Frankreich: Reaktionäre Polemik über die „Verwilderung“ der Gesellschaft


Übersetzung aus La Forge, Sept. 2020, Zeitung der Kommunistischen Arbeiterpartei Frankreichs, PCOF

Die Polemik über die Äußerungen des Innenministers Darmanin, der öffentlich und absichtlich zum Thema der „Verwilderung eines Teils der Gesellschaft“ Stellung bezog, wird immer lauter. Er hat einen Slogan aufgegriffen, wie ihn zuvor seit Jahren die extreme Rechte benutzte.

Auf den Einspruch des Justizministers Dupont-Moretti, der die Äußerungen Darmarins kritisierte und ihn beschuldigte, ein „Gefühl der Unsicherheit“ zu erzeugen und von einer „populistischen Übertreibung“ sprach, trat Schiappa 1) auf den Plan, um ihren vorgesetzten Minister zu unterstützen: auch sie griff diese Äußerungen als „Ministerin, die für die Staatsbürgerschaft zuständig ist“ auf und präzisierte, dass sie davon (von der Verwilderung eines Teils der Gesellschaft – d. Übers.) den Anstieg der „willkürlichen Gewalttätigkeiten“ kommen sieht. Die Rechte schloss sich an und sprach von einem Sommer des „Uhrwerk Orange“ 2), von der Laschheit der Regierung in Sachen Sicherheit… was Castex (Premierminister – d. Übers.) dazu veranlasste, das Ende der öffentlichen Polemik unter Ministern zu fordern. Aber er wiederholte genauso seine Reden von Anfang Juli über das Anwachsen der Gewalt und das Gefühl der Unsicherheit, auf die er mit einer Politik der Entschlossenheit reagieren wolle. Macron schließlich sprach vom Anstieg und der Verallgemeinerung der Gewalt und ließ verlauten, dass er diese Frage bei einer Festansprache über die Proklamation der Republik 1870 nach der Niederlage Napoleons III. in Sedan ansprechen werde, der Republik, die 1871 die Pariser Commune erdrosselte.

Diese Polemik und diese reaktionären Übertreibungen müssen im Kontext der sozialen Krise auf dem Hintergrund der Gesundheitskrise und der tiefen und anhaltenden Wirtschaftskrise von immer größerer Stärke betrachtet werden. Sie werden den Repressionsorganen geboten, um die am meisten verletzlichen Bevölkerungsteile einzukapseln und zu überwachen, auch auf dem Gebiet der Einhaltung der „Hygienemaßnahmen“ oder der „Maskenpflicht“, während die Kritik an den Polizeiübergriffen in den letzten Monaten wuchs. Dazu kommt noch die Verharmlosung von rassistischen und faschistoiden Reden und Themen durch gewisse Medien, wie der gemeine Angriff von „Valeurs actuelles“ auf D. Obono zeigte (…)

Anders gesprochen, die Übertreibung des Sicherheitsaspekts passt zu den rassistischen Angriffen, zu der Verharmlosung von Thesen der extremen Rechten und der Kriminalisierung der Jugend, besonders der der Arbeiterviertel, dieser „Teil der Gesellschaft“, der angeblich auf dem Hintergrund eines unbestreitbaren Anstiegs der Klassengewalt verwildert.

Diese Gewalttaten sind auch die Gewalttaten der Polizei bei den Demonstrationen der Arbeiter und der einfachen Bevölkerung, die vorläufigen Festnahmen mit Todesfolge, die sehr selten zur Verurteilung von Polizisten führen.

Die gesellschaftliche Gewalt, das sind vor allem die vielen Angriffe aller Art, Schläge, die das kapitalistische System an die Arbeiter, die Volksmassen, die Jugend austeilt, welche die ersten Opfer der Entlassungspläne, aber auch der Gesundheitskrise sind.

Der „Anstieg der Gewalt“ sogar innerhalb der einfachen Milieus, der Stadtviertel, die Zunahme der „Unhöflichkeiten“, sind reale Erscheinungen. Aber kann man behaupten, wie es die Parteigänger der Vorrangigkeit des Kampfs gegen die Unsicherheit machen, dass es eine bedeutende Zunahme gibt? Der Justizminister hat bekannt gemacht, dass die Zahlen, sogar die der Polizei, dies nicht zeigen. Mehr noch, die Spannungen, die durch den Lockdown in den unteren Milieus entstanden sind, mit Situationen an der Grenze des Erträglichen wegen des Zusammenlebens in engen Wohnungen, mit Not- und Elendssituationen, haben nicht zum Ausbruch von Gewalt geführt. Wenn doch die Gewalt gegen Frauen durch die Ehepartner angestiegen ist, dann vor allem deshalb, weil dieses Problem entgegen den Behauptungen der Regierung immer noch nicht ernsthaft angegangen worden ist.

Aber auf was man mit Nachdruck hinweisen muss, ist der mächtige Schwung der Solidarität, der sich in den Arbeitervierteln wie in den ländlichen Gebieten entwickelte, um den Schwächsten zu Hilfe zu kommen, ein Schwung, in dem die Jugendlichen eine erstklassige Rolle spielten.

Das Gerede über die Verwilderung markiert also die Rückkehr zu den Äußerungen Sarkozys 3) über das „Lumpenpack“, die er mit dem „Kärcher“ hinweg säubern wollte, mit dem Aufbauschen aller unterschiedlicher Fakten durch die Medien, die vor nichts zurückschrecken, nicht einmal vor Inszenierungen, um Schlagzeilen zu machen. Aber es ist eine weitere Schwelle überschritten, denn der Begriff „wild“ ist „emotional aufgeladen“: Es ist der Fremde mit Ursprung in den ehemaligen Kolonialländern, Träger der Gewalt, der kommt, um die „Französisch-Stämmigen zu verdrängen“. Dieses Gerede der extremen Rechten wird vom Innenminister hoffähig gemacht.

Anmerkungen:

1) Marlène Chiappa ist seit 6. Juli 2020 dem Innenminister beigeordnete Ministerin für Staatsbürgerschaft in der Regierung Castex.

2) Titel eines Sciencefiction-Films der 70er Jahre über die Entfesselung von Gewalt um der Gewalt willen.

3) Sarkozy: rechtskonservativer Staatspräsident Frankreichs vom 16. Mai 2007 bis zum 15. Mai 2012.