Abwanderung und Geburtenrückgang in Mecklenburg-Vorpommern: Experten unter sich

Die Tatsachen sind klar und hart: Mecklenburg-Vorpommern ist ein
Bundesland mit extrem hoher Abwanderung vor allem der Jugend.
Dementsprechend steigt der Anteil der Älteren ständig und die Zahl der
Geburten ist extrem rückläufig. Allein 2002 verließen 16,3% der Frauen
zwischen 20 und 25 Jahren das Land. Eine ganze Generation haut aus
Elend und Arbeitslosigkeit ab und sucht sich woanders eine Chance.
War Mecklenburg-Vorpommern vor der Wende 1989 noch das Land mit der
durchschnittlich jüngsten Bevölkerung, so wird es 2020 das Land mit der
durchschnittlich ältesten Bevölkerung sein. Seit 1989 hat M-V ca.
230.000 Einwohner verloren. Bis 2020 wird die Einwohnerzahl
voraussichtlich auf 1,5 Mio. sinken, bis 2050 auf nur noch 1,3 Mio.
Die Industrie- und Handelskammer von M-V lud deshalb Experten am 17.3.04 zu einer Tagung ins Schweriner Schloss ein.
Hört man die „Lösungen“ der Experten für dieses wirklich für
zig-tausende Menschen schwer wiegende und dringende Problem, so weiß
man nicht, ob man lachen oder weinen soll. Hier einige Kostproben:
Staatssekretär Tilo Braune vom Bundesministerium für Verkehr wandte
sich gegen eine Dramatisierung! Man müsse mit dem Wandel „konstruktiv
umgehen“. Kluges Geschwätz! Das beste Mittel gegen die Folgen der
demografischen Entwicklung seien viele Kinder!
Man muss sich das mal vor Augen führen: Da verlassen Hunderttausende
M-V, weil sie hier keine Arbeit und Zukunft haben. Jugendliche haben
keinerlei Chance auf Ausbildung und Arbeit. Und der superkluge Herr
Staatssekretär hat ein tolles Rezept zur Lösung des Problems: Setzt
einfach mehr Kinder in die Welt! Man sollte hinzufügen: Der Herr
superkluge Staatssekretär und wird dann schon dafür sorgen, dass Gelder
für Kindergärten, Schulen, Ausbildungsstätten, Universitäten so
zusammengestrichen werden, dass diese Kinder es nur nicht zu einfach
haben und gleich den Ernst des Lebens kennen lernen. Und am Ende werden
sie wieder arbeitslos und ohne Zukunft sein und zum Auswandern
gezwungen. Die „zukunftsweisende“ Idee des Herrn Staatssekretär besteht
darin, M-V zur Aufzucht-Station für den Rohstoff Arbeitskraft zu machen
und damit die industriellen Zentren zu beliefern.
Als ebenfalls ganz kluge „Expertin“ erwies sich Gabriele
Doblhammer-Reiter vom Max-Planck-Institut für Demografie in Rostock.
Sie rechnete rasch vor, dass mehr Kinder allein nicht reichen würden.
Um die Probleme Mecklenburg-Vorpommerns und Deutschlands (ja, ganz
Deutschland möchte sie „retten“) zu „lösen“, müsste man die Menschen
einfach bis 75 arbeiten lassen. Doch – wie bedauerlich – dies sei
politisch z.Zt. nicht durchsetzbar. Ja, die Menschen leisten Widerstand
gegen solche „Zukunftsperspektiven“! Auch verstärkte Zuwanderung könne
helfen. „Doch auch Zuwanderer bekämen bald Rente“, bedauerte die
Demografin. In den Augen solcher „Experten“ es ist geradezu eine
Unverschämtheit, dass Menschen nach 35, 40 Arbeitsjahren auch noch eine
Rente haben wollen.
Im Reigen der Superklugen durfte Landesarbeitsminister Holter (PDS)
nicht fehlen. Er forderte „Mut zur Selbständigkeit“. In M-V liegt die
Zahl der Insolvenzen kleiner Selbständiger weit über dem
Bundesdurchschnitt. Doch PDS-Holter will die kleinen Leute
Holter-di-Polter aus der Arbeitslosenstatistik raus haben, hinein in
die goldene Welt der „Selbständigkeit“. Er versprach dafür Minikredite
von 10.000 Euro für Existenzgründer. Eine tolle „Lösung“! Ob Herr
Holter für solche Beträge überhaupt den Finger krumm machen würde? Sein
Ministergehalt ist da wohl doch eine beruhigendere Lebensgrundlage, die
es einem erlaubt, sorgenfrei in die Welt hinein zu schwätzen.
Auch der „Experte“ Wolfgang Weiß, Geograf aus Greifswald, machte den
Menschen in Mecklenburg-Vorpommern „Mut“. Er verbat sich das Jammern!
Man solle nicht Jammern, dass die Menschen immer älter würden und
länger arbeiten müssten! Enthusiastisch rief er aus: „Es ist doch
wunderschön, dass wir länger leben und länger wirksam sein dürfen.“ Für
eine 40-jährige Kollegin oder einen 40-jährigen Kollegen, der gerade
als „zu alt“ entlassen wurde, klingt so ein Gerede wie Hohn.
So wurde mal wieder ein Tag lang von hoch bezahlten „Experten“
gequatscht und gequasselt. Für alle diese Herrschaften ist „klar“,
–    die Menschen müssen mehr Kinder kriegen, egal was aus diesen wird,
–    sie müssen mehr und bis 75 arbeiten, auch wenn jetzt schon Millionen arbeitslos sind.
Nur über das wirkliche Problem wurde nicht gesprochen: dieses System!
Keiner sprach auch nur ein Wörtchen darüber, dass das kapitalistische
Profitsystem dazu führt, dass bei immer höherer Produktivität die Ware
Arbeitskraft immer weniger benötigt wird. Keiner wollte darüber
sprechen, dass durch den „Überfluss“ an Arbeitskraft der Preis der Ware
sinkt, die Einnahmen der Sozialversicherungen einbrechen. Keiner wollte
darüber reden, dass gleichzeitig aber der gesellschaftlich produzierte
Reichtum wächst – allerdings privat angeeignet wird und in die Taschen
des Kapitals fließt. Es zeigt sich deutlich, dass das ganze
„Experten“gequatsche nur von der Realität ablenken soll.
Das gelingt jedoch zunehmend weniger. Die Menschen spüren die realen
Veränderungen immer mehr. Und sie sind gezwungen, sich damit
auseinander zu setzen.