Solidarität mit Sona Shirvanyan

Seit dem 1. Juli 2005 macht Sona Shirvanyan ein Praktikum
bei der linken Kieler Monatszeitschrift “Gegenwind”. Sie wurde gegen ihren
Willen nach Armenien abgeschoben und braucht unsere Solidarität!

 sona gegenwind

Sona kam 2003 mit ihren Eltern und ihrem Bruder aus Armenien
nach Deutschland. Hier beantragten sie Asyl. Sona war damals 17 Jahre alt, in
diesem Alter musste sie einen eigenen Asylantrag stellen. Da hauptsächlich ihr
Vater Probleme in Armenien hatte (und die Tochter natürlich mitgenommen hatte),
wurde Sonas Asylantrag schnell abgelehnt. Der Antrag ihres Vaters wurde
ebenfalls abgelehnt. Aber er hatte aber noch eine Chance: Da er sehr krank ist,
konnte er vielleicht deswegen hier bleiben. Sona half ihm sehr, indem sie zum
Beispiel beim Arzt und bei der Ausländerbehörde dolmetschte.

 

Dann bekam Sona selbst im Frühling 2005 keine neue Duldung
mehr, sie sollte alleine ausreisen oder abgeschoben werden. Sie blieb hier,
weil sie noch einen Abschluss in der Schule machen wollte und ihren Eltern
weiterhin helfen musste. Im Juni legte sie ihren Hauptschulabschluss ab und
wurde an

einer Kieler Realschule angenommen und begann dann ihr
Praktikum bei “Gegenwind”.

 

Am 5. August wurde Sona von der Polizei zu Hause abgeholt.
Sie kam am gleichen Tag ins Gefängnis nach Hannover. Dort „feierte“
sie am 8. August ihren 20. Geburtstag. Am nächsten Tag wurde sie über Moskau
nach Eriwan (Armenien) abgeschoben – zusammen mit ihrem Vater, der zwei Stunden
später festgenommen worden war. Ihre Mutter und ihr Bruder konnten noch in
Deutschland bleiben.

 

Bitte helft Sona ein Visum für Deutschland zu bekommen. Sie
möchte ihr Praktikum fortsetzen und auch in Kiel studieren. Die Ausländerbehörde
teilte mit das ein Visum erst erteilt wird wenn die Kosten der Abschiebung
bezahlt wurden. Das kann sie natürlich nicht alleine. Die Kosten die dieser
kurrupte Statt für seine “Menschlichkeit” verlangt sind hoch, es werden einige
tausen Euro benötigt, damit ein Mensch dort leben kann wo er möchte und eine
qualifizierte Ausbildung machen kann. Bitte spendet für Sonas Zuknft! Sona
schreibt regelmäßig aus ihrer Heimat und möchte diese Berichterstattung auch
noch ausweiten. Deshalb auch die Frage ob jemand ein Notebook/iBook oder Laptop
zu verschenken oder günstig zu verkaufen hat (bitte bei der AZ-Redaktion
melden).

 

Spenden (mit Spendenquittung) an:

   Gesellschaft für
politische Bildung e.V.

   Postbank Hamburg

   (BLZ 200 100
20)  Konto 1300 19-201

   (Stichwort:
„Sona“)

 

Spenden (ohne Spendenquittung) an:

   Reinhard Pohl

   SEB (BLZ 210 101
11)

   Konto 2638 05 7000

   (Stichwort:
„Sona“)

 

Im Anschluss lest ihr Sonas ersten Bericht nach ihrer Anknft
in Armenien.

 

K. B.

 

Teil I

 

Nach der Abschiebung: Alltag in Armenien

 

Familie

 

Am 10. August kam ich in Eriwan an. Ich hatte erzählt, dass
ich am Flughafen meine Schwester Tina sah und in dem Moment alles vergessen
hatte, was ich erlebt habe.

 

Ich habe zuerst auch nicht gesehen, dass sie nicht alleine
zum Flughafen gekommen war. Sie war mit ihrer Familie gekommen. Ihr Mann war
mit da, außerdem ihr Schwiegervater Arsen und ihre Schwägerin Luisa, die sehr
groß war. Mit denen waren auch paar Verwandte gekommen. Die habe ich dort zum
ersten Mal gesehen, ich habe sie da kennen gelernt. Nach diesen fünf Tagen der
Abschiebung sah ich endlich wieder viele Gesichter, die alle sehr nett und höflich
zu mir waren. Die Schwiegermutter war nicht da, weil sie kochen musste,
eigentlich für mich. Das kleine Kind von Tina war auch nicht da. Dann sind wir
nach Hause gefahren.

 

Tina wohnt in einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung, dort wohnt
die ganze Familie. Das sind sie selbst mit ihrem Mann und dem Kind, dann die
Schwiegereltern und die Schwägerin. Ich kannte niemanden davon. Tina hat
geheiratet, als ich in Deutschland war, nur meine Mutter war damals noch in
Armenien.

 

Es ist ein Hochhaus, in dem ich jetzt lebe. Solch ein Haus
gibt es in Flensburg nur im Sandberg, glaube ich, und in Harrislee in der Nähe
der Waldstraße. Wir wohnen im siebten Stock, das Haus hat neun Stockwerke.

 

Meinen Schwager kannte ich, wie gesagt, vorher noch nicht.
Ich habe von Deutschland aus nur e-Mails geschickt. Jetzt habe ich ihn kennen
gelernt, und er ist sehr, sehr nett. Ein unglaublicher Mensch! Anders als die
anderen in seiner Familie, ein ganz anderer Typ. Mein Schwager studiert
Informatik im sechsten Semester. Er war vorher bei der Armee, das dauert in
Armenien länger als in Deutschland. Wer in der Armee war, darf kostenlos
studieren. Tinas Schwägerin, also meine „Schwipp-Schwägerin“, ist
auch Studentin, sie studiert Ernährungswissenschaft.

 

Tagsüber bin ich oft alleine in der Wohnung. Um acht Uhr
gehen Vater und Mutter zur Arbeit, die Schwägerin studieren. Oft sind dann nur
noch mein Schwager, Tina und die Tochter mit mir zu Hause. Donara ist 18 Monate
alt, sieht aus wie ein deutsches Kind. Aber meine Schwester hat auch blaue
Augen und sehr helle Haut. Das Kind kann ein paar armenische Sätze, aber
inzwischen kann es auch „Hallo“ und „Tschüss“ auf Deutsch
sagen. Donara ist ein sehr aktives Mädchen, sie beißt jetzt immer.

 

Seit zwei Monaten lebe ich dort kostenlos. Alle helfen mir,
ich bezahle nichts für das Essen, nichts für das Wohnen. Inzwischen habe ich ja
Geld von Reinhard bekommen, aber ich lebe dort immer noch kostenlos. Ich bin
sehr beeindruckt davon, ich habe das nicht erwartet. Meine Mutter hat mir
gesagt, dass die ganze Familie sehr nett ist, aber es ist ja nicht meine
Familie, sondern die Familie meines Schwagers. Man kann sich so etwas in
Deutschland nicht vorstellen.

 

 

 

Am Anfang haben sie mich auch nie alleine irgendwo hingehen
lassen. Hauptsächlich Tina hat sich sehr viele Sorgen gemacht und ist immer mit
gegangen. Man muss sich daran gewöhnen. In Deutschland war ich bis ein Uhr oder
zwei Uhr nachts alleine auf der Straße, das ist in Armenien besonders für
Frauen gefährlich. Außerdem kann man leicht seine Tasche und sein Geld
verlieren. Auch an den Verkehr muss man sich gewöhnen. Am Anfang habe ich
geguckt, wenn die Ampel für Fußgänger grün wird. Aber man merkt davon nichts,
die Autos fahren manchmal weiter, wie sie wollen. Man muss ganz anders
aufpassen. Das kann ich inzwischen natürlich.

 

Als ich am Anfang mal um Mitternacht vom Internet-Café
alleine nach Hause gegangen bin, sagte Tinas Schwiegermutter, du darfst um die
Zeit nicht alleine nach Hause kommen. Sie hat dann gesagt, dass ich das natürlich
„darf“, aber sie meinte, es wäre zu gefährlich für mich. Ich meinte,
das wäre nicht gefährlich, aber sie sagte mir, doch, das ist gefährlich. Hier
gibt es andere Regeln.

 

Aber am wichtigsten ist Tina. Meine Mutter ist nicht hier,
mein Bruder nicht. Ohne Tina könnte ich nicht in Armenien leben. Überhaupt
nicht. Sie arbeitet nicht, sie hat ihr Studium abgeschlossen. Sie ist zu Hause
und ist bereit, mir immer zu helfen. Sie hat eigentlich keine Zeit, aber wenn
ich irgendetwas brauche, findet sie immer Zeit für mich. Als ich mich bei Frau
Büttner vorstellen sollte, das hatte Reinhard mir gesagt, hat sie mit mir die
Straße und das Haus gesucht, das hätte ich alleine nicht gefunden. Oder wenn
ich was einkaufen will, hilft sie mir. Am Anfang hat sich auch alles bezahlt.
Jetzt versuche ich etwas zurückzugeben. Ich muss natürlich nichts zurückgeben,
ich kaufe einfach etwas für das Kind, für sie, für den Haushalt, jetzt bezahle
ich das selbst, was ich bezahlen will. Wenn ich jemandem von der Familie Geld
geben würde, wären alle böse auf mich.

 

Meinen Vater sehe ich fast jeden Tag. Zwei- oder dreimal die
Woche kommt er auch zu Tina, dann reden wir bis zwei oder drei Uhr morgens, wir
erinnern uns und lachen. Dann übernachtet er bei uns, manchmal auch woanders.
Sonst wohnt er in Armavir, dort haben wir eine große Vier-Zimmer-Wohnung, da
wohnt er meistens alleine. Es ist sehr groß und sehr bequem. Aber ich kann da
nicht leben. Hier habe ich eine Chance, hier kann ich kostenlos ins Internet,
das geht in Armavir nicht. Für mich ist am wichtigsten, Kontakt mit Reinhard zu
haben und mit meinen Freunden in Flensburg. Außerdem muss ich mich auf die Uni
vorbereiten, das geht auch nur in Eriwan, der Hauptstadt. Das Haus in Armavir
hat fünf Etagen, es ist ein kleines Haus, aber die Wohnung ist sehr groß.
Armavir liegt an der Grenze zur Türkei. Das ist die wärmste Provinz in ganz
Armenien. Sehr trocken. Aber das Gemüse, Obst und alle Früchte sind sehr
lecker, die in Armavir wachsen. Hier habe ich meinen Kindergarten besucht, mit
der Schule angefangen und gewohnt, bis ich nach Deutschland flog.

 

Wie ich jetzt wohne, habe ich also erzählt. Ich kannte
Eriwan ja, bevor ich nach Deutschland kam. Man kann die Wohnungen nicht mit
Deutschland vergleichen. Es ist hier ganz anders, hier ist alles sehr alt. Es
gibt neue Häuser, seit ich geflohen bin, die sehen fast aus wie in Deutschland.
Aber die meisten Häuser sind sehr alt und werden nicht renoviert. Die Aufzüge
sind dreckig und sehr alt. Das kann man alles mit Flensburg nicht vergleichen.
Niemand hält hier etwas sauber, niemand renoviert, das interessiert hier
niemanden. Viele haben kein Geld, aber auch die, die Geld haben, interessieren
sich nicht dafür. Auch wenn ich Geld habe, warum soll ich das Haus oder den
Aufzug renovieren? So denken hier alle Leute.

 

Insgesamt wohnen die Leute besser als vorher, als ich
geflohen bin. Es gibt mehr Bewegung. Ich glaube, es kommt viel Geld aus dem
Ausland, aber es gibt auch mehr Arbeitsplätze. Es gibt auch viel Hilfe aus
Russland, den USA und aus der EU. Aber sehr viel Geld kommt privat aus dem
Ausland. Sehr, sehr viel Geld kommt nur dadurch.

 

Ich hatte mir schon in Deutschland überlegt: Wenn ich
abgeschoben werde, kann ich nicht in Armavir leben. Und ich hatte mir
vorgenommen, auch eine eigene Wohnung zu mieten, zusammen mit Freundinnen. Seit
dem ersten Tag suche ich eine Wohnung, eine normale Wohnung, wo man echt leben
kann. Doch bisher kann ich eine solche Wohnung nicht finden. Ich kaufe jede
Woche eine Zeitung, die heißt „Gind“. Dort sind viele Anzeigen für
Wohnung, zu verkaufen und zu vermieten. Die Zeitung hat keine Artikel, es sind
nur Anzeigen. In der Zeitung gucke ich auch nach Jobs. Die Zeitung kostet 150
Dram (1 Euro sind 540 Dram).

 

Eine renovierte Drei-Zimmer-Wohnung kostet 100.000 Dram im
Monat, das ist doppelt so teuer wie damals, als ich geflohen bin. Das sind 190
bis 200 Euro im Monat. Eine sehr gute Wohnung dieser Größe kostet 400 bis 600
Euro, im Zentrum sind die Wohnungen teurer als etwas weiter weg vom Zentrum.
Ich versuche mit einer Freundin eine Zwei-Zimmer-Wohnung zu finden, sie muss
aber weniger als 70.000 Dram kosten. Es gibt auch Drei-Zimmer-Wohnungen für
weniger als 50.000 Dram, aber da kann man überhaupt nicht leben. Ganz
schrecklich. Die sind dann ohne Wasser, unglaublich, man kann dort nur schlafen
und aufstehen. Das kann ich nicht. Wir suchen jetzt eine Wohnung zu Zweit oder
zu Dritt. Ich brauche ein eigenes Zimmer.

 

Wir, das sind zwei Freundinnen und ich. Ich habe viele
Freundinnen, aber bei den beiden würde ich sagen, es sind meine besten
Freundinnen. Es sind Tiruhi und Ester. Wir haben uns, glaube ich, mit 13 oder
14 kennen gelernt. Ich bin dann nach Deutschland geflohen, sie studieren
inzwischen im 8. Semester. Beide studieren in Eriwan Medizin, wo auch viele,
viele Ausländer studieren. Zwei oder drei Jahre haben wir überhaupt keinen
Kontakt gehabt, weil ich keine Zeit hatte, daran zu denken. Es war sehr
anstrengend für mich in Deutschland. Ich konnte nicht an sie denken. Zuletzt
hatte ich dann wieder viel Kontakt, sogar mit ihnen gesprochen, also
telefoniert. Jetzt habe ich zwei oder drei Mal in der Woche Kontakt mit ihnen.

 

Im Moment sind wir ja sechs Personen zusammen in einer
Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung, eine Katastrophe. Ich schlafe bei Tina im Zimmer,
immer mindestens zu zweit in einem Zimmer. Sonst bei der Schwägerin von Tina,
aber das ist das Wohnzimmer, wo wir dann schlafen. Wir sind beide gar nicht
eingeplant. Wir haben sonst alles, einen CD-Player von Sony, Video, Fernseher.
Wir haben zwei Fernseher, einer gehört mir, ich darf sehen, was ich will. Aber
ich kann kein deutsches Programm empfangen, das finde ich sehr langweilig. Ich
muss immer Russisch oder Armenisch hören. Wenn ich umziehe, brauche ich
unbedingt Satelliten-Empfang, das muss ich kaufen oder irgendwie besorgen.
Egal, ich muss das machen. Für mich gibt es sonst kein interessantes Programm,
das ich gucken kann.

 

Am interessantesten finde ich „Armenia-TV“, da
kann man viel hören von Deutschland. Es gibt auch Euro-News, das gucke ich
jeden Tag. Es gibt auch Kochsendungen, Quiz, auch seit einem Jahr
Gerichts-Shows. Aber das kann ich nicht gucken, denn das Gericht entscheidet
nicht immer richtig. Ich glaube, das Gericht entscheidet irgendwie, und niemand
darf sagen, wenn das Gericht falsch entscheidet. Hier haben alle Angst. Angst
vor dem Gericht, Angst dass sie Geld bezahlen müssen, wenn sie gesagt haben,
dass etwas falsch ist.

 

Musik kann ich immer hören. Das gibt keinen Streit wie in
Deutschland, das geht auch um 11 Uhr abends noch sehr laut. Nur das Kind kann
nicht schlafen, die Mutter hat immer was dagegen. Tina kommt immer: „Sona,
bitte lass mein Kind schlafen.“

 

Ich habe schon eine sehr gute Wohnung gefunden, zweieinhalb
Zimmer für 65.000 Dram, aber ich habe zu spät angerufen, jemand anders hatte
sie schon gemietet. Es gibt sehr viele freie Wohnungen in Armenien. Sehr, sehr
viele Häuser und Wohnung, zu verkaufen oder zu vermieten. Ich glaube, die meisten
sind nach Deutschland geflogen. Oder nach Amerika. Ich verstehe aber nicht,
warum die Wohnungen so teuer geworden sind. Vielleicht, weil auch viele zurückkommen.
Oder weil viele aus dem Ausland Geld schicken. Mein Schwager sagt, dass viele
Armenier aus dem Ausland Häuser oder Wohnungen kaufen, deshalb werden sie hier
teurer. Besonders alte Leute kommen zurück und haben Geld. Die jungen Menschen
gehen, die alten kommen – ich glaube, Armenien wird ein Altersheim.

 

Auf der Suche nach Deutschen

 

Als ich im August nach Armenien abgeschoben worden war,
wusste das erst keine von meinen Freundinnen aus Armenien. Ich war sehr
traurig. Ich hatte überhaupt keine Lust, mich mit jemanden zu treffen. Mit
Reinhard war ich auch sehr beschäftigt wegen meines Artikels. Aber die gleiche
Woche war ich im Internet-Café und ich war sehr überrascht. Ich hatte ungefähr
vierzig e-Mails aus Deutschland bekommen. Viele meiner Freunde aus der VHS und
DSH hatten mir geschrieben, auch unbekannte. Fast alles haben mir schöne Glückwünsche
geschickt, weil ich am achten August Geburtstag hatte. Dabei waren auch Anke
Spoorendonk vom SSW, Joachim Pohl vom Flensburger Tageblatt und alle meine
Lehrerinnen und Lehrer. Das war unglaublich, dass die alle so schnell gewusst
haben, dass ich abgeschoben bin. Nur einen Tag vor der Abschiebung hatte ich
beim Flensburger Tageblatt Praktikum gemacht.

 

Nach zehn Tage habe ich mir überlegt, mich mit allen meinen
Freundinnen zu treffen, aber das wäre an einem Tag unmöglich, weil es zu viel
sind. Ich habe nur meine besten Freundinnen die Medizin studieren, angerufen.
Tiruhi habe ich erreicht, weil sie in Eriwan wohnt. Die andere, Ester ist wie
ich in Armavir geboren und aufgewachsen. Sie war nicht zu Hause, aber ihren
Vater hat versprochen, dass er über mich nichts sagt, wenn sie nach Hause
kommt. Ich wollte sie überraschen. Ich dachte sie kann es gar nicht glauben,
weil ich am zweiten August noch mit ihr gesprochen habe, und über Abschiebung
haben wir gar nicht geredet. Einige Stunden später, als ich im Internet-Café
mit Reinhard telefonierte, hielt mir plötzlich jemand von hinten mit den Händen
die Augen zu. Als ich mich umdrehte, schrie Ester sehr laut. „Ich glaube
es gar nicht Süße, bist das du, warum hast du das nicht vorher gesagt?“ –
„Wenn ich gewusst hätte, was mit mir passiert, dann hätte ich dir auch was
gesagt.“ Sie sagte, dass ich mich sehr verändert habe. Wenn sie mich auf
die Straße gesehen hätte, hätte sie mich gar nicht erkannt. Ich konnte sie
nicht überraschen, das hatte ihr Vater für mich gemacht. Sie war sehr froh,
weil ich da war, aber auch sehr böse, weil ich schon 10 Tage in Armenien war,
und zwar sehr nah, und mich nicht bei ihr gemeldet hatte. Ich bat sie,
niemandem zu erzählen, dass ich wieder da bin, weil ich noch viel zu tun hatte
mit Reinhard. Aber nach zwei Tage war ich mit Tina in der Uni, und da habe ich
einen Schulfreund von mir getroffen. Das war wieder eine sehr große Überraschung.
Er hat sich sehr gefreut und versprochen, dass die ganze Klasse eine Party für
mich machen würde, damit ich alle treffen kann, auch alle meine Lehrerinnen und
Lehrer vom Gymnasium.

 

Außer zu meinen Freunden in Deutschland versuche ich auch in
Eriwan zu Deutschen Kontakt zu haben, aber das ist sehr schwer. Es gibt sehr
wenige in Armenien. Trotzdem hat es geklappt. Die erste Deutsche, die ich
gefunden habe, war Ruth Büttner. Sie arbeitet beim Deutschen Akademischen
Austausch Dienst (DAAD) in Armenien. Sie hilft allen Studenten, die in
Deutschland studieren wollen. Ich wollte gerne bei ihr ein Praktikum machen und
deshalb habe ich mich bei ihr gemeldet. Die Idee hatte natürlich Reinhard. Tina
und ich haben sehr lange gesucht, wo eigentlich Frau Büttner arbeitet, weil sie
gerade erst umgezogen war. Als wir reinkamen, wollte uns die Sekretärin, die auch
als Dolmetscherin arbeitet, zu Ruth begleiten, um zu dolmetschen, aber ich habe
erst sie auf deutsch begrüßt und bin dann gerade zu Ruth. Sie war sehr
freundlich zu uns und hat sich auch gefreut, weil Tina und ich mit ihr deutsch
sprachen. Sie sagte, dass ich meinen Lebenslauf schicken und auf die Antwort
warten sollte. So, ich warte noch.

 

Mein zweites Treffen mit einem Deutschen war sehr
interessant. Am 5. Oktober haben mich meine beiden Freundinnen zur Feier des
75. Geburtstages der Medizinischen Uni eingeladen, wo viele Besuchen aus dem
Ausland und auch aus Deutschland sind. Da konnte ich nicht absagen. Die ausländischen
Besucher saßen alle in den ersten zwei Reihen. Ich habe genau dahinter in der
dritte Reihe gesessen, weil ich unbedingt Deutsche suchen wollte. Viele von
denen haben spanisch, syrisch oder armenisch gesprochen. Ich war sehr enttäuscht,
aber die Hoffnung habe ich nicht verloren. Ich habe einen Mann, der mir gegenüber
saß, auf armenisch gefragt, ob es hier einen deutschen Gast oder Lehrer gibt.
Er antwortete mir auch auf armenisch: „Lehrer oder Lehrerin haben wir
nicht, aber der Gast bin ich, und es ist noch eine Frau aus Deutschland ist
da.“ – „Was“, habe ich gefragt, „Sie sind aus
Deutschland?“ – „Ja“, sagte er und guckte mich komisch an. „Ich
auch“, habe ich jetzt schon auf deutsch gesagt. Er lachte und hat sich
vorgestellt. Wir habe lange zusammen gesprochen. Er hatte in Eriwan sieben
Jahre Medizin studiert. Er sprach fast perfekt Armenisch. Er glaubte nicht,
dass ich nicht in Deutschland geboren bin, und dass ich nur drei Jahren da
gelebt habe. Er sagte, dass ich sehr gut deutsch kann und zwar ohne Akzent. Am
Ende war ich sehr zufrieden und auch dankbar meinen beiden Freundinnen gegenüber,
weil die genau wissen, dass ich sogar auf der Straße nach Menschen suche, die
deutsch sprechen.

 

Mein bestes Treffen war das letzte, als ich eine
deutsch-armenische Familie aus Kiel kennen gelernt habe. War natürlich wieder
Reinhards Idee. Kristine, Martins Frau, kommt aus Armenien, und Martin ist ein
toller Deutscher. Also, eine außergewöhnliche Familie. Die waren zusammen in
Eriwan im Urlaub. Wir mussten uns alle treffen, weil Martin mir aus Deutschland
Geld und eine Digitalkamera von Reinhard mitgebracht hatte. Zwei Tage haben wir
uns gegenseitig angerufen, aber immer waren ich oder sie nicht erreichbar.
Schließlich habe ich Kristines ihrer Mutter gesagt, dass sie mich auch sehr spät
am Abend anrufen könnten.

 

Am gleichen Abend hatte Eriwan 2787. Geburtstag. Es war eine
sehr große Party in der Stadt. Viele Leute liefen hin und her. Tina, mein
Schwager und ich waren auch da. Wir sind vor der Oper, wo auch viele Leute
waren, spazieren gegangen. Plötzlich habe ich hinter mir deutsch gehört. Ein
altes Ehepaar aus Bayern. Das habe ich selber verstanden, ich glaube, alle
kennen die bayerische Sprache. Die suchten einen bestimmten Platz, und als ich
näher kam, fragte ich, ob ich helfen kann. Der Mann hat seine Frau angeguckt
und die Frau ihren Mann, und beide zusammen haben mich gefragt, ob ich deutsch
kann. Der Mann war sehr froh und sagte mir: „Es ist eine große Überraschung,
wenn man im Ausland von jemanden seine eigene Muttersprache hört.“ Die
sind mit einem Maler aus Armenien, der ein Hochschullehrer in Frankfurt ist,
nach Armenien gekommen. Die wollen unbedingt den Berg Ararat fotografieren und
dafür mussten die nach Armavir, wo ich geboren bin, fahren. Denn da kann man
den Berg deutlich sehen. Tina und ich haben ungefähr 20 Minuten mit ihnen
gesprochen. War sehr nett, Tina hat sich auch sehr gefreut, weil sie wenig mit
Deutschen Kontakt hat.

 

 

Dann sind wir wieder weiter zum Geburtstag gelaufen. Auf dem
Weg habe ich Tina gesagt, dass hier bestimmt irgendwo auch Kristine und Martin spazieren,
weil ihre Mutter mir gesagt hat, dass sie auch in der Stadt sind. Nach ein paar
Minuten habe ich wieder hinter mir deutsch gehört. „Was ist los mit
Erivan?“, sagte ich. „Alle reden deutsch?“ Ich gucke mich um,
und was sehe ich da: Martin, Kristine und Freunde. „Was ist für ein
Zufall,“sagte Kristine. „Ja, endlich habe ich euch beide getroffen,
vielleicht sollten wir uns so zufällig treffen?“

 

Es war sehr lustig, als Martin am Anfang mit mir Englisch
sprach. Wir habe gelacht, und ich sagte zu Martin: „Hallo Martin, ich
spreche auch deutsch, ich bin Sona.“ – „Ach ja, Sona, du warst ganz
anders auf den Fotos im Gegenwind. Sie haben mich sofort eingeladen, aber ich
musste absagen, weil ich nicht allein war. Dann habe wir uns verabredet, um uns
am nächsten Abend zu treffen.

Sona Shirvanyan

 

(Fortsetzung im Januar)

 

(Sona freut sich wenn ihr www.gegenwind.info lest)

sona gegenwind