Haben Opfer das Recht, Unrecht zu tun?

Unter dieser Überschrift erschien kürzlich in der
Süddeutschen Zeitung ein Leserbrief eines Jüdischen Professors. In ihm ist das
Verhältnis des an den europäischen Juden verübten Unrechts zu den Taten des
Staates Israel, der diese als sein gutes Recht reklamiert, gut ausgedrückt. Wir
wollen ihn deshalb ungekürzt und ohne Kommentar abdrucken:

 

„Mein Vater hatte Auschwitz überlebt, meine Mutter die KZs
im Baltikum. Sie zogen mich in der der Erkenntnis auf, dass es die Wahl
zwischen Gut und Böse gibt, und jeder Mensch für seine Taten verantwortlich
ist: Sie erzogen mich in der Ethik der jüdischen Religion.

In seiner „Außenansicht“ propagiert Ronald S. Lauder, der
Präsident des Jüdischen Weltkongresses, eine alternative Ethik. Wir Juden seien
vor allem eines: Opfer. Daran solle der Gedenktag am 27. Januar erinnern.
Aktuell sei unser Staat Israel das Opfer unverständlicher Hassausbrüche von
Arabern und von „selbst ernannten Gutmenschen.“.

Ich würde gern Herrn Lauder fragen: Die Tatsache, dass
keiner meiner Großeltern das Dritte Reich überlebt hat – gab sie 1947/48 den
jüdischen Freischärlern und der israelischen Armee das Recht, Hunderttausende
Araber aus Israel zu vertreiben?

Die „Arisierung“ des Berliner Grundstücks meines Urgroßvaters
– gab sie dem Staat Israel das Recht, Anfang der fünfziger Jahre den Boden und
Besitz der arabischen Vertriebenen zu konfiszieren?

Die Ermordung meiner Onkel und Tanten durch die SS – gibt
sie dem Staat Israel das Recht, seit 40 Jahren die Diktatur eines
Besatzungsregimes auszuüben?

Die Erschießung meiner Großmutter Hanna dafür, dass sie in
Berlin ohne Gelben Stern zum Friseur ging – gibt sie dem Staat Israel aktuell
das Recht, die Bevölkerung Gazas auszuhungern?

Allgemein: Gibt die Tatsache, dass wir europäischen Juden
Opfer eines großen Unrechts wurden, dem jüdischen Staat vor Gott und vor den
Menschen das Recht, nun Anderen Unrecht zu tun? Können uns die Sonntagsreden am
„Holocaust-Gedenktag“ vor dieser Frage schützen?“

Prof. Dr. R.V.