Vor 90 Jahren ließ Mussolini den Sozialistenführer Giacomo Matteotti ermorden

Massenproteste stürzten den Faschismus in eine existenzielle Krise

von Gerhard Feldbauer

 

Giacomo Matteotti, CC-Lizenz, Wikipedia

Angesichts des europaweiten Wiedererstehens faschistischer Kräfte ist es angebracht, sich daran zu erinnern, wie der Faschismus seit jeher mit Mord und Terror herrschte, gegen ihn standhaft der Widerstand geführt wurde. Ein herausragendes Beispiel dafür ist, wie 1924 Kommunisten, Sozialisten und Arbeitermassen in Italien mit beispielgebender Entschiedenheit auf den Mord an dem Sozialistenführer Giacomo Matteotti antworteten und so im Kampf erstarkten.

Nach seinem Machtantritt im Oktober 1922 musste Mussolini, wenn auch eingeschränkt, noch mit dem Parlament und einer Koalition mit bürgerlichen Parteien regieren. Um seine Herrschaft zu konsolidieren und sich das Parlament unterzuordnen, organisierte der „Duce“ am 6. April 1924 eine betrügerische Scheinwahl, in deren Ergebnis durch massiven Terror 375 Abgeordnete des faschistischen Regierungsblocks, darunter 275 eingeschriebene Mitglieder der Mussolini-Partei, in das Parlament einzogen. Die auf selbständigen Listen angetretenen Parteien erreichten 161 Mandate, von denen 46 auf die Sozialisten und 19 auf die Kommunisten entfielen.

Mussolini besaß nun zwar eine erdrückende Mehrheit, nicht aber den erhofften Prestigegewinn. Widerstand und Protest wuchsen nach der Wahl in einem Maße an, wie ihn das Regime bis dahin nicht erlebt hatte. Der Sozialistenführer Giacomo Matteotti enthüllte in der Öffentlichkeit und im Parlament unerschrocken die Verbrechen der Faschisten und forderte, die Wahl für ungültig zu erklären. Als er am 30. Mai im Parlament die Verbrechen während der Wahlkampagne enthüllte, versuchte eine grölende Horde Schwarzhemden ihn gewaltsam am Sprechen zu hindern. Matteotti führte an, dass man einen Abgeordneten ermordet hatte, viele Kandidaten ihren Wohnsitz wechseln mussten, um Verfolgungen zu entgehen, nirgendwo die oppositionellen Bewerber eine öffentliche Versammlung durchführen konnten.

 

Auflösungserscheinungen in der Partei des „Duce“

 

Auf Befehl Mussolinis wurde der Sozialistenführer daraufhin umgebracht. Am 10. Juni überfiel ihn ein Mordkommando auf offener Straße, zerrte ihn in ein Auto, verschleppte und erschlug ihn und verscharrte seine Leiche in der Umgebung von Rom, wo Passanten sie erst am 16. August fanden. Der ungeheuerliche Mord belebte den antifaschistischen Widerstand auf der Straße und im Parlament und stürzte das faschistische Regime in eine existenzielle Krise, die nach Matteotti benannt in die Geschichte einging. In der faschistischen Partei zeigten sich Auflösungserscheinungen. Mitläufer und Karrieristen traten scharenweise aus. Bis Ende 1924 verließen 182.291 Mitglieder die Partei, deren Zahl nach der offiziellen Statistik nur noch 599.988 betrug. Mit dem Ziel, die Mussolini-Regierung zu stürzen, schlug die PCI einen Generalstreik vor, den die Leitungen der Sozialisten und der Gewerkschaften jedoch ablehnten. Fast die gesamte Opposition verließ das Parlament und tagte auf dem Aventin, einem der sieben Hügel Roms. Die bürgerliche Opposition beschränkte sich darauf, die Auflösung der faschistischen Miliz und die Wiederherstellung der Gesetzlichkeit zu verlangen und schreckte vor der Forderung nach dem Rücktritt der Regierung zurück.

 

Großkapital und Klerus retten Mussolini

 

Als Retter des faschistischen Regimes traten das Großkapital und der Vatikan auf den Plan. Schon am 24. Juni versicherte der Industriellenverband den „Duce“ öffentlich seiner „unwandelbaren Treue“ und verurteilte die „intrigante Opposition“. Der Heilige Stuhl, dem Mussolini Konkordats-Verhandlungen zur Lösung der seit der Beseitigung der weltlichen Herrschaft des Papstes 1870 offen erklärten „römischen Frage“ zusagte, lobte in seiner Zeitung „Osservatore Romano“ die „feste Haltung“ des „“Duce“ und verurteilte die antifaschistischen Aktionen. Dank der so gewährten Hilfe entging Mussolini seinem Sturz und konnte Ende 1926 die parlamentarisch verschleierte Etappe des Faschismus beenden und seine offen terroristische Diktatur errichten. Die antifaschistischen Kräfte gingen trotz der Niederlage mit einer, wenn auch noch nicht durchgreifenden, aber sich Schritt für Schritt festigenden Kampfkraft aus der Matteotti-Krise hervor.