Korrespondenz zu Depressionen: Wer jung und arm ist, kann sich den Strick nehmen


Foto: Pixabay

Ein Erlebnisbericht von GM

Die Vernachlässigung der Jugendlichen in der Zeit des „Homeschooling“ hat sich bekanntlich auf das psychische Wohlbefinden vieler Schülerinnen und Schüler ausgewirkt.

Insbesondere bei bereits bestehenden psychischen Vorerkrankungen waren besonders starke Ausmaße zu verzeichnen. Die Apotheken-Umschau berichtet: „Besonders schwierig ist die Situation für Menschen, die unter Depressionen leiden.“ Laut ihr haben mehr als „40 Prozent der Menschen mit diagnostizierter Depression […] von einer Verschlechterung ihres Krankheitsverlaufs in den letzten sechs Monaten“ berichtet. „Sie erlitten zum Beispiel einen Rückfall oder ihre depressiven Symptome nahmen zu.“1

In der Bundesrepublik gibt es jährlich 10.000 Fälle von Selbstmord. Mehr als die Hälfte litt unter Depressionen.2 Es ist medizinisch erwiesen, dass Antidepressiva im Falle von Depressionen schnelle Hilfe leisten.3 Dieses Recht auf Behandlung steht jedoch nicht jedem zu. Die „Houston Study“ (vgl: Simon, T.R., Swann, A.C., Powell, K.E., Potter, L.B., Kresnow, M., and O’Carroll, P.W. Characteristics of Impulsive Suicide Attempts and Attempters. SLTB. 2001; 32(supp):49-59.) belegt, dass mehr als 24% der Suizidversuche binnen 5 Minuten bei akuten Selbstmordgedanken auftreten. Andere Studien belegen, dass mehr als 48% der Suizidversuche binnen 10 Minuten bei Suizidgedanken stattgefunden haben.4 Die Verteilung ist dabei stark polarisiert, wobei ein beachtlicher Teil (in etwa 19%) 1-4 Wochen lang an Suizidgedanken bis zum Selbstmordversuch litt.

Man erkennt: Zeit ist überlebenswichtig bei Suizid – die Vernachlässigung von Behandlung depressiver Personen gleicht einem systematischen Mord, der über 10.000 Menschen jedes Jahr alleine in der Bundesrepublik das Leben kostet. Jede verstrichene Minute kann ein Menschenleben kosten.


Foto: Pixabay

Ich selbst bin Abiturient in der 12. Klasse und habe 2020/2021 stark unter psychischen Belastungen gelitten. Nachdem ich aufgrund eines eigenen Suizidversuchs im April, am 19.04.2021 in eine Psychiatrie auf die offene Station eingeliefert wurde, wurde ich bereits wenige Tage später, am 22.04.2021 wieder entlassen. Ganze drei Tage hat man einer „Behandlung“ gewidmet. Was folgte, waren Gespräche und eine Empfehlung doch bitte einen Hausarzt aufzusuchen, um mir Johanniskraut verschreiben zu lassen.

Nachdem ich entlassen wurde aus der Psychiatrie, hat es ganze 3 Wochen gebraucht, um bei dem Hausarzt einen Termin zu bekommen. Die Psychiatrie hat mir keine Unterlagen über meinen stationären Aufenthalt mitgegeben – also war ich als 17-jähriger Junge auf mich alleine gestellt. Nach langen Telefonaten, wurde bei mir eine mittelschwere Depression, trotz suizidaler Gefährdung (!) diagnostiziert. Auch wenn ich tage-, wenn nicht sogar wochenlang das Bett nicht verlassen konnte, so war ich mit einer „mittelschweren“ diagnostizierten Depression sowie Johanniskraut (vom Arzt als Übergangslösung in die Hand gedrückt, bis ich auf eigene Initiative was Besseres finde) im Stich gelassen.

Was mir blieb, war es also, auf Empfehlung meiner Ärztin eine Psychiaterin zu kontaktieren. Nach langem hin und her, habe ich im Juli versucht einen Termin zu vereinbaren. Alle Psychiater in unmittelbarer Nähe nahmen keine neuen Patienten auf. Ich hätte mich gefälligst frühestens Ende Oktober / Anfang November zu melden.

Den Krankenwagen oder die 116/117 zu kontaktieren war keine Option. Warum auch? Schließlich hatte man sich in der Psychiatrie geweigert, mir Medikamente zu verschreiben. Das wäre in meiner Situation ja auch zu viel verlangt.

Als Ausweg blieb mir, meinen Schulsozialarbeiter zu kontaktieren und ihn über meine Situation zu informieren. Nach mehreren ausführlichen Gesprächen, war er völlig über meine Lage schockiert, und sah es als unverschämt an, dass ich bisher noch in keine Behandlung integriert war.

Auf meine Anfrage probiert er es also aus, als Schulsozialarbeiter für mich einen Termin zu vereinbaren, in der Hoffnung, dass ich nicht direkt wieder abgewiesen werde. Er telefonierte mit einer der Psychiaterinnen, mit denen ich bereits erst vor wenigen Tagen selbst in eigenem Namen versuchte, mich in Verbindung zu setzen. Bei meinem eigenen Versuch hat’s nicht geklappt.

Wenigstens wurde er nicht sofort binnen 10 Sekunden zurückgewiesen – stattdessen wurde er ganze 2 Minuten in der Leitung gehalten, bis eine Absage kam. (Wohlgemerkt glauben bisher alle beteiligten Fraktionen, bis auf die, bei denen ich bereits in Behandlung gewesen bin, dass ich öffentlich versichert, also Kassenpatient sei.)

Als er meinte, dass ich privat versichert (bei der Debeka – über meinen Vater) sei, hat die Frau am Apparat gesagt, dass ihr plötzlich einfiel, dass es ja doch noch einen Platz gäbe. Anstatt mich erst im November zu melden, gäbe es übernächste Woche Dienstag (das Telefonat war am 09.08; der „plötzlich freigewordene“ Termin war am 24.08.) auf einmal einen Termin.

Das Angebot haben der Sozialarbeiter und ich natürlich nicht abgelehnt, schließlich geht es hier um Leben und Tod. Schockiert waren wir jedoch beide. Die Unverschämtheit des Systems, das Leben eines Patienten über das des anderen zu werten, kennt keine Grenzen.

Aus eigener Erfahrung kann ich berichten, dass es überall so ist. Ob Hals-Nasen-Ohren-Arzt, oder Allgemeinmedizin – sobald der Arzt merkt, dass der Patient privatversichert ist, öffnet sich ganz schleunig der Geldbeutel und die Tür steht sperrangelweit offen.

Wir erkennen, dass es eine Notwendigkeit für eine Änderung gibt. Nicht nur für den Ausbau des Gesundheitswesens, sondern auch für ein sofortiges Ende der Zwei-Klassen-Medizin. 10.000 Tote jährlich sind 10.000 Tote zu viel. Lasst uns gemeinsam dafür sorgen, dass die Zwei-Klassen-Medizin 2021 keine Menschen mehr auf dem Gewissen hat.

Der Termin ist diese Woche Dienstag – lasst uns hoffen, dass alles glatt läuft.

GM

1