Envio Dortmund – nach dem Umweltskandal jetzt auch ein Justiz-Skandal?

Zu Beginn des Juli gab es vor dem Dortmunder Landgericht die erste Befragung eines medizinischen Gutachters über die gesundheitlichen Gefahren, die von den PCB-Verbindungen ausgehen. (siehe auch vorherigen Bericht in „Arbeit Zukunft“, Nr.4/12, S.16; im Internet http://www.arbeit-zukunft.de/index.php?itemid=1885) Bis dahin hatte es – abgesehen vom ersten Prozesstermin – nur langweilige Verhandlungstage gegeben mit stundenlangem Verlesen von Dokumenten aus den Genehmigungsauflagen der Bezirksregierung Arnsberg und den Stellungnahmen von Envio dazu.

Die derzeitige Entwicklung gibt zur Sorge Anlass. Schon die Berichte in den Medien erweckten – die Darlegungen des Sachverständigen Albert Rettemeier von der Universität Duisburg-Essen entstellend – den Eindruck, gesundheitsschädigende Auswirkungen von PCB-Stoffen seien nicht bewiesen und nicht nachweisbar. Am 19. Juli brachten die Medien Meldungen mit zum Beispiel folgender Überschrift: „Envio-Prozess steht vor dem Aus.“ Das wirft die Frage auf:

Wird aus dem Umweltskandal nun auch ein Justizskandal?

Diese Befürchtung wird durch das bisherige Verhalten des Richters Kelm nicht gemildert. Die Verteidigung hatte an den vergangenen Prozesstagen mehrfach Anträge gestellt, die laut Prozessordnung nicht hätten zugelassen werden müssen; der Staatsanwaltschaft bzw. die Vertretung der Nebenkläger haben jedesmal gegen die Zulassung dieser Anträge protestiert, doch das beeinflusste den Richter nicht – er ließ die Anträge nach eigenem Ermessen zu. Wenn ein Prozessbeobachter den Eindruck bekommen haben sollte, der Richter sei den Angeklagten bzw. deren Verteidigern wohlgesonnen, so können wir das verstehen.

Auch beim ersten Sachverständigen-Termin ging die Verteidigung so vor und kam sich wohl besonders schlau vor, weil sie die (alten) Gutachten des geladenen Sachverständigen Rettemeier zugunsten ihrer Mandanten auslegte. Als der dann aber zu Wort kam – er berichtete mehr als zwei Stunden lang über die wissenschaftlichen Erkenntnisse über PCB und nahm zu Rückfragen Stellung – da schwamm der Verteidigung ein Fell nach dem anderen davon.

Vor allem aus seinem Bericht geben wir nur einige Dinge wieder; er war sehr ausführlich und wir hoffen, uns unterläuft im folgenden kein Fehler.

PCB-Verbindungen sind – wie Dioxine und Furane – künstliche, vom Menschen geschaffene Stoffe. Das bedeutet: es gibt in der Natur so gut wie keine abbauenden Organismen (Destruenten), die diese Stoffe in ihre Bausteine zerlegen und so dem Stoffkreislauf wieder zuführen; für die wenigen Bakterienstämme, die über entsprechende Gene verfügen, ist der Abbau anderer, natürlicher Stoffe ertragreicher. PCB-Verbindungen sind außerdem wasserunlöslich, aber fettlöslich, sie lagern sich daher z.B. im Fettgewebe ab und reichern sich dort an. Bei PCB-Verbindungen handelt es sich um zahlreiche unterschiedliche Stoffe (englische Autoren sind bisher auf 209 verschiedene Stoffe gekommen), die sich durch die Anzahl und die Position der in ihnen enthaltenen Chlor-Atome unterscheiden („PC“ bedeutet „Poly-Chlor“, also [unterschiedlich] viel Chlor). Dabei kann es sich um eine Verbindung mit nur wenigen Chlor-Atomen handeln oder um eine mit zahlreichen. Man weiß, dass die Verbindungen mit wenigen Chlor-Atomen ( = niederwertige PCBs) eine kürzere Halbwertszeit haben als die mit vielen ( = hochwertige PCBs), dass sie also „schneller“ abgebaut werden.

Als man die Gefährlichkeit der PCB-Verbindungen erkannte, wurde ihre Verwendung in Deutschland 1989 und am 22. Mai 2001 weltweit verboten. Da sie verboten waren, erschien es auch nicht mehr notwendig, weitere wissenschaftliche Forschungen über die Wirkungen der unterschiedlichen PCB-Verbindungen durchzuführen. (Darauf beruft sich die Verteidigung jetzt). Es ist klar, dass jede Verbindung anders wirkt, aber man weiß (oder wusste bis zum Envio-Skandal) nicht, welche dieser zahlreichen Verbindungen ab welchem Grenzwert bei wem welche Schäden hervorruft. Daher hat man für den Sammelbegriff „PCB“ auch keinen Grenzwert, der nicht überschritten werden darf, sondern nur einen sogenannten Präferenzwert, dem eigentlich nur Vermutungen über mögliche Auswirkungen zugrunde liegen. Sicher war allerdings schon vor mehr als 20 Jahren, dass alle PCB-Verbindungen die Gesundheit schädigen.

Der Envio-Skandal hat dazu beigetragen, dass die wissenschaftlichen Forschungen wieder aufgenommen wurden. Und so konnte Herr Rettemeier nun auch neue gesicherte Erkenntnisse mitteilen, um die seine früheren, von der Verteidigung zitierten Gutachten natürlich ergänzt werden müssen. So ist inzwischen gesichert nachgewiesen, dass niederwertige PCB-Verbindungen das Erbgut schädigen. Die Verteidigung versuchte hier, durch ein Schlupfloch zu entkommen, und wies darauf hin, dass diese neuen Erkenntnisse ja noch nicht der Gesetzgebung zugrunde lägen und deshalb ihre Mandanten auch nicht… Dieser Fluchtversuch wurde allerdings vom Sachverständigen vereitelt.

Die Anklage beantragte dann, dass eine erneute medizinische Untersuchung der Envio-Geschädigten durchgeführt wird, was wir für unbedingt erforderlich halten, schon um solchen Strategien wie denen der Verteidigung in Zukunft begegnen zu können. Die Reaktion auf diesen Antrag war bezeichnend: die Verteidigung wollte die Untersuchung beschränken auf eine relativ kleine Zahl der geschädigten Envio-Arbeiter, nämlich auf die, bei denen sie eine höhere PCB-Belastung im Blut nicht leugnen kann. Staatsanwaltschaft und Nebenklage forderten die Untersuchung von allen möglicherweise Betroffenen. Nun weiß jeder, dass eine wissenschaftliche Aussage um so gesicherter ist, je mehr Daten ihr zugrunde liegen, und jeder kann sich daher selber ein Urteil darüber erlauben, wer von beiden – Verteidigung oder Anklage – ein Interesse an fundierten Aussagen hat…

Der unserer Meinung nach richtige Antrag der Staatsanwaltschaft auf die medizinische Untersuchung droht nun zum Bumerang zu werden: die Verteidigung verunglimpft ihn mit dem Vorwurf der „Grundlagenforschung“, die bei einem Gerichtsprozess nichts zu suchen habe. „Ich habe die Befürchtung, dass wir zu einer Aussetzung des Verfahrens kommen,“ wird Richter Kelm in der Presse zitiert. Die Untersuchung der 51 ehemaligen Envio-Beschäftigten und gar die von weiteren 259 Personen würde den Zeitplan der Richter sprengen.

Der zuständige Staatsanwalt reagierte natürlich auch. Schon dem „Sachverständigen-Versuch“ der Verteidigung hielt er sinngemäß entgegen, dass für die von ihm erhobene Anklage die Auswirkungen von PCB nicht erheblich seien, er habe den Envio-Chef Dirk Neupert und drei weitere Manager angeklagt, weil sie gegen die dem Betrieb erteilten Auflagen erheblich verstoßen haben. Auch der Toxikologe Rettemeier warf ihnen „offensichtliche Versäumnisse im Arbeitsschutz“ vor.

Von diesen in der Anklageschrift erhobenen schweren Vowürfen ist bei den Überlegungen über eine mögliche Unterbrechung oder gar Einstellung des Prozesses auf einmal keine Rede mehr. Der von uns oben erfundene und zitierte Prozessbeobachter könnte nun sogar zu der Befürchtung kommen: „Will das Gericht den Angeklagten aus der Patsche helfen?“ Sogar in der Tagespresse ist zu lesen: „Die Anwälte sehen sich bis lang in ihrer Verteidigungslinie voll bestätigt.“

Bei einem weiteren Verhandlungstermin hat die Verteidigung einen eigenen Sachverständigen präsentiert, der – zumindest für uns überraschend – vom Richter ziemlich in die Mangel genommen wurde. Bei einigen Prozessbesuchern – befürchten wir – hat das zu der Illusion geführt, der Prozess könne doch im Sinne der Envio-PCB-Geschädigten zu Ende gehen. Derzeit sieht es so aus, als solle ein Gutachter die große Zahl der Geschädigten medizinisch untersuchen, was wir – es sei noch einmal betont – ausdrücklich begrüßen und auch fordern. Doch der Haken bei der Sache, der eigentlich keiner ist, sieht zur Zeit so aus: die Verhandlung gegen Neupert und Co kann angeblich erst weitergeführt werden, wenn die jahr(zehnt)elangen medizinischen Untersuchen abgeschlossen und die Gegenschlechtachten widerlegt sind. Das halten wir für falsch.

Man stelle sich einmal vor: ein Autofahrer rast mit 100 Sachen durch die Dortmunder Innenstadt. Eine Polizeistreife hält ihn an, er soll Bußgeld zahlen und Punkte in Flensburg kriegen. Sein Anwalt sieht das gar nicht ein: „Weisen Sie erst einmal nach, dass ein Schaden entstanden ist!“ Ist jedoch ein Schaden entstanden, ist z. B. jemand durch die Raserei verletzt worden, so gilt die Körperverletzung als entstanden „in Tateinheit“ mit der Raserei, wobei die Verletzung als das schwerere Vergehen angesehen wird. Übertragen auf den Envio-Skandal heißt das, dass die (fahrlässige oder vorsätzliche) Körperverletzung zum Mittelpunkt des Prozesses gemacht werden soll; dazu sind lange und umfangreiche Untersuchungen nötig und es kann sein, dass ein gesundheitlicher Schaden durch das vom Envio-Betrieb verbreitete PCB erst nach Jahren auftritt – und auch dann müsste bewiesen werden, dass die Ursache bei Envio liegt.

Zu erwähnen noch, dass auch Herr Rettemeier, für die medizinischen Untersuchungen vorgesehen, bald in den Ruhestand geht und dann nicht so ohne weiteres an die notwendige medizinische Ausrüstung herankommt.

Der weitere Verlauf des Prozesses scheint vorgezeichnet: die – wir betonen es noch einmal – notwendigen medizinischen Untersuchungen der PVB-Opfer wird dazu führen, dass die Anklage wegen des Verstoßes gegen erteilte Auflagen nicht weiter verfolgt wird und sowohl diese Verstöße als auch die Vergiftung mehrere hundert Menschen für die Täter ohne Folgen bleiben wird – „die herrschenden Gesetze sind die Gesetze der Herrschenden.“ (Karl Marx)

Die Forderungen der Envio-PCB-Geschädigten muß eindeutig sein: weitere gerichtliche Verfolgung des Vorwurfs, Neupert und Co hätten bei Envio gegen die ihnen erteilten Auflagen massiv verstoßen und gleichzeitige Untersuchung der möglichen Opfer – gegebenenfalls müssten beide Verfahrensteile voneinander getrennt werden. Eine solche Forderung erheben und unterstützen wir.