Metalltarifrunde 2004: Angriff auf die 35-Stundenwoche pariert, aber: Das Eis wird immer dünner!

Zehntausende von Gewerkschafter/innen bundesweit beteiligten sich in
der diesjährigen Tarifrunde der IG Metall an den Warnstreiks und
Demonstrationen. Überall gingen Kolleg/innen unter Parolen wie “Hände
Weg von der 35 Stundenwoche!”, “Keine unbezahlte Arbeit!”, “Unbezahlte
Arbeit ist Diebstahl!” und ähnliches auf Straßen und Plätze! Bei Bosch
in Leinfelden trafen sich 5500 Boschler aus vielen Betrieben, um den
Leinfeldener Boschler/innen ihre Solidarität gegen den unverschämten
Angriff der Konzernführung  zu erweisen. Bosch fordert bekanntlich
die unbezahlte Einführung der 40-Stundenwoche! (Vgl. Artikel in AZ Nr
1/2004 bzw. www.arbeit-zukunft.,de)
Es ist zweifellos dieser hohen Mobilisierung zu verdanken, dass der
Abschluss der Metalltarifrunde 2004, so problematisch wie er ist, zu
Stande gekommen ist.
Ein offener Bruch des Manteltarifvertrages, der die 35-Stundenwoche
festschreibt, wurde so verhindert! Angesichts der massiven Warnstreiks
im ganzen Lande, zogen es die Kapitalisten vor, nicht auf der
40-Stundenwoche zu bestehen. Denn es gab keinerlei Zweifel mehr, dass
die IG Metall die Urabstimmungen erfolgreich durchziehen würde.

Ein fauler Kompromiss!

Um so schwerwiegender ist der Entschluss der Gewerkschaftsführung,
nicht in den Streik zu ziehen. Wieder wurde die volle Kampfkraft der
Organisation nicht aufgeboten. So kam ein fauler Kompromiss zustande.
Und dieser wird der Gewerkschaft viel teurer zu stehen kommen als ein
Streik!
Es wurden neue Öffnungsklauseln vereinbart, die es den Unternehmen
ermöglichen, die Ausdehnung der Arbeitszeit in den Betrieben weiter
voranzutreiben, wenn auch nicht in dem Umfang, wie sie es sich
wünschen. Auch konnte die unbezahlte Ausweitung verhindert werden.
Der Tarifvertrag läuft 26 Monate! Auf der Lohnseite tut sich sehr wenig:
Keine Lohnerhöhung für Januar und Februar 2004,
1,5% ab März 2004 bis Februar 2005,
dann 2% bis Februar 2006
Zusätzlich gibt es mehrfach einmalige Auszahlungen in Höhe der für die
betriebliche Umsetzung des neuen Entgeltrahmentarifvertrages (ERA)
zurückzustellenden Mittel in Höhe vom zusammen je 0,7 % für 2004, bzw.
für 2005/2006.Diese Zahlungen schönen zwar die Einkommenserhöhung in
diesen Jahren, gehen aber nicht bleibend in die Tarifstruktur ein. Dies
ist der Hintergrund dafür; dass die IG Metall von Einkommenserhöhungen
von 2,2% in 2004  bzw. von 2,7 % in 2005 spricht.
Die Ausbildungsvergütungen werden entsprechend erhöht.

Erweiterete Öffnungsklauseln!

Gravierend dann die im Gegenzug von der Gewerkschaftsführung gemachten Zugeständnisse bei der Arbeitszeit:
So wurde die 18%-Regelung (max.18% der Beschäftigten eines Betriebes
können in die 40-Stundenwoche gehen), dieses alte Einfallstor für die
40-Stundenwoche, stark ausgeweitet.
In Betrieben mit mehr als 50% der beschäftigten Angestellten in den
beiden höchsten Gehaltsgruppen können Arbeitgeber und Betriebsrat
selbständig vereinbaren, die 40-Stunden-Quote auf bis zu 50 % der
Belegschaft erhöhen. Dies beinhaltet allerdings eine entsprechende
Aufzahlung, ist also nicht unbezahlt. Die IG-Metall-Führer halten sich
hier zugute, dass sie für diese Quotenerweiterung ein
Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates geschaffen haben, das es für die
alte 18%-Qote nicht gibt. Außerdem stellen sie heraus, dass diese
Regelung für “Ingenieurs-Betriebe” wie Entwicklungszentren und
ähnliches gilt. In solchen Betrieben hält sich das Kapital oft seit
langem nicht mehr an die 18%-Quote! Wichtig ist es zu wissen, dass die
Quotenerweiterung zwar an den starken Anteil an Angestellten hoher
Gehaltsgruppen gebunden ist, aber nicht für diese allein gelten muss.
D.h.: In den “Genuss” der 40-Stunden-Woche können dann durchaus auch
gewerbliche Kolleg/innen mit unteren Entgeltgruppen kommen.
Auch in anderen Fällen kann die 18%-Quote erhöht werden, allerdings
dann durch die Tarifparteien, also Arbeitgeberverband und IG Metall:
“Zur Förderung von Innovationsprozessen oder zur Behebung des
Fachkräftemangels”, und zwar für ganze Betriebe oder auch nur für Teile
von Betrieben.
Wenn es im Betrieb zu einer Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und
Betriebsrat über dauerhafte Neueinstellungen gekommen ist, welche nicht
sofort verwirklicht werden können; und wenn die “Möglichkeiten der
Arbeitszeitkonten überprüft“ wurden, dann kann die Arbeitszeit durch
freiwillige Betriebsvereinbarung (offiziell kann der Betriebsrat nicht
gezwungen werden) für “längstens bis zu 6 Monaten” auf  bis zu 40
Stunden ausgeweitet werden. Bezahlung erfolgt ohne Zuschläge, die
Stunden können auch dem Arbeitszeitkonto gutgeschrieben werden, also
später abgefeiert werden. Bei Betrieben unter 500 Beschäftigten kann
dies auch ohne Arbeitszeitkonten geschehen. An dieser Bestimmung wird
der Charakter der Arbeitszeitkonten insgesamt überdeutlich. In
Wirklichkeit schaffen sie die Möglichkeit für zuschlagsfreie
Überstunden!
Die IG Metall betont freilich, dass die Ausnahmen an die Bedingung geknüpft seien, dass keine Arbeitsplätze wegfallen dürften.
Wir beschränken uns auf diese drei Öffnungen. Die Vereinbarung enthält
noch mehr Bestimmungen, die z.B. auf der IG Metall Homepage
(www.bw.igm.de/news/meldung.html?id=645) eingesehen werden können. Uns
geht es nicht um jede Einzelheit, sondern darum, deutlich zu machen,
was auf die Kolleg/innen in den Betrieben zukommen wird.
Es macht die Sache nicht besser, wenn die IG Metall sich darauf beruft,
dass die einzelnen Bestimmungen dieser Vereinbarung oftmals lediglich
schon bestehende Regelungen in den Betrieben “beschreiben”, also
billigen. Aber natürlich entspricht dies den Tatsachen! Das macht
deutlich wie weitgehend in dieser Tarifauseinandersetzung bereits in
den Betrieben vorher geschaffene Tatsachen die Verhandlungsposition der
Gewerkschaft unterhöhlt haben: Tatsachen, die an den geltenden
Tarifverträgen vorbei und unter gütiger Mithilfe mancher Betriebsräte
bzw. unter der massiver Erpressung von Belegschaften und Betriebsräten
geschaffen wurden.
Man will zukünftig die Frage der Arbeitszeitkonten endgültig regeln,
man erklärt sich bereit unter bestimmten Bedingungen über “ergänzende
Tarifregelungen” zu verhandeln, ja sogar “einvernehmlich befristet von
tariflichen Mindeststandards” abzuweichen. …
So wird das Eis immer dünner! Ein unübersichtliches Geflecht von
Absprachen ist das, dessen wirkliche Bedeutung sich in der
betrieblichen Praxis herausstellen wird. Hier hängt es vom jedesmaligen
betrieblichen Kräfteverhältnis ab, was geschieht. Je schwieriger die
Wirtschaftslage dargestellt wird, je gespaltener oder schwächer die
gewerkschaftliche oder betriebsrätliche Organisation vor Ort, desto
leichter für das Kapital, mit Druck und Erpressung weitere
Zugeständnisse zwecks Ausweitung und Flexibilisierung von Arbeitszeit
herauszuholen. So sieht die Realität aus!

Hilfe für Schröder!

Ein weiterer Aspekt für die Beurteilung des Abschlusses ist seine
offensichtliche politische Bedeutung: Er steht in engstem Zusammenhang
mit Schröders Sozialkahlschlagspolitik! Er stellt eine direkte,
unmittelbare  Hilfe für die rot-grüne Regierung dar! So wie die
Nacht vom 11. auf den 12. Februar 2004 verlaufen ist, kann man
vermuten, dass es hinter den Kulissen sogar zu einer Intervention aus
Berlin gekommen ist! Denn noch spät um 23:00 Uhr wurden in einigen
Nachrichtensendungen unter Berufung auf IGM-Chef Peters die
Einschätzung gemeldet, dass ein Streik nicht mehr zu vermeiden sei,
wenn die Unternehmer weiter auf ihren Standpunkten verharrten! Und
bereits um 3:00 Uhr war dann in Pforzheim der Abschluss perfekt!
Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass ein Streik einer
Massenbewegung gegen die Agenda-2010 des Herrn Schröder Auftrieb
gegeben hätte. Er hätte den geplanten Aktionen am 3./4. April
Popularität und Zulauf verschafft. Also durfte es dazu nicht kommen!
Streik und Urabstimmung politisieren die Beteiligten massiv! Schon
wuchs auch in den zweifellos vorhandenen Belegschaften, die sich
aufgrund des massiven Drucks der Öffentlichkeit und in den Betrieben
aus der Warnstreikbewegung noch heraus gehalten hatten, die
Bereitschaft, sich der Streikbewegung anzuschließen. Zu deutlich war
es, dass es ans Eingemachte gehen sollte, an bitter erkämpfte
Standards! Außerdem wissen die meisten Gewerkschafter/innen, dass es
ein “Nein” in der Urabstimmung nicht geben darf, wenn man die
Gewerkschaft nicht zerstören will. So wäre der Schritt zur Urabstimmung
der sicherste Weg gewesen, der Tarifbewegung weitere Schlagkraft zu
verleihen.
Auch in der öffentlichen Berichterstattung kam Sympathie für die
Metaller/innen auf. Nur allzu deutlich wurde angesichts der ständigen
Entlassungen in der deutschen Wirtschaft, dass die Behauptung, eine 40
Stundenwoche schüfe endlich Arbeitsplätze, reine Zweckpropaganda des
Kapitals darstellte.
So musste die rot-grüne Regierung ein massives Interesse an der schnellstmöglichen Beendigung der Tarifrunde haben.

Arbeiterklasse in der Defensive!

Diese Tarifrunde war eine Schlacht in der Defensive. Das kann man
angesichts der massiven Warnstreiks so sagen! Die Hauptfront zur
Verteidigung der 35-Stundenwoche konnte unter Mühen gehalten werden,
aber einzelne begrenzte Geländegewinne der gegnerischen Seite konnten
nicht verhindert werden! Aber so etwas kann man nicht schönreden. Auch
ein begrenzeter Geländegewinn meines Gegners verbessert seine Position,
verschlechtert die Meine!
Auf das in der Presse angestimmte Geheul, die Arbeitgeber hätten eine
Niederlage erlitten, ist nicht viel zu geben. Es ist anzunehmen, dass
dieses vor allem der Gewerkschaftsführung helfen sollte, die
unverständlichen Zugeständnisse der kritischen Mitgliedschaft zu
“verkaufen”.
Auch das Wort vom “Punktsieger IG Metall” (Stuttgarter Zeitung) ist
nichts wert. Denn es unterstellt, dass der Kampf beendet ist. Davon
aber kann keine Rede sein! Und der Vergleich aus dem Boxsport hilft
nicht weiter. Wir haben keinen Boxring mit zwei Einzelkämpfern, sondern
Belegschaften haben sich in unzählichen Scharmützeln ihrer Haut zu
wehren! In jedem Betrieb gelten heute andere Regelungen bei der
Arbeitszeit. Und das macht es den Unternehmern leicht, jeden Betrieb
einzeln unter Druck zu setzen. Die nächste Runde ist bereits eröffnet
und findet in den Einzelbetrieben statt. Auch darin kommt die Defensive
zum Ausdruck.
Von Defensive zu sprechen, hat nichts mit Schlechtreden der
Arbeiterklasse zu tun. Die Defensive ist objektiv und ergibt sich aus
den Fakten:
Aus der Defensive heraus zu kommen, hätte mindestens die Urabstimmung
und einen kämpferischen Streik erfordert. Dies ist aber nicht geschehen.
Zur Defensive aber gehört auch diese Tatsache selbst, dass es nicht zur
Urabstimmung kam! Wir kämpfen unter einer Gewerkschaftsführung und
dulden sie weiterhin, die es vorzieht, den Kampf dann abzubrechen, wenn
das eigene Gesicht gewahrt scheint. Wie die Kolleg/innen mit diesem
Abschluss klarkommen können, interessiert sie wenig!
Die Tarifergebnisse sind immer weniger durchschaubar, kaum einer kann
noch erklären, was eigentlich gilt. Solche Tarifverträge verwandeln
sich aus einer Waffe der Gewerkschaftsmitglieder gegen
Unternehmerwillkür ins Gegenteil: In ein Dokument, das die Unternehmer
begierig studieren werden. Wo findet sich etwas, mit dem ich meine
“Mitarbeiter” bzw. den Betriebsrat unter Zugzwang setzen kann?

Die Gewerkschaft, das sind wir, die Mitglieder!

Eine solche Lage kann man nicht schön reden. Die klassenkämpferischen,
ja auch nur die kritischen Kräfte in der IG Metall wie auch in anderen
Gewerkschaften müssen sich zusammenschließen  um die Leitlinie zu
vertreten: Wir, die Mitglieder, die Basis sind die Gewerkschaft.
Es muss eine lebendige Aussprache her, in der Fronten geklärt und eine
neue Motivation zum gemeinsamen Kämpf, zur Formulierung gemeinsamer
Forderungen begründet wird. Hier muss geklärt werden:
die Notwendigkeit weiterer Arbeitszeitverkürzung,
die Frage des Normalarbeitstages: Wann ist definitiv Feierabend?
wie dem Fluch der stetig wachsenden kapitalistischen Produktivität begegnet werden muss
unsere Forderungen nach ständiger Qualifikation
wie der Sozialkahlschlag abgewehrt werden kann und neue soziale Standards erkämpft werden können
Das sind die Fragen, die Forderungen, die Interessen der Lohn- und
Gehaltsabhängigen Menschen. Es hat keinen Sinn, die Führung zu
kritisieren, weil sie sich um diese Interessen immer weniger kümmert,
und nicht die Frage zu stellen, wie wir zu einer anderen,
kämpferischeren Führung kommen können, die nicht im entscheidenden
Moment aufgibt, sondern uns in den Kampf führt.
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