Eindrücke vom Envio-Prozeß (PCB-Skandal) in Dortmund (Zwischenbericht)

Der für den 2.Oktober erwartete juristische Super-GAU – die jahrelange Aussetzung oder gar die Einstellung des Verfahrens – blieb erfreulicherweise aus. Doch zu großen Hoffnungen, daß der Prozeß im Sinne der PCB-Geschädigten verlaufen könne, besteht dennoch kein Anlaß. Denn der Staatsanwalt machte völlig unerwartet, wie es der Vertreter der Nebenklage völlig zu Recht und unter dem erheiterten Beifall der Verteidigung nannte, „eine Rolle rückwärts“. Er, der den Envio-Chef der Körperverletzung an seinen Beschäftigten angeklagt hat, ist auf einmal der Ansicht, die gesundheitsschädigenden Auswirkungen von PCB seinen wissenschaftlich noch gar nicht bewiesen. Dabei beruft er sich auf zumindest angeblich unterschiedliche Einschätzungen von Wissenschaftlern. Deren Befragung als Sachverständige beantragte er, wofür der Richter einen Zeitraum von etwa sechs Wochn für notwendig hält. Gegen die Befragung von Sachverständigen ist natürlich nichts einzuwenden, doch besteht die Gefahr, daß die Staatsanwaltschaft unterschiedliche Auffassungen der Sachverständigen zum Anlaß nimmt, die Anklage wegen Körperverletzung der Envio-Beschäftigten einzustellen.

Etwas Merkwürdiges, das ich mir nicht erklären kann, passierte zu Beginn dieses Prozeßtermins: der Richter vergewisserte sich, daß im Gerichtssaal keine „Mitarbeiter der Firma Envio“ anwesend waren – die waren offenbar mit Zustimmung aller juristisch am Prozeß Beteiligten, also auch des Staatsanwalts und den Anwälten der Nebenkläger – unerwünscht. Wer kann mir das erklären?

Die medizinische Untersuchung der Geschädigten läßt offenbar auch auf sich warten. Der schwarze Peter wird dabei den Opfern zugeschoben. Die müssen nämlich eine „Entbindungserklärung“ abgeben, was offenbar noch nicht alle getan haben oder wenn doch, dann – da unter ihnen wohl kaum ausgebildete Berufsbürokraten sind – dann in unzureichender Form. Der Richter wörtlich: „Ohne die Mitwirkung der Geschädigten sind wir nicht in der Lage, etwas zu machen.“ (Einschub: Immerhin, der Richter bezeichnet die Envio-Opfer hier als Geschädigte und nicht als „angeblich Geschädigte“ oder ähnlich und die Verteidigung erhob keinen Einspruch…)

Falls es jemanden geben sollte, der nicht weiß, was eine „Entbindungserklärung“ ist: das ist die schriftliche Erklärung des Patienten, daß er seinen Haus- oder sonstigen Arzt von dessen Schweigepflicht entbindet. Denn die Krankheitsgeschichte des Envio-Geschädigten muß natürlich mit herangezogen werden. Und diese „Entbindung“ ist keinesfalls so einfach: sollte aus den Unterlagen des bereits „entbundenen“ Arztes hervorgehen, daß sein Patient in seinem bisherigen Leben auch mal bei anderen Ärzten in Behandlung war, so müssen die natürlich auch „entbunden“ werden. Jeder von uns weiß: Gut Ding will Weile haben. Aber ob das, was hier nach ich weiß nicht welcher Weile für die PCD-Vergifteten herauskommt, dann auch wirklich gut ist? Wenn der Staatsanwalt die Anklage der Körperverletzung fallen ließe, müsste das Gericht eigentlich sofort die Anklage gegen Envio wegen zahlreicher Verstöße gegen erteilte Auflagen verfolgen, doch das wage ich nicht zu hoffen.