Stuttgart: „Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns den Bahnhof klaut!“

Eine solche Demonstration hat Stuttgart schon lange nicht mehr gesehen. Rund 10.000 Bürgerinnen und Bürger versammelten sich am Freitagabend, dem 29. Januar mit Topfdeckeln, Tröten, Trillerpfeifen, Trommeln vor dem Hauptbahnhof und der Zentrale der Landesbank Baden-Württemberg, um gegen das Milliardengrab „Stuttgart 21“ und den Bahnchef Grube zu demonstrieren.

Es begann mit einer Spontandemonstration, die vom Rathaus durch die Innenstadt ging. Die Polizei versuchte hilflos, diese zu stoppen. Doch die wütenden Bürgerinnen und Bürger, die nicht dem Polizeischema von „linken Demonstranten“ entsprachen, umgingen die Polizeisperren, tauchten an den verschiedensten Stellen wieder auf, machten mit ihren mitgebrachten Instrumenten einen ohrenbetäubenden Lärm, sodass alle Polizeiaufrufe, die illegale Aktion zu beenden, untergingen. Schließlich musste die Polizei kapitulieren, denn ein gewaltsames Vorgehen wollte sie angesichts des tief in der Bevölkerung verankerten Protestes vermeiden. Die Polizei bot daher an, die Demonstration zu erlauben und ein Polizeifahrzeug fuhr vor der Demonstration her. Der Verkehr in der Innenstadt brach zusammen. Trotz aller Bemühungen der Polizei, dies zu verhindern, zog aber ein beträchtlicher Teil der Demonstranten direkt durch die Fußgängerzone Stuttgarts, die jetzt im Winterschlussverkauf besonders belebt war. In Stuttgart sind nämlich seit langem Demonstrationen direkt im Kern der Stadt verboten, weil das die großen Kaufhauskonzerne in ihren Geschäften stört. Gegen eine rebellische Bevölkerung ist es jedoch schwer, solche undemokratischen Verbote durchzusetzen.

Am Bahnhof war es dann noch heißer. Der gesamte nördliche Vorplatz des Bahnhofes war voll – ein riesiger Platz und ein nicht überschaubares Menschengewimmel. Hinter Absperrgittern saß Bahnchef Grube in der Landesbank, wo ihn die Stuttgarter Nachrichten eingeladen hatten. Grube wollte auch die Protestaktion nutzen, um den Widerstand zu brechen. So kam er zum Podium und verlangte, zu den über 10.000 sprechen zu dürfen. Dies wurde ihm gewährt, doch er machte sich keine Freunde mit seiner Ansprache, die von wütenden Pfiffen und ungeheurem Lärm begleitet wurde. Er versuchte, sich einzuschleimen, indem er bedauerte, dass seine Vorgänger eine so schlechte Informationsarbeit gemacht und mit den Gegnern nicht kommuniziert hätten. Er wolle das besser machen und einen ehrlichen Dialog führen. Das sagt ein Mann, der noch schnell gegen den Willen der Mehrheit der Stuttgarterinnen und Stuttgarter die endgültigen Finanzierungsverträge unter Dach und Fach gebracht hat und öffentlich verkündete, mit dem Spatenstich zu Stuttgart 21 werde der Protest hoffentlich in sich zusammen fallen. Das sagt ein Mann, der die nun offiziellen Gesamtkosten von 4,9 Mrd. Euro Trickreich auf 4,1 Mrd. Euro herunterrechnen ließ, um Stuttgart 21 mit aller Gewalt durchzusetzen. Denn bei einer Überschreitung von 4,5 Mrd. Euro sollte Stuttgart 21 abgesagt werden. Um auf 4,1 Mrd. Euro runterzukommen und den Baustart zu ermöglichen, wurden z.B. die Sicherungsmaßnahmen für die Tunnelstrecken abgespeckt. Die Tunnelröhren werden nun dünner und mit weniger Beton hergestellt, was bei dem schwierigen geologischen Untergrund von Stuttgart ein hohes Risiko birgt. Ob diese Geisterfahrt ins Gruselreich der Stuttgart21-Jubler vom Eisenbahnbundesamt genehmigt wird, steht in den Sternen. Aber Grube und seine Hintermänner hoffen, dass bis dahin der Bau soweit ist, dass er nicht mehr gestoppt werden kann. Und dann wären auch immense Verteuerungen „kein Problem“ für diese Herren mehr. Sie zahlen ja nicht. Das Volk zahlt ihre Rechnungen! Grubes Anbiederung wurde von den Demonstranten durchschaut und so verzog er sich rasch wieder. Ob das Pressegespräch in der Landesbank dann wirklich toll war, war nicht zu erfahren, kann aber angesichts des ungeheuren Lärms bezweifelt werden.

Zufall war es wohl nicht, dass Grube in der Landesbank gastierte, denn dort sitzt ein Teil der Hintermänner des unsinnigen Milliardenprojektes: die Banken, Immobilienhaie, Großinvestoren. Diese wittern alle ein gutes Geschäft auf Kosten der Steuerzahler. Diese alle wollen das Projekt auch gegen die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung erzwingen. In Umfragen waren rund 60% der Stuttgarterinnen und Stuttgarter gegen dieses Projekt.

Nach Grube sprachen Vertreter der Bewegung gegen Stuttgart 21. Ein Blinder erläuterte, wie sich die Situation für Behinderte verschlechtern würde, wenn in Stuttgart ein unterirdischer Durchgangsbahnhof gebaut würde. Ein Ingenieur erläuterte die wahnsinnigen Konsequenzen dieses Projektes. Ein Redner prangerte an, dass eine Tunnelbaufirma, die an Stuttgart 21 größtes wirtschaftliches Interesse hat, der CDU zur Bundestagswahl 70.000 Euro gespendet hat. Mehrere, leider nicht so gute Musikbeiträge umrahmten das Programm, lockerten aber die Stimmung auf und brachten Schwung. Als die zweieinhalbstündige Kundgebung beendet war, hatten wir alle „Arbeit Zukunft“ verteilt.

Eindrucksvoll hat sich hier nach dem Aufstand der Daimler-Arbeiter in Sindelfingen in unserer Region erneut gezeigt, was eine Volksbewegung auf die Beine stellen und bewegen kann. Die ungeheure Kraft, die in den Massen steckt, die aufgestaute Wut auf dieses System wurden hier spürbar. Wenn all dies eines Tages aufbricht, werden die Herrschenden nichts zu Lachen haben. Ebenso wurde spürbar, wie jung, frisch und kreativ das Volk ist. Wie der Zukunft zugewandt, fortschrittlich und lebendig viele Menschen sind und wie sie sich in einer solchen Massenbewegung rasch entwickeln. Menschen, die eben noch unpolitisch waren, lernen hier in einer ungeheuren Geschwindigkeit sehr viel über die politischen Verhältnisse und die Macht in unserem Land. Sie sehen die Rolle des staatlichen Gewaltapparates mit eigenen Augen. Sie erkennen die Rolle des Kapitals. Sie merken, dass die Demokratie nur eine Fassade ist, hinter der das Kapital alle Fäden zieht und die Macht hat. In einer solchen Bewegung werden Forderungen nach vollen demokratischen Freiheiten wie z.B. uneingeschränktem Streik- und Demonstrationsrecht oder nach einer wirklichen Herrschaft des Volkes schnell aufgenommen und als notwendig für den eigenen Kampf erkannt.

Eindrucksvoll war ebenso, dass dies keine Aktion „der linken Kräfte“ war, sondern der breiten Mehrheit der Bevölkerung. Die Bewegung gegen Stuttgart 21 ist tief in der Bevölkerung verwurzelt. Hier machen nicht ein paar Linke bei einer Demo Erfahrungen mit Polizei, Staat und Kapital – ohne dass dies die Arbeiterklasse und das Volk erreicht. Hier treten die Arbeiterklasse und das Volk selber auf den Plan. Mit der Krise des kapitalistischen Systems werden in den kommenden Jahren solche Bewegungen immer stärker auftreten und die Menschen werden immer rascher lernen, in welchem System sie leben. Das ist ermutigend und zeigt zugleich die Notwendigkeit einer Partei, die die Interessen der Arbeiterklasse und des Volkes vertritt und in solchen Bewegungen für diese Ziele eintritt.

Schon mehrfach haben wir über Stuttgart 21 berichtet. Wer sich also weiter informieren will, findet unter den folgenden Links weiteres Material:
http://www.arbeit-zukunft.de/index.php/item/1090

http://www.arbeit-zukunft.de/index.php/item/747
http://www.arbeit-zukunft.de/index.php/item/721


Weitere Infos zum Widerstand gegen Stuttgart 21 unter:
http://www.kopfbahnhof-21.de/

http://www.parkschuetzer.de