Klassenjustiz: Der Fall der Kassiererin Emmely und eines Klinikchefs

Am selben Tag berichtete die Stuttgarter Zeitung über zwei
Fälle. Auf der einen Seite der bundesweit bekannt gewordene Fall der
Kassiererin bei Kaisers/Tengelmann Emmely, die wegen der nicht nachgewiesenen
Unterschlagung von Pfandbons im Wert von 1,30 Euro entlassen wurde. Das
Landesarbeitsgericht Berlin gab Kaisers/Tengelmann Recht. Auch wenn die
Unterschlagung nicht beweisbar sei, sei schon mit dem Verdacht das Vertrauen so
tief erschüttert, dass dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung nicht zumutbar
sei.

Am selben Tag hatte sich das Universitätsklinikum Freiburg
mit dem ehemaligen Chef der Unfallchirurgie, Hans-Peter Friedl, geeinigt, sein
Dienstverhältnis gegen eine Abfindung von 1,98 Millionen Euro aufzulösen.
Friedl war vor 9 Jahren vom Dienst suspendiert worden und erhielt seither seine
monatlichen Bezüge von 4.000 bis 6.000 Euro weiter. Friedl war 2000 vom Dienst
suspendiert worden, nachdem jahrelang zahlreiche Meldungen über fehlerhafte und
zum Teil lebensgefährliche Verletzungen von ihm anvertrauten Patienten von der
Klinikleitung ignoriert und unterdrückt worden waren. Friedl hatte bei, wie von
Gutachtern festgestellt, unsachgemäß vorbereiteten und durchgeführten
Operationen einem Patienten beispielsweise die Hauptschlagader durchtrennt,
sodass dessen Bein seither gelähmt ist. Den ihm unterstellten Ärzten verbot er,
über Operationsfehler zu sprechen. Teilweise wurde den Ärzten eine Behandlung
untersagt, wenn Patienten sich bei Operationen infiziert hatten. Das Wort
„Eiter“ durfte laut Anweisung von Friedl nicht in den Mund genommen werden.

Friedl hatte im Gegensatz zu seinen Patienten Glück: Beim
Strafprozess fanden die Richter, dass Friedl schon genug gestraft sei, weil
sein Fall in die Presse kam und er nun schlechte berufliche Aussichten habe.
Armer Chefarzt! Obwohl sie ihn in drei Fällen der fahrlässigen und in einem
Fall der vorsätzlichen Körperverletzung für schuldig befinden, wird er nur zur
untersten möglichen Strafe von 24.300 Euro verurteilt und der Antrag der
Staatsanwaltschaft auf 100.000 Euro Strafe, ein dreijähriges Berufsverbot und
eine zur Bewährung ausgesetzte Strafe von zwei Jahren zurückgewiesen. Mit einem
solchen Strafmaß hätte Friedl aus dem Beamtenverhältnis entlassen werden
können. Mit dem „gnädigen“ Urteil kann er Beamter bleiben, ohne jede Arbeit 9
Jahre lang sein Gehalt beziehen und schließlich noch fast 2 Millionen Euro
Abfindung kassieren. Seine Opfer laufen teilweise heute noch auf Krücken und
haben niemals ein Schmerzensgeld in dieser Höhe gesehen. Aber die „Schmerzen“
des Chefarztes über seine beendete Karriere sind halt deutlich mehr Wert als
die Schmerzen seiner Opfer.

Klassenjustiz, das wird von den Herrschenden abgestritten.
Sie behaupten, wir lebten in einem Rechtsstaat, in der jeder gleich behandelt
wird. Die Realität straft sie Lügen. Die beiden Fälle zeigen schlaglichtartig
den Klassencharakter unserer Gesetzgebung und unserer Justiz auf! Denn in
beiden Fällen wurde natürlich „streng nach Gesetz“ geurteilt.

Im ersten Fall, bei Emmely, sieht das Arbeitsgesetz für
Arbeitgeber eine „Verdachtskündigung“ vor. Hier muss der Beschuldigte beweisen,
dass er unschuldig ist. Das Grundprinzip eines Rechtsstaates „Im Zweifel für
den Angeklagten“, also Verurteilung erst dann, wenn etwas zweifelsfrei bewiesen
ist, wird hier vollkommen zugunsten des Kapitals verdreht. Mit dieser
„Verdachtskündigung“ kann das Kapital juristisch korrekt jeden Kollegen
jederzeit kündigen, weil es ihn „im Verdacht“ hat, einen Zettel vom Notizblock
für private Notizen „gestohlen“ zu haben. Die Gesetze sind so!

Im anderen Fall der fahrlässigen und vorsätzlichen
Körperverletzung bestand ja nicht der Verdacht, der Herr Chefarzt habe dem
Arbeitgeber einen Notizzettel oder 1,30 Euro gestohlen. Er hat ja „nur“
Patienten verkrüppelt. Damit wurde das „Vertrauensverhältnis“ zum Arbeitgeber
nicht so schwer geschädigt, dass eine Kündigung möglich war. Die
Universitätsklinik Freiburg und das Wissenschaftsministerium Baden-Württemberg
holten sich Rat bei einem Untersuchungsrichter. Der prüfte sechs Jahre den
Fall! Dann stellte er fest, „dass die
gegen Professor Friedl erhobenen Vorwürfe aller Voraussicht nach nicht zu einer
Entfernung aus dem Dienst führen werden“
. Denn Friedl war Beamter und die
dürfen angeblich ohne Angst vor Entlassung ihre Patienten verkrüppeln. Die
Gesetze sind so!

Doch Gesetze fallen nicht von Himmel. Sie werden gemacht!
Und sie werden entsprechend den Interessen der herrschenden Klasse gemacht. Da
ist es klar, dass das Kapital sich das „Recht“ von seinen „Volksvertretern“ so
schreiben lässt, dass es Arbeiter und Angestellte auf Verdacht entlassen kann.
Und es lässt sich das „Recht“ so schreiben, dass Angehörige der oberen Klasse
in der Regel straffrei ausgehen oder „milde Urteile“ erhalten. Das hat man
schon bei der Anklage gegen den Deutschen-Bank-Chef Ackermann im
Mannesmann-Prozess oder bei dem Verfahren gegen Peter Hartz im
VW-Korruptionsprozess gesehen.