Ukraine-Krieg: Ende in Sicht?

Der Krieg in der Ukraine hält seit neun Monaten an. In den letzten Wochen konnten wir einige Umbrüche beobachten, die darauf hindeuten, dass der von Moskau begonnene Krieg in eine neue Phase gleiten könnte, an dessen Ende ein möglicher Friedensschluss steht.

Erste Fragen warf der von der russischen Armee veranlasste Abzug aus dem Süden von Cherson vor knapp zwei Wochen auf. Der Rückzug wurde oftmals als ein Anzeichen für die militärische Überbelastung der russischen Streitkräfte gedeutet. Bemerkenswert ist in diesem Fall, dass es sich bei Cherson um eine der vier von Russland annektierten Provinzen und nach Lesart des Kremls offiziell um russisches Staatsgebiet handelt. Zudem ist Cherson ein strategisch wichtiger Punkt am Westufer des Dnjepr. Dieses Gebiet zumindest vorerst aufzugeben, scheint strategisch wenig sinnvoll.

Der russische Rückzug wird oftmals in eine Reihe von Rückeroberungen durch die ukrainischen Armee eingebettet, die insbesondere in den letzten Wochen mehrere kleinere Geländegewinne verzeichnen konnten. Der qualitative Unterschied am Geländegewinn um Cherson ist nur, dass die russische Führung selbstständig den Abzug anordnete und es sich eben um keine direkte Folge eines punktuellen Gefechtssieges der ukrainischen Streitkräfte handelte. Trotz dieser entscheidenden Tatsache, sehen insbesondere die reaktionärsten Teile des NATO-Flügels eine Chance, den Krieg endlich für Kiew zu entscheiden, indem noch die letzten Kraftanstrengungen, die Lieferung weiterer „schwerer“ Waffen oder die blitzschnelle Ausbildung ukrainischer Streitkräfte (unter anderem in Deutschland) forciert werden.

Das gewaltige aber oft undurchsichtige Meer der Fraktion der Kriegshungrigen war umso begeisterter und erzürnter, als in der letzten Woche der Einschlag von Luftabwehrraketen auf polnisches Staatsgebiet nahe der ukrainischen Grenze gemeldet wurde. Die polnische Armee rief erhöhte Alarmbereitschaft aus, Kiew beschuldigte Moskau und Artikel 4 des NATO-Vertrags (als Vorspiel für den berüchtigten Artikel 5) stand zur Diskussion. Die Welt stand am Rande einer Konfrontation zwischen Russland und der NATO. Zum ersten Mal in der Entwicklung des Krieges ist NATO-Gebiet betroffen gewesen. Für diejenigen, die sich bereits seit Ausbruch des Krieges ein Eingreifen von NATO-Truppen wünschen, schien der Traum seiner Erfüllung nah.

Doch der Traum platzte, als US-Geheimdienste und US-Präsident Biden Entwarnung gaben. Bei den eingeschlagenen Raketen handelte es sich nämlich um ukrainische Luftabwehrraketen. Der Artikel 4 wurde vom Tisch gewischt, zumindest vorerst. Bei seiner Rede im Weißen Haus dämpfte dann US-General Milley zusätzlich die Hoffnungen auf einen schnellen Sieg der Ukraine. Das Vorhaben des ukrainischen Präsidenten Selenskyj, die russischen Truppen vollständig aus ukrainischem Staatsgebiet zu verdrängen, sei unrealistisch. Man müsse sich auf ein „Zeitfenster“ für Verhandlungen konzentrieren. Denn „man möchte zu einem Zeitpunkt verhandeln, an dem man stark und der Gegner schwach ist“, erklärte Milley mit Blick auf Kiew. Milley scheint auf die Tatsache anzuspielen, dass bis auf einige Geländegewinne der ukrainischen Armee, die gegenseitigen Offensiven eher stockend verlaufen. Es ist auch nicht auszuschließen, dass sich der Krieg in einen Stellungskrieg verwandeln könnte. Inwiefern ein derartiges an die Stellungskriege des ersten Weltkriegs erinnerndes Szenario zu einem Friedensschluss oder einem Waffenstillstand führen könnte, wird letztlich nicht auf dem Schlachtfeld entschieden werden.

Denn die zentrale Frage im Ukraine-Krieg ist und bleibt die Strategie Washingtons. Während in den ersten Monaten der Krieges Meinungen, die im Ukraine-Krieg einen Stellvertreterkrieg zwischen Moskau und Washington sahen, als Putin-freundlich verunglimpft wurden, wird der Blick immer stärker auf Washington gerichtet. Das vor einigen Tagen abgehaltene Treffen zwischen William Burns (CIA) und Sergej Rjabkow (Russischer Auslandsgeheimdienst) in Istanbul zeigt die entscheidende Bedingung auf, dass sich die herrschenden Klassen beider Staaten einigen müssten, um den Krieg zu beenden; trotz aller Bekundungen von US-Seite, dass Kiew selbst entscheiden müsse, wann es verhandeln wolle. Die Frage zu beantworten, ob ein Ende dieses Krieges in Sicht ist, geht daher mit der Frage einher, wann für das White House der richtige Zeitpunkt gekommen ist, die Ukraine zu Friedensverhandlungen zu drängen oder sogar direkt mit dem Kreml zu verhandeln.

Es ist kein Zufall, dass von allen Akteuren, die die Ukraine im Krieg mit Russland unterstützen, das ferne Washington an vorderster Front steht. Von Hilfskrediten bis hin zu Waffenlieferungen sind es die USA, die ihre Alliierten dazu drängen, sich den Interessen Washingtons im Mantel scheinbarer ukrainischer Interessen unterzuordnen. Washington verfolgt dabei eine Doppelstrategie. Russland soll mit seinem Angriffskrieg in die Knie gezwungen werden und sich vom Status einer eigenständigen imperialistischen Macht verabschieden. So könnte Washington seinen eigentlichen Hauptfeind China weiter isolieren. Gleichzeitig hat der Krieg für die USA auch einen wichtigen Nebeneffekt: die langfristige Abspaltung der ökonomischen Verflechtungen Westeuropas und seiner Bourgeoisien (insbesondere der deutschen Bourgeoisie) von der russischen. Nord Stream 2 wurde schließlich auf Betreiben der US-Administration auf Eis gelegt und daraufhin Verträge für teures Flüssiggas aus den USA mit Deutschland vereinbart.

Inwieweit jedoch dieser strategische Kurs Washingtons fortgesetzt werden kann, hängt ebenso sehr von innenpolitischen Faktoren ab, wie die aktuelle Rezession in den USA zeigt. Der Klassenkampf steht auch dort immer stärker auf der Tagesordnung. Auch das US-amerikanische Kapital fragt sich, inwieweit die zunehmende wirtschaftliche Schwächung seiner westeuropäischen Partner durch die Folgen der von Washington am vehementesten vorangetriebenen Sanktionspolitik gegen Moskau ebenfalls zu seiner eigenen Schwächung führen kann. Zwar profitiert das US-Kapital aktuell von den im Vergleich zu Europa geringen Energiepreisen. So ist ein stetig werdender Kapitalabfluss aus Deutschland in die USA zu verzeichnen. Doch wird diese Verschiebung nicht ohne Konsequenzen verlaufen und das Verhältnis zwischen den Bürokraten aus Washington und Brüssel und der von Ihnen vertretene Kapitalistenklasse weiter belasten.