Corona und die Wertfrage


Solidarität ist ein großer Wert, aber aus der Sicht des Kapitals nichts wert, weil es keinen Profit bringt. Foto von Gerd Altmann, pixabay.com

„Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ‚ungeheure Warenansammlung‘,die einzelne Ware als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware.

Die Ware ist zunächst ein äußerer Gegenstand, ein Ding, das durch seine Eigenschaften menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art befriedigt. Die Natur dieser Bedürfnisse, ob sie z.B. dem Magen oder der Phantasie entspringen, ändert nichts an der Sache. Es handelt sich hier auch nicht darum, wie die Sache das menschliche Bedürfnis befriedigt, ob unmittelbar als Lebensmittel, d.h. als Gegenstand des Genusses, oder auf einem Umweg, als Produktionsmittel.“ (Karl Marx, Das Kapital, MEW, Bd.23, S.49)

Aktualisiert!

Reichtum besteht also in der kapitalistischen Gesellschaft nur dann, wenn etwas verkauft und gekauft wird, wenn es zur Ware wird.

Die Corona-Krise gibt dafür zahlreiche Beispiele.

Laut den Prognosen des „Sachverständigenrates“ der Bundesregierung vom 23.6.20 wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in diesem Jahr um ca. 6,5% sinken. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) rechnet für Deutschland sogar mit einem Einbruch von 9% und weltweit von 4%.

Das BIP umfasst alles, was im Land gekauft und verkauft wird. Nur das wird in der kapitalistischen Gesellschaft als „Wert“ gerechnet.

Doch dieser Wertbegriff ist pervers und entspricht nur dem Interesse der kapitalistischen Wirtschaftsordnung.

Karl Marx unterscheidet zwischen Gebrauchswert und Tauschwert macht aber deutlich, dass der Tauschwert nur eine Oberfläche, eine Erscheinungsform von etwas dritten, dem Wert ist. Marx: „Der Tauchwert kann überhaupt nur die Ausdrucksweise, die ‚Erscheinungsform‘ eines von ihm unterschiedenen Gehalts sein“. Nur wenn etwas als Ware in Erscheinung tritt, hat es einen Tauschwert, dessen Basis aber der Wert ist. In unserem Beitrag geht es nicht um alle Aspekte des Werts und des Tauschwertes, sondern um eine Gegenüberstellung von Gebrauchswert und Tauschwert.

Für Menschen, die beispielsweise Obst einkaufen, steht der Gebrauchswert im Vordergrund. Die Dinge müssen „menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art befriedig(en).“ Die Kollegin oder der Kollege kaufen die Dinge nicht, um damit mehr Geld zu machen, sondern sie zu konsumieren, um Bedürfnisse zu befriedigen. Ganz anders ist das Verhältnis des Kapitals zu den Dingen. Der Kapitalist kauft eine Fuhre Tomaten nicht, um sie zu verbrauchen, sondern um sie möglichst mit Gewinn zu verkaufen. Kauft sich der Kollege oder die Kollegin eine Wohnung, um darin zu wohnen, so kauft der Kapitalist so viele Wohnungen, wie es sein Kapital erlaubt und der Markt für ihn sinnvoll macht, um damit mehr Geld zu machen – durch Vermietung oder Weiterverkauf und Spekulation.

In der Corona-Krise wurde dieses unterschiedliche Verhältnis zu den Produkten deutlich sichtbar.

Wenn z.B. ein/e Arbeiter/in vor Corona in der Mittagspause Essen gekauft hat, erhöhte das das BIP und damit den ökonomischen Wert. Haben die gleichen Menschen in den Zeiten des Lockdowns zu hause ihr Essen selbst gekocht und gegessen, so ist das im Sinne des Kapitalismus kein Wert. Der Reichtum einer Gesellschaft wird dadurch nicht vergrößert. Dabei schmeckt das Essen vielleicht besser, ist gesünder zubereitet – also wertvoller für den Menschen, der es mit Vergnügen verspeist. Aber es ist „nur“ ein Gebrauchswert. Der kann genauso gut oder sogar besser sein als das gekaufte Essen, aber wird eben nicht zum Tauschwert und ist damit für das Kapital ökonomisch wertlos! Das gilt freilich nur für das Endprodukt, das in der häuslichen Küche zubereitete Essen. Die dafür erforderlichen Waren – Lebensmittel, Wasser, Gas oder Elektrizität etc. sind in der Regel gekauft und vergrößern das BIP.

Das trifft für vieles zu. Während des Lockdowns haben die Menschen ja nicht untätig herumgesessen. Manche Wohnung wurde renoviert, am Häuschen wurde herumgebastelt, Gärten wurden gepflegt. Das alles geht nicht in das BIP ein. Hätten die Menschen Lohnarbeit geleistet und dann beispielsweise einen Maler für die Renovierung der Wohnung bestellt und bezahlt, so hätte das das BIP erhöht. Machen sie es selbst mit viel Einsatz und Freude, ist es für das Kapital wertlos und geht nicht in das BIP ein, lediglich die gekauften Baumaterialien.

Grotesk ist es bei der solidarischen Hilfe. In Stuttgart haben VfB-Fans unentgeltliche Nachbarschaftshilfe für ältere Menschen geleistet. Sie haben für sie eingekauft, Medikamente gebracht und vieles mehr. Hätten sie eine „Service GmbH & Co KG“ gegründet und Geld für ihre „Dienstleistungen“ verlangt, so wäre das ins BIP eingegangen und hätte das erhöht. Doch da sie kein Geld verlangt haben, haben sie zum Sinken des BIP beigetragen. Wie viele Millionen haben in dieser Zeit anderen geholfen, haben das schon vor der Krise gemacht und werden es auch weiter machen. Doch gegenseitige solidarische Hilfe schafft im Sinne des Kapitals keinen Wert. Das ganze als Geschäftsmodell, als Hausservice oder Pflegedienst bringt den Kreislauf des Geldes in Schwung, macht Profite möglich und erhöht das BIP. Menschlichkeit ist eben für das Kapital wertlos.

Krass wird auch die mehrfache Ausnutzung der Frau deutlich. Hat sie zuvor gearbeitet, das Kind gegen Bezahlung in der Kita untergebracht, dort das Essen bezahlt und selbst in der Kantine gegessen, ging das alles selbstverständlich in das BIP als Wert ein. Sitzt sie nun zuhause, macht Home-Office, betreut „nebenher“ die Kinder und kocht für die Familie, dann geht nur ihr Home-Office als Wert in das BIP ein. Alles andere ist aus der Sicht der kapitalistischen Ökonomie nichts wert! Damit werden zwei Drittel ihrer Arbeit als wertlos abgestempelt. Sie arbeitet für drei, zählt aber nur einmal. Für die Kinder ist natürlich die Betreuung durch die Mutter etwas wert. Auch das Essen ist wahrscheinlich wertvoller. Aber dieser Wert, der Gebrauchswert, zählt eben nicht im BIP. Es zählt nur, was käuflich ist. Als Gratisbeigabe zur Verringerung des notwendigen Lohns, der ja die Reproduktion der Ware Arbeitskraft ermöglichen soll, nimmt das Kapital diese unbezahlte Arbeit vieler Frauen allerdings gern.

Ein Beispiel für den Widersinn der kapitalistischen Logik: Bäckt jemand einen Kuchen, so gehen zunächst einmal die Backzutaten in das BIP ein; alles andere nicht. Isst er nun die eine Hälfte des Kuchens mit der Familie, hat er/sie mit der geleisteten Arbeit keinen Wert im Sinne des Kapitals geschaffen. Gibt er die andere Hälfte des Kuchens für ein Vereinsfest oder ähnliches zum Verkauf ab, damit der Verein seine Arbeit finanzieren kann, so geht der verkaufte Kuchen in das BIP ein. Und wenn der Verein mit dem eingenommenen Geld wieder etwas einkauft, dann erhöht das das BIP ebenso.

Würde man alles zusammenrechnen, was die Menschen in der Zeit der Corona-Krise zuhause oder bei der Hilfe für Nachbarn geleistet haben, und das im BIP berücksichtigen, so wäre das wahrscheinlich gar nicht oder nur um 1-2% gesunken. Denn tatsächlich haben die Menschen in dieser Zeit viel geschaffen, was für sie wertvoll ist.

Ekelhaft wird diese „Wertschätzung“ durch das Kapital in solchen Bereichen wie Sexualität. Wenn Menschen in der Corona-Krise mehr Zeit miteinander verbrachten, dabei auch mehr Zeit füreinander hatten und miteinander mehr Sex hatten, stellt das für das Kapital keinen Wert dar. Was für die Menschen wertvoll und Ausdruck von tiefer Intimität und Zuneigung ist, zählt für das Kapital nicht. Gehen diese Menschen aber zu einer Prostituierten bzw. einem Prostituierten, fließt Geld, dann erhöht das das BIP. Die Gesellschaft ist angeblich „reicher“ und „wohlhabender“ geworden! Wie ekelhaft und pervers ist ein solches Wirtschaftssystem! Es geht eben nicht darum, dass etwas wertvoll für die Menschen ist, sondern dass es Profite möglich macht.

Der Widersinn des kapitalistischen Rechnens wird auch im Bereich der Kultur in der Krise noch offensichtlicher. Der ganze Kulturbetrieb mit seinen Auswüchsen lag darnieder. Aber das Bedürfnis nach Kultur war weiterhin da, sowohl bei den Künstlern als auch bei ihren Zuschauern und Zuhörern. Im Kapitalismus ist auch Kunst und Kultur eine Ware. Sie muss verkauft und gekauft werden. In der Regel bedeutet das, dass einige wenige Stars Millionäre werden – und mit ihnen die Kulturkonzerne, die sie unter Vertrag haben. Ob Schauspieler, Maler, Bildhauer, Sänger – nur die sind wichtig, die viel Geld bringen. An ihnen hängt eine ganze Industrie von Studios, Eventfirmen, Ausrüster usw. Je größer das Event, desto höher der Profit. In der Krise waren viele Künstler, vor allem nicht so berühmte, sehr kreativ. Sie boten Internetkonzerte, posteten Beiträge auf youtube und facebook, gaben Konzerte über jitsi oder Zoom. Bilder, ja ganze Ausstellungen konnten über das Internet besucht werden. Schriftsteller führten Lesungen auf youtube, facebook, jitsi oder Zoom durch. Manche organisierten Konzerte auf Hinterhöfen. Dabei stießen sie auf große Resonanz bei ihrem Publikum. Auf einmal war alles unentgeltlich. Allerdings waren viele Zuschauer und Zuhörer bereit, für den Lebensunterhalt der Künstler zu spenden. Zudem gab es spontan Hilfsaktionen für Künstler, die nun wenig Möglichkeiten und kaum noch Einnahmen hatten. Vielen Menschen ist Kultur etwas wert, auch wenn sie keine unmittelbare „Leistung“ dafür erhalten. Weg war die Vermittlung und Beherrschung durch eine Musikindustrie. Die Beziehung zwischen Künstlern und Publikum wurde direkter und unmittelbarer, auch wenn der Kontakt meist über das Internet und auf Abstand stattfand. Das Bedürfnis nach Kultur bahnte sich neue Wege.

So ist die Corona-Krise ein Anlass dafür, über Wert nachzudenken und sich mit Karl Marx und seiner Kritik am Kapitalismus zu beschäftigen. Das kapitalistische System, das früher durchaus zu einer revolutionären Entwicklung geführt hat, ist heute verbraucht und verkommen. Es hat alle menschlichen Kategorien pervertiert und in ihr Gegenteil verdreht. Deshalb muss dieses System verschwinden und durch ein sozialistisches System ersetzt werden, in dem die Bedürfnisse der arbeitenden Menschen das Maß für die Entwicklung der Wirtschaft und Gesellschaft sind.

Stellen wir uns endlich, zur Abwechslung, einen Verein freier Menschen vor, die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewußt als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben. Alle Bestimmungen von Robinsons Arbeit wiederholen sich hier, nur gesellschaftlich statt individuell. Alle Produkte Robinsons waren sein ausschließlich persönliches Produkt und daher unmittelbar Gebrauchsgegenstände für ihn. Das Gesamtprodukt des Vereins ist ein gesellschaftliches Produkt. Ein Teil dieses Produkts dient wieder als Produktionsmittel. Er bleibt gesellschaftlich. Aber ein anderer Teil wird als Lebensmittel von den Vereinsgliedern verzehrt. Er muß daher unter sie verteilt werden. Die Art dieser Verteilung wird wechseln mit der besondren Art des gesellschaftlichen Produktionsorganismus selbst und der entsprechenden geschichtlichen Entwicklungshöhe der Produzenten. Nur zur Parallele mit der Warenproduktion setzen wir voraus, der Anteil jedes Produzenten an den Lebensmitteln sei bestimmt durch seine Arbeitszeit. Die Arbeitszeit würde also eine doppelte Rolle spielen. Ihre gesellschaftlich planmäßige Verteilung regelt die richtige Proportion der verschiednen Arbeitsfunktionen zu den verschiednen Bedürfnissen. Andrerseits dient die Arbeitszeit zugleich als Maß des individuellen Anteils des Produzenten an der Gemeinarbeit und daher auch an dem individuell verzehrbaren Teil des Gemeinprodukts. Die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen zu ihren Arbeiten und ihren Arbeitsprodukten bleiben hier durchsichtig einfach in der Produktion sowohl als in der Distribution.“ ((Karl Marx, Das Kapital, MEW, Bd.23, S.92-93)