Buchbesprechung: Patrick Modiano, Dora Bruder

Patrick Modiano, Dora Bruder

In der Zeitung Paris-Soir vom 31.12.1941 stieß Patrick Modiano vor längerer Zeit auf eine Anzeige, die ihn nicht mehr losließ: „Gesucht wird ein junges Mädchen, Dora Bruder, 15 Jahre, 1,55 m, ovales Gesicht, graublaue Augen, sportlicher Mantel, weinroter Pullover, dunkelblauer Rock und Hut, braune sportliche Schuhe. Hinweise erbeten an Monsieur und Madame Bruder, 41 Boulevard Ornano, Paris.“ (S.7)

Zehn Jahre lang ist er mit unendlicher Geduld und viel Einfühlungsvermögen den wenigen Lebensspuren von Dora Bruder und ihren Eltern in Archiven, Antiquariaten, Standesämtern, Polizeipräfekturen nachgegangen, die für Dora und ihren Vater in einer Liste eines Transports nach Auschwitz enden. Immer wieder verbindet er diese Lebensspuren mit seinen eigenen Erinnerungen und denen seines Vaters an die Orte, an denen Dora und ihre Eltern sich aufgehalten haben.

„Es sind Menschen, die wenig Spuren zurücklassen. Als wären sie namenlos. Sie heben sich nicht ab von gewissen Straßen in Paris, von gewissen Vorstadtlandschaften, wo sie – wie ich durch Zufall entdeckte – gewohnt haben. Was man von ihnen weiß, kann oft in einer bloßen Adresse zusammengefaßt werden. Und diese topographische Angabe steht im Kontrast zu all dem in ihrem Leben, was man nie erfahren wird – dieser weiße Fleck, dieser Block aus Unbekanntem und Schweigen.“ (S.29)

Es ist das Verdienst von Modiano, dass er sich nicht bekannte, große Namen für seine Nachforschungen ausgesucht hat, sondern einfache Menschen jüdischer Herkunft, die Zuflucht in Paris vor Not, Vertreibung und Verfolgung gesucht hatten.

Ernest und Cecile Bruder lebten mit ihrer Tochter in einem Hotelzimmer, bis die Eltern sie am 9.5.1940 in einer Klosterschule anmelden. So hätte sie den NS-Schergen entgehen können, denn ihr Vater gibt ihren Namen nicht an, als die jüdische Bevölkerung registriert wird. Von einem Besuch im Hotelzimmer ihrer Eltern kehrt Dora nicht in das finstere Haus zurück, wo jene Mädchen leben „für die Christus immer eine besondere Liebe gezeigt hat“ (Bericht der Oberin S. 39) .

War ihr, der manchmal rebellischen 16 jährigen das strenge Leben hinter Klostermauern so unerträglich geworden, dass sie ihm das Leben auf der Straße im eisigen Paris unter ständiger Verfolgung vorzog? Modiano gelingt es nicht, einen Hinweis zu finden, wie sie unter diesen extremen Bedingungen überleben konnte. Während ihrer Abwesenheit wird ihr Vater aufgegriffen und interniert.

Am 17. April kehrt sie zu ihrer Mutter zurück und wird nach erneuter Flucht am 19.Juni 1942 verhaftet und in das Internierungszentrum Les Tuerelles gebracht.Über das Lager Drancy wurde sie dann am 18.September 1942 zusammen mit ihrem Vater nach Auschwitz deportiert.

 

Patrick Modiano

Dora Bruder

Hanser Verlag 1998

ISBN 978-3-446-19287-4

€ 16,90