„Wir müssen zusammen kämpfen, denn Europa ist ein großer kapitalistischer Block“

Der türkische Journalist und Schriftsteller Turgay U. saß 15 Jahre lang in Knästen des türkischen Staates. Er ist einer der ersten Aktivisten der jüngeren Flüchtlingsbewegung, die seit Sommer 2012 die BRD durch die Besetzung öffentlicher Plätze und Einrichtungen – in Berlin zum Beispiel mit der Besetzung des Oranienplatzes und der Gerhardt-Hauptmann-Schule in Kreuzberg – mit den katastrophalen Folgen der europäischen Flüchtlingspolitik konfrontierte.
Zuletzt besetzte er mit anderen Flüchtlingen eine Woche lang die Zentrale des Berliner Gewerkschaftshauses, die aufgrund der äußerst brutalen Räumung durch die von der Gewerkschaftsleitung herbeigerufenen Polizei und der anschießenden juristischen Weiterverfolgung durch die Justiz, an der Gewerkschaftsbasis zu lautstarkem Widerspruch und Protest führte.

Wir veröffentlichen hier ein längeres Interview mit Turgay, das ein Leser und Genosse ein paar Tage nach der gewaltsamen Räumung mit ihm führte.-Dabei ist die mit wenigen Ausnahmen ungekürzte Widergabe des Interviews nicht als Deckungsgleichheit der dargestellten politischen Positionen aufzufassen, auch wenn dies nicht an den betreffenden Stellen explizit herausgestellt wird.

Hallo Turgay, wir haben uns auf dem Treffen anlässlich der gewaltsamen Räumung des DGB-Hauses hier in Berlin kennengelernt – Vielleicht kannst Du einleitend etwas zu Deiner Person und zur Motivation Deiner Teilnahme an der Besetzungsaktion sagen.

Turgay
Ich bin Turgay, Journalist und Schriftsteller aus der Türkei. In der Türkei bin ich 15 Jahren im Gefängnis gewesen und habe mich zuletzt dort an einem 60 tägigen Hungerstreik beteiligt.
Amnesty International hat zu meinem Fall eine Kampagne organisiert, infolgedessen ich zweimal vor europäischen Gerichten gegen die türkische Regierung gewonnen habe, während hingegen die türkische Regierung mich als Terroristen bezeichnet. Amnesty hat dagegen immer mein Wirken als Schriftsteller und Journalisten hervorgehoben. Dennoch hatte die türkische Regierung die Vorlage unterzeichnet, wonach ich 15 Jahre im Knast verschwand. Die europäischen Gerichte haben – unbeachtet der Vorwürfe festgestellt, dass das so, wie von der türkischen Regierung praktiziert nicht ginge, da 15 Jahre eine lebenslange Haftstrafe und keine zeitlich begrenzte Strafe seien. Daraufhin wurde ich für 20 Tage freigelassen und das türkische Gericht änderte das Urteil von 15 Jahren in lebenslänglich um. Vor der erneuten Festnahme durch die türkische Polizei flüchtete ich nach Griechenland, wo ich erneut festgenommen und für drei Monaten in einem griechischen Bau verschwand. Während dieser Zeit fing ich einen erneuten Hungerstreik an, aufgrund dessen man mich freiließ und ich nach Deutschland flüchtete.

Sowohl in Griechenland als auch in Deutschland gibt es für Flüchtlinge ein Lager- und Gutscheinsystem, wogegen ich bereits in Griechenland Proteste organisiert habe, in Deutschland habe ich auch Proteste gegen Abschiebungen und die Residenzpflicht organisiert.
Wir sind damals, 2012, von Duisburg nach Berlin marschiert und haben damit die Residenzpflicht gebrochen. Hier haben wir verschiedene Aktionen organisiert, um auf unsere Situation aufmerksam zu machen, und Ende September auch das DGB-Haus besetzt.
Bereits früher haben wir erkannt, dass wir in der europäischen Bewegung zusammen arbeiten müssen, weil es sich nicht nur um „Probleme“ der Flüchtlinge handelt, sondern soziale Standards in der EU praktisch immer mehr verschwinden. Alleine in Berlin gibt es 11.000 obdachlose Leute.
Und deshalb haben wir während der Schülerstreiks mit den Schülern hier zusammengearbeitet, mit den Obdachlosen, Mieterinitiativen und Initiativen gegen Zwangsräumungen. Unser Protest mit den Flüchtlingen ist nicht genug.
Von den Proletariern und den Gewerkschaften haben wir bisher kaum Unterstützung erfahren, […], von den lokalen politischen Entscheidungsträgern wurden wir belogen.
Dann haben wir uns überlegt, dass der DGB in Berlin viele Tausend Mitglieder hat und wir haben keine Arbeit (…und vor allem: keinen Zugang zum Arbeitsmarkt, d. Autor).- Deshalb haben wir das Berliner DGB-Haus besetzt.
Dort hat man uns am ersten Tag gesagt, dass sie nach einer Unterkunftsmöglichkeit suchen würden, aber uns bereits am nächsten Tag gesagt, dass sie nichts gefunden hätten und haben uns dann ein Ultimatum gestellt bis zum Donnerstag, (02.10., d. Autor) das DGB-Haus zu verlassen. Wir sind nicht rausgegangen und wurden dann von der Polizei attackiert.

Arbeit-Zukunft:

Gegen mehrere Besetzer wurde Strafanzeige wegen Hausfriedensbruchs und Widerstands gegen die Staatsgewalt und Körperverletzung gestellt. – Kannst Du etwas zu den aktuellen Strafverfahren sagen und ob es mittlerweile eine Stellungnahme des DGB gibt, wie er sich dazu verhält oder ob er gegebenenfalls sogar auf eine Weiterverfolgung der Strafmaßnahmen verzichten wird?

Turgay:

Von der Polizei wurde Strafanzeige wegen Widerstands und Körperverletzung erhoben, aber tatsächlich wurden nur unsere Leute mit den Ketten verletzt (mit denen sie sich an die Treppengeländer der Treppe im Foyer des Gewerkschaftshause angekettet hatten, d. Autor), danach wurden sie verhaftet und angezeigt.

Arbeit-Zukunft:

Das Verhalten des DGB – der Dachverband mehrerer größerer und kleinerer Einzelgewerkschaften ist – hat nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der Gewerkschaften Proteste ausgelöst. – So etwa distanziert sich die Basis der deutschen Lehrergewerkschaft, der GEW, eindeutig von ihrem Dachverband und fordert die Aufhebung der Verfolgungsmaßnahmen und weitere Schritte.
Welches sind die Forderungen der Flüchtlinge, die über eine selbstverständliche Aufhebung der reinen Ermittlungsmaßnahmen hinausgehen?

Turgay:

Was unsere Forderungen an den DGB betrifft, so wird von uns die Herstellung eines Kontakts zum Parlament gefordert, auch wenn der DGB behauptet, er hätte keinen Kontakt. Aber das stimmt nicht, der DGB hat gute Kontakte zur SPD, zur Regierung. ..der DGB ist eine bürokratische Organisation, aber seine Basisorganisationen haben diese Polizeiaktionen nicht akzeptiert. – Auch ein Vertreter des Berliner DGB war als Privatperson auf dem oben benannten Treffen der kritischen Gewerkschafter und der Gewerkschaftsjugendlichen im Mehringhof anwesend, er hat sich sogar als Gewerkschaftsmitglied entschuldigt für die Aktion und verwies auf das Dokument des DGB zur Solidarität mit Flüchtlingen, aber das ist nicht das Problem, auch die SPD hat ein Grundsatzprogramm zur Flüchtlingspolitik, entscheidend ist jedoch die praktische Solidarität und nicht die Theorie… – Praktisch steht auch die Tatsache, dass SPD, CDU und Grüne (in Berlin in den letzten zwei Jahren, d. Autor) jede Räumung durchgesetzt haben, so auch der DGB… „theoretische Solidarität ja, aber Besetzung unseres Hauses …nein“…, das ist das Problem, das DGB-Haus ist kein Privathaus, sondern ein politischer Ort.
Unsere Bewegung ist eine Bewegung der Unterklasse, wir sind auch Proletarier, arbeitslos, das ist das Problem, wir haben keine Gewerkschaft […].

Arbeit-Zukunft:

Die Lampedusa-Initiative einiger Basisgewerkschafter in Hamburg, wo es den Flüchtlingen gelang eine Mitgliedschaft bei der Hamburger DGB-Gewerkschaft Ver.di durchzusetzen, der heftige Protest der Basis und der kleineren GEW-Gewerkschaft in Berlin zeigt, wie sehr die deutschen Gewerkschaften in der Frage der Flüchtlinge gespalten sind.- Auf der anderen Seite sind die Flüchtlinge selbst – und hier geht die Kritik vor allem auch an die Adresse der sogenannten deutschen Unterstützer – sichtbar uneinheitlich und unorganisiert aufgetreten…sogenannte Unterstützer verfolgten zum Teil ihre eigenen Ziele, ohne weitergehende politische Konzeption dahinter – undurchdacht und unkoordiniert angesetzte Hungerstreiks, die dann wieder – ohne weitergehende Konzeption dahinter und ohne Beachtung des möglichen physischen und weitergehenden politischen Schadens für die Flüchtlinge, abgebrochen wurden, zum Beispiel 2013 am Brandenburger Tor, unkoordinierte, verzweifelte Besetzungsaktionen, nachdem die Flüchtlinge zum wiederholten Male von ihren bürgerlichen Gesprächspartnern aus der zweiten Reihe des politischen Establishments über den Tisch gezogen worden waren, wie etwa am Oranienplatz oder an der Gerhardt-Hauptmann-Schule in Kreuzberg, innerethnische Spannungen innerhalb der verschiedenen Flüchtlings-Communities selbst… .-
Gibt es in Anbetracht der realistisch einzuschätzenden Kräfteverhältnisse eine Diskussion inner- unterhalb der verschiedenen Flüchtlingsgruppen und-fraktionen selbst, wie man zu einer Effektivierung und Bündelung der Kräfte kommt, […] an denen die Herrschenden mittel-bis langfristig nicht mehr vorbeikommen?

Turgay:

Flüchtlingscamp am Oranienplatz in Berlin

Unsere Bewegung ist eine Bewegung der Selbstorganisation, vorher hat jeder von uns lange in Lagern hier in der BRD gelebt, wir haben dort erst mal den lokalen Widerstand organisiert. Danach hatten wir 2012 den Selbstmord eines iranischen Flüchtlings miterleben müssen und danach ein Refugee-Camp in Erfurt organisiert.- Wir haben dort verschiedene geflüchtete Aktivisten und Aktivistinnen kennengelernt.
Die Flüchtlingsbewegung ist nicht homogen, weil sie keine Partei oder Arbeiterbewegung ist, weil sie differenziert ist, weil die Flüchtlinge verschiedene Sprachen sprechen und verschiedene Religionen haben…aber seit zwei Jahren stellen wir eine merklich andere Atmosphäre fest, das merken auch die deutschen Linken… – Seit zwei Jahren ist das Lagersystem und die Residenzpflicht gebrochen, wir haben zwei Jahre in Zelten gelebt, wir sind in einer internationalen Aktion nach Brüssel marschiert… .
Wir haben bis jetzt in Deutschland keine einheitliche Organisation von Flüchtlingen, das ist das Problem…vorher gab es viele Kampagnen von draußen für Flüchtlinge, das ist das Problem, aber wir haben diesen Zug schon seit zwei Jahren etwas gestoppt, wir haben alles selbst organisiert, wir haben uns eine Theorie erarbeitet, wir haben viele Texte geschrieben bis jetzt und auch ein Buch geschrieben [*], an dem auch verschiedene andere Organisationen kollektiv mitgeschrieben haben.
Wir wollen eine Organisation von Flüchtlingen für Flüchtlinge, das ist das Problem, denn in Deutschland haben die Flüchtlinge bisher keine eigene Organisation.

Arbeit-Zukunft:

Der bürgerliche DGB ist – als Dachorganisation verschiedener Einzelgewerkschaften wie Ver.di oder die IG Metall und anderer kleinerer Gewerkschaften – zumindest namentlich der einzig bestehende Verband der der organisierten Arbeiterschaft in Deutschland, auch wenn wir uns keine Illusionen machen über die Funktion einer Gewerkschaft oder ihres Dachverbands im sogenannten freiheitlichen-demokratischen System der BRD.-
Gab es unter den Flüchtlingen, die das Berliner DGB-Haus besetzten, auch die Überlegung, mit der Besetzung ein Zeichen gegenüber der organisierten Arbeiterschaft zu setzen, oder war die Aktion der Flüchtlinge nur eine agitatorische an einem weiteren öffentlichkeitswirksamen Ort?

Turgay:

Von den Gewerkschaften erwarten wir keine große Unterstützung, weil eine bürokratische Gewerkschaft vielleicht wichtig für die Regierung ist, aber nicht wirklich wichtig (…für den Kampf von Flüchtlingen, d. Autor)…Wir haben auch vorher Parteibüros besetzt, Botschaften besetzt, weil die deutsche Gesellschaft und auch die deutsche Linke nicht wirklich versteht, was das Lagersystem und die ganze Problematik für die Flüchtlinge bedeutet…Wir werden illegalisiert, haben es aber in den letzten beiden Jahren geschafft, eine Diskussion (über die Lebensbedingungen der Flüchtlinge, d. Autor) zu eröffnen, auch dazu diente unsere Aktion im Berliner Gewerkschaftshaus – wir wollen die Probleme der Flüchtlinge mit der ganzen Gesellschaft diskutieren.

Arbeit-Zukunft:

Inwieweit ist bei den Flüchtlingen selbst das Bewusstsein vorhanden, dass sie ihre Kämpfe mit den sozialen Kämpfen hier, mit den Kämpfen der Arbeiterschaft und in den Betrieben verbinden müssten, um ihre Ziele zu erreichen, weil wir wissen, dass das Kapital hier und anderswo nie bereit sein wird, freiwillig ein auf seine Profitbedürfnisse zugeschnittenes selektives Asyl-, Flüchtlings- und Zuwanderungssystem aufzugeben, weil sie damit auch ein Instrument in der Hand haben, die internationale Arbeiterschaft, die auch hier in Deutschland unter den verschiedensten sozialen Bedingungen angekommen ist, gegeneinander auszuspielen (…hingewiesen sei an dieser Stelle etwa auf die anscheinend vollkommen unabhängig voneinander geführten Diskussionen über die erleichterte Zuwanderung von gut ausgebildeten ausländischen Fachkräften für die deutsche Wirtschaft über Greencards bei gleichzeitiger Verhinderung des Arbeitsmarkteintritts von zum Teil ebenfalls gut ausgebildeten, asylsuchenden Flüchtlingen hier und dem gleichzeitig oftmals latenten Vorwurf der Behörden gegenüber Asylsuchenden einer ausschließlich beabsichtigten Einwanderung in die deutschen Sozialsysteme…der Autor) – Inwieweit wird diese Diskussion auch unter Euch Flüchtlingen geführt?

Turgay:

Wir sind auch Klassenbewegung, wir müssen mit anderen aus der Klasse zusammenarbeiten. Denn im kapitalistischen System […]gibt es kein Gesetz, gibt es kolonialistische und rassistische Gesetze…
Und wir bewegen uns konträr zur Gesellschaft, die denkt, wenn Flüchtlinge nach Europa kommen, ist das eine negative Sache.
Daran werden sie erinnert, wenn sie Obdachlose sehen und viele Menschen in der deutschen Gesellschaft denken nicht nach, warum wir nach Europa gekommen sind.- Dabei denken sie nicht daran, dass der deutsche Imperialismus immer mehr Waffen verkauft in die Länder, aus denen wir kommen, das ist das Problem, der Imperialismus braucht den Krieg, das ist das Problem.
Wir müssen zusammen kämpfen, aber das ist nicht einfach…zum Beispiel sind in Griechenland, Spanien durch die ökonomische Krise die reaktionären und rassistischen Kräfte und die Rechte sehr stark geworden, in Deutschland ist die ökonomische Krise noch nicht so groß, aber dennoch denkt die Mehrheit, dass die Regierung zu viel Geld für die nach Deutschland Geflüchteten ausgibt…aber das ist Propaganda, denn die Arbeit, die Flüchtlinge hier machen dürfen, sind 1-Euro-Jobs… wir werden gehalten wie Sklaven, wir dürfen das Lager aufräumen oder im Garten arbeiten…dann arbeiten einige Flüchtlinge eben lieber illegal.

Arbeit-Zukunft:

…Damit wird ja auch die berechtigte Forderung der Flüchtlinge nach einer Öffnung des Arbeitsmarktes nachvollziehbar… . Eine Frage, die sich daran anschließt, ist die nach einer Öffnung der Diskussion der Flüchtlingsfrage in Richtung der Betriebe, da es ja auch hier viele ehemals migrantische Arbeiter, zumindest in den größeren Betrieben, gibt – und auch zunehmend engagierte Gewerkschafter und Betriebsräte, die kritisch und befremdet dem Kurs ihrer reformistischen Gewerkschaftsführungen gegenüberstehen…nicht zu vergessen sind dabei die deutschen Prekären jeglicher Form mit zugespitzten, schlechtbezahlten und rechtlosen Arbeitsverhältnissen. – Wir sehen es vereinfacht so, dass der Kampf der Flüchtlinge hier um ihre berechtigten Forderungen mit den anderen sozialen und vor allem den betrieblichen Kämpfen verknüpft werden muss, um neben der größeren öffentlichen Aufmerksamkeit für die Probleme von Flüchtlingen in Deutschland längerfristig auch zu einer Durchsetzung dieser berechtigten Forderungen zu kommen – Gibt es diese Diskussion bei Euch?

Turgay:

Wir haben die Diskussion der Lampedusa-Aktivisten in Hamburg, die ja erstmals eine Mitgliedschaft in Ver.di in Hamburg möglich gemacht haben. Danach gab es aber auch wieder die bekannten öffentlichen Stellungnahmen dagegen, wo argumentiert wurde, eine Mitgliedschaft mache schon deshalb keinen Sinn, weil wir Flüchtlinge keinen Arbeits-und Aufenthaltsstatus hier hätten. – Dagegen steht unsere natürliche Forderung: Arbeitsverbot abschaffen – das große Problem ist nicht nur in Deutschland, sondern auch auf europäischer Ebene unser Aufenthaltsstatus.-
In Deutschland gibt es ungefähr 100.000 – 120.000 Flüchtlinge, dass ist nicht zu viel […] – Zum Beispiel gibt es infolge des Kriegs in Syrien mehr als zwei Millionen Flüchtlinge, die sich auf die Türkei und die Nachbarländer verteilen und von denen viele wegen Dublin gar nicht erst nach Europa gelangen.

Arbeit-Zukunft:

Ja, die Thematisierung von Dublin und Dublin II und das Frontex- Abschreckungssystem ist ein ganz wesentlicher Punkt in der Diskussion über die Abschottungsdoktrin der Europäischen Union gegen missliebige Zuwanderung. – Inwieweit ist diese größere Ebene Teil Eurer Diskussion hier, mit flüchtlingspolitischen Gruppen-und Organisationen und den Flüchtlings-Communities im europäischen Ausland, sind doch in den letzten Jahren tausende von Flüchtlingen bei dem Versuch getötet worden, überhaupt erst Europa zu erreichen.

Turgay:

Dublin als Teil des europäischen imperialistischen Systems will, daß die Leute draußen bleiben, wollen die Kontrollen zum Beispiel im Falle der lybischen Flüchtlinge oder derjenigen Flüchtlinge, die über Lybien nach Europa gelangen wollen, bereits im Vorfeld – bevor Flüchtlinge also überhaupt Europa erreichen, um sie dann zurückzuschicken. Sie organisieren Krieg und ihre neuen Kriegsorganisationen heißen Dublin oder Frontex, neben der NATO, denn die imperialistischen Länder brauchen zu ihrer Existenzsicherung Krieg – immer neue Kriege, hochmoderne Waffen und Waffenexporte.

Arbeit-Zukunft:

Inwieweit gibt es eine Zusammenarbeit und Vernetzung zwischen den verschiedenen europäischen Flüchtlingsgruppen- und Communities zum Beispiel zwischen italienischen und deutschen Flüchtlingen, zwischen Flüchtlingen und Gruppen, die es bis hier nach Deutschland geschafft haben und denen, die zum Beispiel in Griechenland festgehalten und dann wieder zurückgeschickt werden – gibt es überhaupt eine Zusammenarbeit?

Turgay:

Wir sind erst einmal ein lokaler Zusammenhang, dann kommt die nationale Vernetzung der Flüchtlinge und anschließend haben wir auch Kontakte zu Gruppen von Flüchtlingen in Italien, Spanien, Niederlande, Belgien und Frankreich, zum Beispiel den „Sans Papiers“.
So etwa haben wir vor 5 Monaten zusammen eine europäische Flüchtlingskonferenz organisiert und sind anschließend von Straßburg nach Brüssel marschiert, um gegen Dublin und Frontex zu demonstrieren. – Wir müssen zusammen kämpfen, denn Europa ist ein großer kapitalistischer Block.

Arbeit-Zukunft:

Haben die Flüchtlinge in anderen europäischen Ländern bessere Erfahrungen mit Gewerkschaften gemacht wie Ihr hier, wo man den Flüchtlingen im Regelfall noch nicht einmal eine Mitgliedschaft in den Gewerkschaften ermöglichen will?

Turgay:

Ja zum Beispiel in Italien mit der USB oder in Griechenland, da besteht ein großes Interesse.
Anders ist es in Deutschland, wo die Gewerkschaften eine andere Stellung haben – Wir haben etwa gefragt, warum macht ihr keinen Generalstreik und uns wurde von einem Verantwortlichen geantwortet: ‚ja, wir geben etwa einen Streikslogan heraus , aber die Arbeiter wollen nicht streiken‘ […].
(Anscheinend ist den Flüchtlingen dabei auch die Information vorenthalten worden, dass Generalstreiks in Deutschland aufgrund der einschlägigen Regelungen der gesetzlichen Tarifbeziehungen verboten sind …Anmerkung des Redakteurs)

Arbeit-Zukunft:

Das Berliner Beispiel ist typisch, wie eine bürokratisch-bürgerliche Gewerkschaftsführung und ihre Verwaltung tickt. – Wir gehen davon aus, dass nur die Einheit und solidarische Verbindung der Kämpfe von allen in Deutschland lebenden und arbeitenden Menschen, von Angehörigen der Arbeiterklasse, auch wenn sie hier nicht arbeiten dürfen oder ihnen hier der Zugang zum Arbeitsmarkt versperrt ist – und zu denen wir auch die migrantischen Arbeiter zählen, aber auch Marginalisierte und Prekäre, Arbeitslose genauso wie migrantische Stammbelegschaften aus der ersten Phase der Migration nach Deutschland in den 50er und 60er Jahren – die entscheidende Schnittstelle darstellt. – Dazu ist auch notwendig, in einer breit angelegten, solidarischen Diskussion zu einer zunehmenden Vernetzung und Verständigung der verschiedenen Schichten der Arbeiterklasse hier zu kommen und Forderungen so zuzuspitzen, dass die Herrschenden nicht an ihnen vorbeikommen, weil sie inhaltlich nicht widerlegbar sind.
Nur im gemeinsamen Vorgehen lässt sich langfristig eine nachhaltig Basis in der Bevölkerung erarbeiten.

Turgay:

Ich glaube das Problem ist, dass es in Deutschland keine richtige antikapitalistische Bewegung gibt.- Es gibt keine wirkliche Position gegen den Krieg, gegen Kolonialismus, gegen Waffenexporte, mit denen sich imperialistische Staaten nicht unwesentlich finanzieren … .
Das Problem ist, dass viele sagen, sie sind solidarisch (mit unseren Forderungen, der Autor), aber es gibt viele repressive Gesetze hier, die sich nicht nur gegen Flüchtlinge richten, sondern auch gegen zum Beispiel obdach- und arbeitslose Menschen.- Sie haben keine Freiheit zu leben, sie haben keine Unterstützer…

Arbeit-Zukunft:

…Sie haben keine wirklich zuständige, politische Interessenvertretung, weil die Arbeiterklasse trotz ihrer Größe und Verankerung schwach ist. Deswegen müssen wir die Kräfteverhältnisse kritisch analysieren und langfristig verändern. Kurz- bis mittelfristig gehört hierzu die Formulierung von Forderungen, die auf einem breiteren Konsens in der arbeitenden Bevölkerung angelegt sind und an denen längerfristig auch die reformistischen Gewerkschaftsbürokraten – bei Strafe des eigenen Gesichtsverlusts – nicht vorbeikommen. Das sind die Fragen von prekärer Beschäftigung und 1-Euro-Jobs, die Fragen von kritischen Gewerkschaftsmitgliedern an der Basis, warum der flüchtige Kollege aus der Türkei nicht Mitglied in einer Organisation werden kann, von der viele Kollegen und Kolleginnen in den Betrieben denken, dass sie immer noch das stärkste ist, was die Schwachen haben… .

Es geht letztendlich in dieser Etappe des Kampf darum, durch eine zunehmende Vernetzung aller klassenbewussten Kräfte und Schichten der internationalen Arbeiterklasse in diesem Land gemeinsame Losungen zu entwickeln, die die Interessen der Arbeiterklasse ausdrücken und voranbringen – darin sind die Forderungen der Flüchtlinge integraler Bestandteil.

Turgay:

Aber natürlich, unser Slogan ist nicht nur: „Arbeit für alle, Wohnung für alle, Freizügigkeit für alle…“ – Wir müssen zusammen arbeiten, denn das System ist das Problem, die antikapitalistische Bewegung ist keine richtige Bewegung, weil sie kein alternatives Konzept hat und das System nur zu reformieren wird nicht ausreichen – zum Beispiel das Wohnungsproblem: Es gibt genug leere Wohnungen in Berlin, aber 11.000 Obdachlose – Das System wird dieses Problem nicht lösen, also wo ist die Lösung?

Arbeit-Zukunft:

Wir müssen uns in einem ersten Schritt an der Basis vernetzen, Kontakte zwischen Flüchtlingen, anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren, Basisgewerkschaftern und Belegschaften in den Betrieben herstellen.

Turgay:

Ja wir müssen mit den Basisinitiativen Druck machen gegen reformistische Gewerkschaften und auch gegen reformistische NGOs, so haben wir schon viel erreicht, etwa mit den Basisinitiativen gegen Zwangsräumungen in Berlin – jedoch darf es nicht bei Demonstrationen bleiben […]. – Warum hat die Polizei denn so starke Attacken gegen unsere Bewegung gefahren? – Weil wir das System bei der Residenzpflicht für Flüchtlinge gebrochen haben, Häuser und Parks besetzt haben…da können die Europäer und die europäische Bewegung viel lernen von anderen Bewegungen.

Turgay, ich danke Dir für dieses Gespräch.

Das Gespräch führte Georg Daniels

[*]Duygu Gürsel, Zülfukar Çetin & Allmende e.V. (Hg.) Wer Macht Demo_kratie?
Kritische Beiträge zu Migration und Machtverhältnissen , Juni 2013
Reihe: kritik_praxis, Band 1, 256 Seiten, 16.80 Euro, ISBN 978-3-942885-34-8