei „ kein Einzelfall – immer mehr Berufsgruppen suchten nun ihr Heil in eigenständigen Tarifbewegungen.“, dann schießt er als bürgerlicher Journalist übers Ziel hinaus. Denn immerhin muss man feststellen, dass ver.di selbst dieses Eingehen auf die speziellen Forderungen und Interessen einleitet und organisiert. Und auch das ist kein Zufall, sind in der ver.di Baden-Württemberg doch vergleichsweise kämpferische Kolleg/innen in führenden Positionen, die in den letzten Jahren schon manche wirkungsvolle Kampagne ermöglicht haben, eben weil sie es besser als andere Teile des ver.di-Apparates verstehen, mit den Kolleg/innen zu kämpfen und auf sie einzugehen.

Die Forderung „ Nachteilsausgleich für ver.di-Mitglieder!“ sehen wir sehr kritisch: Praktisch läuft sie auf einen Mitgliedschaftsbonus durch den Arbeitgeber hinaus. Sie läuft darauf hinaus, Mitglieder durch kleine Vorteile zu kaufen oder zu locken. Konkret kann im Übrigen der volle Umfang einer tariflichen Leistung nur dann erlangt werden, wenn sich das Mitglied als solches offenbart, was in schlechten Zeiten gnadenlos gegen die gewerkschaftliche Organisation ausgenutzt werden wird. Das Kapital kennt dann alle, zumindest aber viele Mitglieder und kann gegen sie mit Mobbing oder Terror gezielt vorgehen, um sie zu isolieren und loszuwerden!

Deswegen empfiehlt Arbeit Zukunft solche Forderungen nicht zu vertreten. Im Gegenteil: wir sind der Auffassung, dass gemeinsame tarifliche Regelungen für alle Mitarbeiter/innen zeigen, dasswir noch über genügend gewerkschaftliche Stärke verfügen. Ist dies nämlich nicht (mehr) der Fall, dann geht das Kapital sofort andere Wege: Es versucht, die Mitarbeiter/innen, die nicht genügend Bewusstsein haben, auf den Irrweg so genannter außertariflicher Arbeitsverträge zu locken, die bei vordergründig nett aussehender Bezahlung die tariflichen Regelungen ausschließen! Die eh schon geschwächten Gewerkschaften in diesen Betrieben werden so immer weiter geschwächt und isoliert. Zudem sind einheitliche und gute Tarifverträge für alle die beste Werbung für die Gewerkschaft. Statt Aufspaltung, ist Einheit notwendig!

Trotz dieser Kritischen Anmerkungen stehen wir solidarisch zu den kämpferischen Nahverkehrskolleg/innen in Baden Württemberg und wünschen Ihrem Kampf Erfolg! Wir rufen die Kolleg/innen auf, ihre Kampfkraft voll einzusetzen und von den verantwortlichen Gewerkschaftsführern zu verlangen, dass diese alle Kampfmöglichkeiten ausschöpfen und wahr machen, was sie immer betont haben: einen langen und harten Kampf zu führen und keine faulen Kompromisse zu schließen!

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