Die Situation und die Rolle des Staates in Frankreich

Korrespondenz:

Mit einer Selbstmordserie in einer ganzen Reihe von Unternehmen in Frankreich hat der Imperialismus wieder auf erschütternde Weise sein rücksichtsloses, brutales Wesen offenbart. Ein Blick in unser Nachbarland Frankreich zeigt auf, dass die Angriffe der Banken und Konzerne mit aktiver Unterstützung des bürgerlichen Staates schon seit vielen Jahren an Härte zunehmen. Wie in Deutschland, so auch in Frankreich sehnt sich ein Teil der Linken nach der „guten alten Zeit“, als der bürgerliche Staat sich angeblich noch mehr um die Interessen der Menschen scherte als heute.

In einem der entwickeltsten Industriestaaten der Erde gehen Manager von Unternehmen, getrieben von Profiterwartungen und dem Druck der Konkurrenz mit Kompromisslosigkeit und Härte gegen ihre Belegschaften vor. Mit Erpressungs- und Unterdrückungsmaßnahmen sowie Arbeitshetze werden Arbeiter, Angestellte und auch ein Teil der Beamten ständig einer Stresssituation ausgesetzt, denen viele Menschen nicht stand halten können. Immer mehr Menschen werden psychisch krank, verfallen in tiefe Depressionen und resignieren. Nicht erst mit dem Einsetzen der Wirtschaft- und Finanzkrise, sondern schon viele Jahre lang hat sich die Situation in Frankreich verschärft und nun einen traurigen Höhepunkt erreicht. Immer mehr Menschen verfallen in Depression und Resignation, verursacht durch die Bedingungen am Arbeitsplatz. Immer mehr Menschen treibt der psychische und körperliche Dauerstress in den Selbstmord. Den traurigen Rekord, eine ganze Selbstmordserie in Frankreich, hält der Konzern France Telecom (1). Inzwischen ist die Zahl der Selbstmorde im Konzern France Telecom, ausgelöst durch unerträgliche Arbeitsbedingungen, auf 30 Menschen in 24 Monaten angewachsen! In immer mehr Unternehmen Frankreichs, wie z.B. bei Renault etc. werden Selbstmorde ausgeübt, weil Mitglieder der Belegschaft dem Druck und der Hetze nicht standhalten können und zuletzt keinen anderen Ausweg mehr sehen als den Freitod. Mit dieser Selbstmordserie beweist der Imperialismus gleich zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein weiteres Mal mehr, das er sein grundlegendes Wesen keineswegs geändert hat. Man sollte beachten, dass Frankreich in Hinsicht psychischer Erkrankungen und Selbstmorden, bedingt durch schlechte Arbeitsbedingungen, im internationalen Vergleich keine „Ausnahmeerscheinung“ darstellt. Ebenso wie in Frankreich, ist die Zunahme psychischer Erkrankung in Deutschland längst nicht mehr zu leugnen.

So hieß es erst kürzlich in einem Kommentar in der Süddeutschen Zeitung über die Thematik : „Die psychisch bedingten Arbeitsausfälle haben sich in den vergangenen 20 Jahren fast vervierfacht. Angststörungen und Depressionen sind die häufigsten Erkrankungen, so der Bundesverband der Betriebskrankenkassen (BKK) in einer aktuellen Untersuchung.“ (2)

Doch warum hat gerade in Frankreich eine ganze Serie von Selbstmorden stattgefunden, die nachweisbar auf Arbeitshetze in den Betrieben zurückzuführen ist? Denn immerhin wurde doch gerade Frankreich in den bürgerlichen Medien als ein Land dargestellt, in dem angeblich alles etwas gemächlicher und ruhiger ablaufen würde. Ein „zentralistischer Staat“, so das skizzierte Bild, würde für die Belegschaften umfangreiche Sozialprogramme erstellen und strenge Arbeitsschutzgesetze auflegen. Des weiteren kann man mit der häufigen Vermittlung von Bildern, die Massendemonstration in Frankreich zeigen, leicht den Eindruck gewinnen, in Frankreich seien die allermeisten Arbeiter und Angestellten in kämpferischen Gewerkschaften organisiert, die jegliche Angriffe des Kapitals unmittelbar abwehren. War und ist die Situation in Frankreich also eine ganz andere als in Deutschland oder ist diese nur entstellt dargestellt worden?

Selbst innerhalb der Linken sind einige Klischees über eine Arbeits- und Lebenswelt in Frankreich gepflegt worden, als wäre in diesem Land alles ganz anders und als wären vielerlei Dinge, wie z.B. die Arbeitswelt, mit der in Deutschland kaum zu vergleichen. Dank des ausgeprägteren staatskapitalistischen Sektors sei in Frankreich vieles sozialer, so eine wichtige Begründung dieser These.

Der staatkapitalistische und der privatwirtschaftliche Sektor in Frankreich

In den Industrieländern Europas entwickelte sich der Staatskapitalismus früher als anderswo. Eine Weiterentwicklung des Staatskapitalismus fand in Frankreich, wie in anderen Ländern aufgrund verschiedener Faktoren statt (3). Tiefgreifender als in anderen Staaten Europas fanden in den Jahren 1945-46 Verstaatlichungen von Schlüsselindustrien statt. Vor allem Kohle, Stahl, Teile der Autoindustrie, Dienstleistungsunternehmen und Energiekonzerne wurden nunmehr zu staatskapitalistischen Unternehmen umgewandelt und teilweise ausgebaut. Selbst ein von Jean Monner entwickelter Fünfjahresplan (1947-53) sollte den Wiederaufbau und die „Modernisierung“ von Frankreichs Wirtschaft unterstützen. Freilich dürften die Bereiche in denen der Staat mehr Verantwortung übernahm, nach dem Krieg nicht besonders rentabel gewesen sein, so dass diese einfach dem Staat „überlassen“ worden sind (4). Unrentable Bereiche werden bekanntlich mit dem Geld der Steuerzahler subventioniert.

Doch die Gestaltung des Wiederaufbaus der Wirtschaft durch einen umfangreichen staatskapitalistischen Sektor und mit dem Ausbau des Öffentlichen Dienst (Service Public) erwies sich wohl auch als effektiver, als von bürgerlichen Ökonomen zumeist zugegeben wird. In den Jahren 1981-82 kam es immerhin noch zu einer zweiten Verstaatlichungswelle von Teilen des Großindustrie und des Bankenwesens (5). Mit einem von Staats- und Monopolvertretern eingeleiteten Kurswechsel wurde Mitte der achtziger Jahre die Wirtschaftspolitik Frankreichs revidiert.. Begonnen wurde mit einer Reihe von Privatisierungen von Banken, Versicherungen und Industrieunternehmen (6).

Wie in Deutschland warben die Kapitalvertreter in Frankreich immer wieder mit den gleichen Reizwörtern: „wirtschaftliche Modernisierung“, „Ausbau der Dienstleistungsgesellschaft“, „mehr Wettbewerb“, „besserer Service“, ergäben sich vor allem durch Privatisierungen. Der staatskapitalistische Sektor sei in vielen Bereichen zu träge und in Zukunft nicht mehr finanzierbar, hieß es in Deutschland ebenso wie in Frankreich aus den Reihen der Vertreter des Finanzkapitals. Mitte der achtziger Jahre zog sich der Staat in Frankreich aus bestimmten Bereichen zurück – nicht in erster Linie durch die Forderungen von Ökonomen und bürgerlichen Ideologen der wirtschaftsliberalen Schulen, sondern durch den Druck der weltweiten Entwicklung der imperialistischen Ökonomie, also durch materielle Veränderungen der Realwirtschaft. Das Kapital war weltweit auf der Suche nach neuen Profitbereichen und nahm hierzu einschneidende Veränderungen vor. Die einsetzende Senkung der Staatsquote, der Rückbau des staatlichen Sektors, ist jedoch nicht, wie von manchen Globalisierungskritikern behauptet, damit gleichzusetzen, dass der bürgerliche Staat nunmehr eine schwache Rolle einnimmt. Die politischen Vertreter des Kapitals setzten die Anforderungen und Aufgaben aktiv um und unternahmen große Anstrengungen dafür, soziale Errungenschaften, das bisherige Sozialsystem auszuhebeln und Privatisierungen durchzuführen bzw. Staatsbetriebe mit Aussicht auf hohe Profite an die Privatwirtschaft zu verjubeln. Der staatsmonopolistische Kapitalismus bleibt entgegen den Behauptungen bestehen!. Die Monopolparteien rechtfertigten Privatisierungen mit den üblichen Argumenten. Angeblich verbessern die Privatisierungen den Wettbewerb und bringen damit einen besseren Service für die Verbraucher mit sich. Da der Staatskapitalismus (Capitalisme d’ Etat) in Frankreich einen entscheidenden Beitrag zum industriellen Aufbau des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg geleistet hatte und damit für gewisses Ansehen in weiten Teilen der französischen Bevölkerung sorgte, verlief dieser Prozess natürlich nicht reibungslos und widerstandslos. Immer wieder war er von heftigen Widerständen und Protesten begleitet. Doch setzte sich das Kapital mit seinen Vorhaben oftmals letztendlich durch. Für ihr Engagement wurden die Monopolparteien und ihre bürgerlichen Regierungsparteien von nationalen und internationalen Banken, Konzernen und Organisationen des Kapitals belohnt und öffentlich gelobt. Ein solches Lob sprach beispielsweise die OCDE (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) aus. Der OECD- Bericht von 2004 lobt die Entwicklung Frankreichs in den letzten zwei Jahrzehnten. Frankreich habe wichtige Reformen übernommen, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Landes sei verbessert worden und die Bürger würden von weiteren Verbesserungen des Regulierungssystems profitieren, so einer der Kernaussagen des Berichts (7). Der Bericht unterstreicht des weiteren, dass Frankreich die Rolle des Staates in der Wirtschaft verringere und seine Märkte dem Wettbewerb weit geöffnet hat. Dennoch, so der Bericht weiter, zeigen sich im Land noch Schwächen. Angemerkt wurde u.a., dass die Arbeitslosigkeit hoch geblieben ist, die französische Bevölkerung rasch altert (!) und die öffentlichen Ausgaben im Vergleich zu anderen OECD- Ländern hoch sind. Das sich diese Erscheinungen gerade mit den Forderungen und bisherigen Reformen eher noch verstärkt haben, wurde natürlich nicht zugegeben. In die gleiche Richtung gingen die Forderungen der Europäischen Zentralbank (EZB). Nach Ansicht der EZB würde ein Ausgabenniveau von 20 Prozent des Bruttoinlandsproduktes reichen, um staatliche Kernaufgaben abzudecken. Gemeint waren mit staatlichen Kernaufgaben vor allem die Grundversorgung im Bildungs- und Gesundheitswesen und die öffentliche Infrastruktur (8).

Die Forderung nach Senkung der Staatsquote auf 20 Prozent stellte die EZB an den gesamten Euro-Raum. Frankreich als Spitzenreiter innerhalb der EU bei der Staatsquote, geriet dabei besonders ins Visier. Allein im Zeitraum 2006 bis 2008 sank die Staatsquote von 54 Prozent auf 52,5 Prozent. Aufgaben, wie die Versorgung mit Energie, die Serviceleistungen des Telefon- und Postwesen etc., die bisher vom Staat bereitgestellt wurden, kamen auf den Prüfstand. Unrentable, für das Kapital nicht verwertbare Bereiche wurden weiterhin als Aufgabengebiet des Staates angesehen, sprich, der steuerzahlenden Bevölkerung. Filetstücke allerdings, die Aussicht auf Profit versprachen wurden herausgelöst. Ehemalige Staatsbetriebe wie die France Telecom oder Electricite de France (EDF) wurden privatisiert. Von den französischen Monopolparteien, die sich als aktiver Wegbereiter und Umsetzer beteiligten, wurden die selben Versprechungen über die Vorteile von Privatisierungen verbreitet, wie anderswo auf der Welt auch. Angeblich mehr Wettbewerb durch einen freien Markt, besserer Service und günstigere Verbraucherpreise, eine bessere Qualität natürlich auch, denn so das Credo des Kapitals, alles was vom Staat kommt, ist träge, unflexibel und erzeugt eine schlechte Qualität. Doch die angepriesenen Früchte, stellten sich immer mehr als verdorbene Früchte heraus. Die Arbeitslosigkeit in Frankreich, besonders die Jugendarbeitslosigkeit stieg steil an. Der alte Service, den die Staatsbetriebe noch anbieten konnte, ging verloren, die Verbraucherpreise stiegen an. Nunmehr versucht die französische Regierung unter Nicolas Sarkozy die Bevölkerung zu beschwören, als hätte die französische Bevölkerung all die „großen Errungenschaften“ der Privatisierung nicht mitbekommen, die Post (La Poste) in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln. Angeblich sei eine Privatisierung des Staatsunternehmens nicht geplant. Doch in Frankreich sind die wahren Pläne der Regierung einfach zu durchsichtig. In einer informellen Volksbefragung im Oktober sprachen sich 90 Prozent gegen die Privatisierungspläne der Regierung aus(9)!


Zurück zu mehr Staatskapitalismus?

Wie in Deutschland, so haben auch die Erfahrungen in Frankreich gezeigt, dass Privatisierung von staatlichen Unternehmen oder Bereichen gleichzusetzen sind mit Massenentlassungen, verstärkter Arbeitshetze und schlechteren Service als zuvor. In bestimmten Fällen stieg mit der Privatisierung, in sensiblen Bereichen die Unfallgefahr (Eisenbahnnetz, Energienetz etc.). Von den Verschlechterungen bei Privatisierungen im Gesundheitswesen einmal ganz abgesehen. Doch nun in Nostalgie an die angeblich gute alte Zeit zu verfallen, wäre ein Trugschluss. Ob nun ein staatlicher oder ein privater Betrieb, im Kapitalismus haben die Arbeiter und Angestellte nicht die Verfügungsgewalt. Schon Enver Hoxha wies auf die Illusionsmacherei von reformistischen und revisionistischen Kräften hin, die Staatskapitalismus mit Sozialismus verwechselten oder gleichsetzten: „Diejenigen, die den ‚öffentlichen Sektor’ leiten, sind keine Arbeitervertreter, sondern Leute des Großkapitals, jene, die an den Schaltstellen der gesamten Wirtschaft und des Staates sitzen.“ (10) Ebenso, wie bewährte, historische Erfahrungen der Arbeiterbewegung mit diesem Thema weist uns die jetzige Wirtschafts- und Finanzkrise auf haarsträubende Fälle hin, in denen staatliche oder halbstaatliche Banken und Konzerne (Beispiel Landesbankenen) Milliarden Euro verzockt haben und nun mit Riesensummen durch die Steuerzahler gerettet werden sollen!

Unsere Aufgaben sollten sein, die ökonomischen Triebkräfte zu untersuchen, die den Sozialismus objektiv vorbereiten helfen. Privatisierungsvorhaben wie jetzt im Fall von „La Poste“ in Frankreich sind abzulehnen. Mit unseren Möglichkeiten sollten wir uns solidarisch zeigen mit den Privatisierungsgegnern. Jedoch sollten wir uns auch immer der Grenzen des Staatskapitalismus bewusst sein und diesbezüglich auf diese Grenzen hinweisen!

ro


Anmerkungen und Quellenangaben:

(1) Vgl. Arbeit Zukunft, Nr.6-2009, „25 Selbstmorde in 18 Monaten!“

(2) Quelle: Süddeutsche Zeitung vom 19./20.12.2009, „Gemobbt und ausgebrannt“

(3) Vgl. Enver Hoxha, Eurokommunismus ist Antikommunismus, Verlag RM 1980, S.125.

(4) Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink, Einführung in die Landeskunde Frankreichs, Verlag J.B. Metzler, S.81/82

(5) ebenda, S.82

(6) Vgl. Informationen zur politischen Bildung Nr.285, Frankreich, S.13, „Kurswechsel ab 1983“.

(7) Quelle: www.oecd.org/document: „Frankreich benötigt weitere Regulierungsreformen zur Stärkung der Wirtschaft

(8) Quelle: www.welt.de: „EZB für die Senkung der Staatsquote auf 20 Prozent.“

(9) ND vom 14.10.2009, „Votum gegen Post- Privatisierung“

(10) Vgl. Enver Hoxha, Eurokommunismus ist Antikommunismus, Verlag RM 1980, S.126