Korrespondenz: »Worauf es für die Menschheit wirklich ankommt, das ist der Frieden.«

Zum Tode von General Vo Nguyen Giap

»Roter Napoleon«, »Napoleon des Ostens« – wer schon zu Lebzeiten selbst von früheren Gegnern mit derartigen Titeln überhäuft wurde, kann sich eines Ehrenplatzes in den Geschichtsbüchern sicher sein. Am 4. Oktober ist der Revolutionär und General Vo Nguyen Giap, der an der Seite Ho Chi Minhs und anderer hervorragender Persönlichkeiten über dreißig Jahre lang militärisch für den Sieg der antiimperialistischen Sache des vietnamesischen Volkes kämpfte und die Theorie des »Volkskrieges« weiterentwickelte, schließlich im hohen Alter von 102 Jahren im Militärhospital von Hanoi verstorben.

Vo Nguyen Giap wurde am 25. August 1911 in Zentralvietnam als Sohn des Dorflehrers Vo Quang Nghiem geboren. Der Vater, ein glühender Patriot, erzog seine Kinder dazu, der seit 1884 in Vietnam herrschenden französischen Kolonialmacht Widerstand zu leisten. Der junge Giap begann in den 1920er-Jahren, sich politisch zu betätigen, arbeitete als Journalist und wurde schon 1930 wegen Teilnahme an antikolonialen Protesten kurzzeitig inhaftiert. Ein Jahr später trat er der von Ho Chi Minh gegründeten Kommunistischen Partei Indochinas bei.

Nachdem er 1937 sein Jura-, Ökonomie- und Politikstudium an der Universität von Hanoi abgeschlossen hatte, lehrte er an der Thanh-Long-Schule, einer privilegierten Privatschule Hanois, Geschichte. Er veröffentlichte zudem kommunistische Schriften. Als Frankreich 1939 die Kommunistische Partei sowohl im »Mutterland« als auch in den Kolonien verbot, gelang es Giap, nach Südwestchina zu fliehen, wo er schließlich mit Ho Chi Minh, dem Anführer der nationalen Befreiungsbewegung Vietnams, zusammentraf.

Im September 1940 übernahmen die japanischen Imperialisten mit Zustimmung des französischen Vichy-Regimes die Kolonialherrschaft u.a. über Vietnam. Die Unabhängigkeitskämpfer betrauten Giap, der zwar die Schriften des antiken chinesischen Militärstrategen Sun Tzu studiert, jedoch selbst nie eine militärische Ausbildung erhalten hatte, mit der Aufstellung ihres militärischen Flügels, der Viet-Minh-Partisanen. Als Kommandeur der trotz anfangs mangelnder Ausrüstung großen Zulauf genießenden Verbände kehrte er 1944 nach Nordvietnam zurück. Ein Jahr später war Japan besiegt. »Meine militärische Akademie waren der Busch und der Guerillakampf gegen die Japaner«, zitierte später ein Historiker Giap.

»Nach der Kapitulation Japans stand das ganze Volk unseres Landes auf, nahm die Macht in seine Hände und gründete die Demokratische Republik Vietnam.« So hieß es in der Unabhängigkeitserklärung, die der charismatische Volkstribun Ho Chi Minh am 2. September 1945 in Hanoi (Nordvietnam) anlässlich der Gründung der DRV verkündete. Die Freude über die Befreiung vom Joch der Okkupation sollte aber nur von kurzer Dauer sein: Die Franzosen begannen Südvietnam zu rekolonisieren, und am 19. Dezember 1946 überfielen französische Truppen die volksdemokratisch orientierte DRV. Es begann ein Kolonialkrieg, in dessen Verlauf die Aggressoren Vietnam teilten, indem sie in Südvietnam einen Separatstaat installierten.

»La sale guerre«, der »schmutzige Krieg«, entwickelte sich mit der Zeit zuungunsten jener, die ihn vom Zaune gebrochen hatten. Verheißungsvoll war der Name des seinerzeitigen französischen Generalstabschefs Revers, der »Rückschlag«, »Niederlage« bedeutete. Das Volksheer der DRV, der unter dem Kommando Vo Nguyen Giaps stehende Viet Minh, wurde von seinem Gegner fatalerweise unterschätzt.

Giap, der die Streitkräfte als Instrument betrachtete, die Volksmassen zum militärischen Kampf für eine politische Revolution zu organisieren, betonte stets die Bedeutung der Unterstützung der Bevölkerung für die Guerilla und hielt sich an das Prinzip: »Wir schlagen nur zu, wenn der Erfolg sicher ist«. In der Dschungelfestung Dien Bien Phu errang er Anfang 1954 den kriegsentscheidenden Sieg.

»General Giap erkannte die Taktik des Gegners. Unsichtbar für die Franzosen, baute er mit seiner Armee getarnte Angriffsstellungen in den Bergen auf und ließ Frankreich lange Zeit in dem Glauben, dass der Viet Minh schwach sei. Auch seine Vorgehensweise, die Befestigungsanlagen von Dien Bien Phu nicht im Generalangriff zu nehmen, sondern schrittweise die Außenposten anzugreifen und einzunehmen, erwies sich schnell als erfolgreich. Auch seine Gewissheit, dass die Bevölkerung durch einen heldenhaften Einsatz ihre Befreiungskräfte unterstützen würde, war richtig und militärisch entscheidend. Selbst im Bereich des Sanitätswesens hatte Giap um Dimensionen weitsichtiger gehandelt, als sein Gegner Navarre. Giaps Freund Ton That Tung hatte mit großer Umsicht ein weit verzweigtes Sanitätswesen aufgebaut, in das vor allem die Bevölkerung der Dörfer in der Umgebung von Dien Bien Phu eingebunden war.

Ein weiterer entscheidender Faktor für den Sieg lag ebenfalls außerhalb des Schlachtfeldes. Es war die enorme politische Willenskraft des Volkes, seine Freiheit zu erringen. Abertausende Männer und Frauen schleppten auf ihren Rücken, auf Büffelkarren, vollbepackten Fahrrädern den Nachschub an die Front. Andere bauten hängende Brücken, die am Tage unter dem Wasserspiegel der Flüsse abgesenkt wurden, und reparierten Nacht für Nacht die durch Regen und Bomben beschädigten Straßen« (»junge Welt«, 7. Mai 2004).

»Jede Nacht hat eine Anzahl Soldaten hier ihr Fleisch und Blut geopfert,

Damit, bis zum Morgen, die Schützengräben ein wenig weiter vorrücken.

Zum Sieg trug das Grollen der Artillerie bei, das zum Himmel aufstieg,

Aber auch das bescheidene Geräusch der Schaufeln.«

Che Lan Vien (1920 – 1989): »Das Geräusch der Schaufeln in Dien Bien Phu«

Die Dien-Bien-Phu-Offensive begründete den Ruhm des Heerführers Giap. »Die Offensive ist auch heute noch ein wichtiger Gegenstand für Militärhistoriker und -theoretiker. Viele Historiker sind der Ansicht, dass mit ihr die endgültige Niederlage des modernen Kolonialismus begann«, äußerte der ehemalige Botschafter Vietnams in der BRD, Nguyen Ba Son, zum 50. Jahrestag des Sieges in Dien Bien Phu.

Noch 1954 musste Frankreich das Genfer Abkommen unterzeichnen. Es »legte einen Waffenstillstand zwischen Frankreich und Vietnam fest, der 17. Breitengrad wurde vorläufige Demarkationslinie. Der Vertrag bestimmte ferner den sofortigen Abzug der französischen Truppen aus Nordvietnam, nach zwei Jahren aus Südvietnam sowie die Durchführung freier Wahlen im ganzen Land. Der letzte Teil der Genfer Vereinbarungen wurde jedoch nie realisiert. Mit Hilfe der USA wurde in Südvietnam eine separatistische Verwaltung aufgebaut, die die Durchführung von freien Wahlen hintertrieb« (»junge Welt«, 30. April 2005).

In Südvietnam traten die USA-Imperialisten bei der Aufrechterhaltung des Marionettenregimes an die Stelle der französischen. 1962 waren dort bereits 11.000 US-Soldaten stationiert. 1964 entfesselten die USA einen barbarischen Vernichtungskrieg gegen die sozialistische Demokratische Republik Vietnam.

»Der Aggressionskrieg der USA gegen das vietnamesische Volk hat in aller Welt, nicht zuletzt in den USA selbst, massive Proteste ausgelöst. Nie zuvor waren die Vereinigten Staaten einer solchen Welle internationaler Verurteilung ausgesetzt gewesen. Völkermord und brutalste Menschenrechtsverletzungen größten Ausmaßes, beispiellose Flächenbombardements, der Einsatz von Napalm und Giftstoffen, der Mord an Zivilisten, Frauen und Kindern werden aus der Geschichte der Politik des USA-Imperialismus nie getilgt werden können. Über 58000 GIs mussten diese Aggression mit ihrem Leben bezahlen, etwa drei Millionen Vietnamesen kamen in diesem Krieg um; es gab vier Millionen Verwundete. Die USA brachten insgesamt 6,5 Millionen Soldaten zum Einsatz, bis zu 540.000 gleichzeitig. Von US-Flugzeugen wurden 7,9 Millionen Tonnen Bomben abgeworfen (vier mal so viel wie während des gesamten Zweiten Weltkriegs) und 75 Millionen Liter Entlaubungsmittel versprüht« (ebenda).

Im »amerikanischen Krieg«, wie ihn die Vietnamesen nennen, organisierte General Giap, Verteidigungsminister der DRV, in einer logistischen Meisterleistung den sogenannten Ho-Chi-Minh-Pfad vom Norden in den Süden, ein kompliziertes Netz von Straßen und Wegen durch den Dschungel, das der aufständischen Nationalen Befreiungsfront Südvietnams wie auch im Süden operierenden Truppen der DRV den Nachschub sichern half. Nach elf Jahren erbitterten Kampfes siegte am 1. Mai 1975 mit der Befreiung Südvietnams einmal mehr Giaps »Union von Volkskrieg und Volksheer«. »Wir mussten das Kleine gegen das Große einsetzen, veraltete Waffen, um moderne Waffen zu besiegen. Am Ende war es der menschliche Faktor, der den Sieg entschied«, erklärte der General (»Associated Press«, 4. Oktober 2013). Am 2. Juli 1976 vereinigten sich Nord- und Südvietnam nach mehr als drei Jahrzehnten der Teilung und des vom Imperialismus aufgezwungenen Krieges friedlich zur Sozialistischen Republik Vietnam.

»Kaum hat sich mühsam der Frieden gefestigt –

da kommt neuen ’Gangstern‘ die Idee,

in das leidgeprüfte, rissige Haus der

Vietnamesen einzusteigen.

Die dreimal Geschundenen

schon wieder quälen?

Derlei vollbringen

Wahnsinnige nur.«

Die Verse dieses im Februar 1979 in der Moskauer »Prawda« veröffentlichten Gedichts widerspiegeln eindringlich die Reaktion eines Großteils der Weltöffentlichkeit auf den am 17. Februar jenes Jahres erfolgten Angriff der sich im Zuge der »Drei-Welten-Politik« zeitweilig an die USA anlehnenden VR China gegen die Sozialistische Republik Vietnam. »Heute reden die Chinesen mit den Vietnamesen (’Lektion erteilen‘; ’Strafexpedition‘) so, wie die imperialistischen Mächte des Westens mit den Chinesen redeten und umsprangen, als sie im Jahre 1900 ihre Legionen nach Peking in Marsch setzten, um den Boxeraufstand niederzuschlagen«, kommentierte damals das Hamburger Blatt »Der Spiegel«.

Vo Nguyen Giap, nach der Wiedervereinigung Vietnams nunmehr Verteidigungsminister der SRV, versetzte erneut einer Angriffsarmee eine empfindliche Niederlage. »Dem massiven Ansturm der chinesischen Divisionen«, erinnerte sich der bewährte Kriegsberichterstatter Peter Scholl-Latour, »begegnete er mit flexibler Verteidigung, dem Einsatz ortskundiger Milizen und einem unterirdischen Tunnelsystem, das sich bereits gegen die US Army bewährt hatte. Seine kampferprobten Bo Doi fügten den Chinesen hohe Verluste – mindestens 30.000 Tote – zu, während die eigenen Ausfälle relativ gering blieben. Zwei chinesische Divisionskommandeure, so hieß es, seien wegen Unfähigkeit degradiert worden. Nur siebzehn Tage hat diese ’Strafaktion‘ gedauert, und sie war alles andere als ein chinesischer Triumph. Vo Nguyen Giap sah sich durch seinen Abwehrerfolg an der Nordgrenze Tonkings noch einmal bestätigt« (»Koloss auf tönernen Füßen – Amerikas Spagat zwischen Nordkorea und Irak«, S. 282).

Noch Jahrzehnte nach seinem Rückzug aus der aktiven (Militär-)Politik galt General Giap Umfragen zufolge nach Ho Chi Minh als eine der von der heutigen Jugend Vietnams am meisten bewunderten Persönlichkeiten. Umso mehr Gewicht hat hoffentlich der Appell, den dieser legendäre Kommandeur mehrerer gerechter Befreiungs- und Verteidigungskriege, der eine Reihe militärtheoretischer Bücher (u.a. »Volkskrieg, Volksarmee«) verfasste und den der Historiker Stanley Karnow als Strategen vom Typus Wellingtons, Grants oder Lees einschätzt, in seinen späten Lebensjahren gegenüber seinem Gesprächspartner Scholl-Latour formuliert hat: »Wir sollten mit dem Kriegführen ein für allemal Schluss machen. Worauf es für die Menschheit wirklich ankommt, das ist der Frieden«.

CR