Trauerspiel Afghanistan – Fontane bedrückend aktuell

Briefmarke zu Ehren Fontanes             (Wikipedia- gemeinfrei)

Das Trauerspiel von Afghanistan

Theodor Fontane (1819 – 1898)

Der Schnee leis stäubend vom Himmel fällt,
Ein Reiter vor Dschellalabad hält,
„Wer da!“ – „Ein britischer Reitersmann,
Bringe Botschaft aus Afghanistan.“

Afghanistan! Er sprach es so matt;
Es umdrängt den Reiter die halbe Stadt,
Sir Robert Sale, der Kommandant,
Hebt ihn vom Rosse mit eigener Hand.

Sie führen ins steinerne Wachthaus ihn,
Sie setzen ihn nieder an den Kamin,
Wie wärmt ihn das Feuer, wie labt ihn das Licht,
Er atmet hoch auf und dankt und spricht:

„Wir waren dreizehntausend Mann,
Von Kabul unser Zug begann,
Soldaten, Führer, Weib und Kind,
Erstarrt, erschlagen, verraten sind.

Zersprengt ist unser ganzes Heer,
Was lebt, irrt draußen in Nacht umher,
Mir hat ein Gott die Rettung gegönnt,
Seht zu, ob den Rest ihr retten könnt.“

Sir Robert stieg auf den Festungswall,
Offiziere, Soldaten folgten ihm all‘,
Sir Robert sprach: „Der Schnee fällt dicht,
Die uns suchen, sie können uns finden nicht.

Sie irren wie Blinde und sind uns so nah,
So lasst sie’s hören, dass wir da,
Stimmt an ein Lied von Heimat und Haus,
Trompeter blast in die Nacht hinaus!“

Da huben sie an und sie wurden’s nicht müd‘,
Durch die Nacht hin klang es Lied um Lied,
Erst englische Lieder mit fröhlichem Klang,
Dann Hochlandslieder wie Klagegesang.

Sie bliesen die Nacht und über den Tag,
Laut, wie nur die Liebe rufen mag,
Sie bliesen – es kam die zweite Nacht,
Umsonst, dass ihr ruft, umsonst, dass ihr wacht.

Die hören sollen, sie hören nicht mehr,
Vernichtet ist das ganze Heer,
Mit dreizehntausend der Zug begann,
Einer kam heim aus Afghanistan.“

 

 

Kleine Anmerkung:

Kolonialismus in Gedichten Theodor Fontanes
Theodor Fontane, der dem Realismus zugerechnete preußische Dichter und Autor zahlloser Balladen, beschäftigte sich zeitlebens auch mit Kolonialismus und der damit einhergehender Gewalt. Er war durchaus kompetent, betätigte er sich doch auch als Journalist und – Kriegsberichterstatter (z.B. im Deutsch-dänischen Krieg 1864). Die Gewalt ist in seinen Briefen, Romanen, Erzählungen und Gedichten gegenwärtig.

Ein kurioses literarisches Denkmal setze Günter Grass dem Klassiker Fontane in seinem Roman „Ein weites Feld“, in dem Grass seinen „Helden“ Fonti, eine merkwürdige Art „Wiedergänger“ Fontanes, die Niederlage der DDR und ihre Einverleibung in die Bundesrepublik verarbeiten lässt…

Das Trauerspiel von Afghanistan (1858) thematisiert in Form einer klassischen, für Fontane typischen Ballade, die bis heute im Bewusstsein der Engländer verankerte Niederlage der Briten beim Rückzug aus Kabul im ersten anglo-afghanischen Krieg.

Die Menschen in Afghanistan erleben Krieg eben nicht erst seit 30 Jahren. 1839 marschierten die Briten ein. Auf der Flucht vor dem Volksaufstand verloren sie 14.500 Leute.

Einmal mehrwerden westliche Truppen. Jetzt waren und sind es die Nato-Streitkräfte unter US-Führung.

32 Jahre vorher, 1989, zogen sich nach zehn Kriegsjahren die sowjetischen Truppen zurück. Die USA hatten die afghanischen islamistischen Taliban logistisch und militärisch gegen die sowjetischen Besatzer unterstützt und stark gemacht.

Der Nato-Krieg in Afghanistan forderte über 240.000 Tote – zum überwiegenden Teil afghanische Bürgerinnen und Bürger…