Zum Stand im PCB-Envio-Skandal in Dortmund

Zumindest keine Vollbremsung…

AZ hat seit mehr als zweieinhalb Jahren immer wieder über diesen Skandal berichtet und das wird auch in Zukunft noch öfter der Fall sein. Für „Seiten-Einsteiger“ in unsere Zeitung deshalb hier einige Kurzinformationen zu PCB und zum bisherigen Prozessverlauf:

PCB wurde wegen seiner Eigenschaften vor etwa 60 Jahren in der Bauindustrie verwendet und als Isoliermittel z.B. in Elektrogeräten wie Transformatoren. Seine gesundheitsschädigende Wirkung wurde schnell erkannt, es zählt zum „dreckigen Dutzend“ der giftigsten chemischen Stoffgruppen; seine Herstellung und Anwendung ist daher seit Jahrzehnten weltweit verboten. Es ist eine Stoffgruppe von 209 verschiedenen, alle unterschiedlich wirkenden Schadstoffen. Da die Gefährlichkeit bald erkannt und die Nutzung verboten wurde, wurde die Forschung eingestellt und erst in Zusammenhang mit dem Envio-Skandal wieder aufgenommen. Alle 209 Verbindungen sind künstlich hergestellt, es gibt also keine Organismen, die sie wieder abbauen. Ihre „Halbwertszeit“ ist lang. Die 209 Stoffe unterscheiden sich durch die Anzahl und die Anordnung der ihnen künstlich zugefügten Chlor-Atome (PC = PolyChlor). Auch über die Zerfallsprodukte der Stoffe und deren eventuelle Auswirkungen ist kaum etwas bekannt. Gesichert ist, dass „niederwertige“, also PCBs mit wenigen Chloratomen das Erbgut des Menschen beeinflussen und dass ihre Halbwertszeit kürzer ist als die „höherwertigen“ PCBs. Außerdem sind alle PCBs wasserunlöslich, aber fettlöslich – sie reichern sich daher in fetthaltigen Geweben an. Aufgenommen mit der Nahrung, durch die Atmung oder über die Haut gelangt PCB ins Blut, bleibt dort aber nicht, sondern wandert ins Fett weiter. Eine Abnahme der PCB-Werte im Blut bedeutet für Betroffene also keine Besserung, sondern nur, dass das PCB jetzt (jahrzehntelang) im Körperfett ist.

Das Recycling-Unternehmen Envio machte seinen Profit vor allem mit der Ausschlachtung alter Transistoren, deren wertvolle Kupferspulen herausgeholt wurden – die waren allerdings durch PCB isoliert. Envio wurde 2010 stillgelegt und Herr Neupert und drei Mittätter angeklagt. Der Prozess war zunächst nur für eine Dauer von paar Wochen angesetzt und drohte auch einmal eingestellt zu werden; er wurde immer wieder verlängert, im April 2015 sind es dann 3 Jahre. Bei Envio in Dortmund (in Südkorea macht Neupert weiter) waren hauptsächlich Zeitarbeiter beschäftigt. Ihre gesundheitlichen Schädigungen durch Envio/PCB werden bisher nicht als Berufskrankheit anerkannt.

 

Das befürchtete Prozess-Ende am 16. Dezember 2014 (siehe AZ 6/14) bleibt nun erfreulicherweise doch noch aus – das Landgericht Dortmund hat einen Terminplan zumindest bis April 2015 bekanntgegeben. Wir sind als Kommunisten und Marxisten zwar Realisten, aber auch bei uns stirbt die Hoffnung zuletzt – die Hoffnung, dass die drei Angeklagten doch noch zur Rechenschaft gezogen werden und ihre zahlreichen Opfer zumindest eine ausreichende Entschädigung erhalten und dass ihre durch Envio ruinierte Gesundheit als Berufskrankheit anerkannt wird.

Genährt wurde diese Hoffnung zunächst dadurch, dass eine Anwältin der Nebenklage (bezeichnenderweise nicht der Staatsanwalt!) einen Befangenheitsantrag gegen den vom Gericht offenbar als Haupt-Sachverständigen betrachteten Gutachter Alfred Rettenmeier gestellt hatte. Der war nämlich nicht in der Lage, aus den ihm vorgelegten medizinischen Unterlagen von 29 Opfern einen Nachweis für irgendein Verschulden der Angeklagten in Richtung Körperverletzung zu entdecken. Der Befangenheitsantrag gegen ihn stützte sich vor allem auf das von Prof. Rettenmeier erstellte, viele Seiten umfassende Gutachten, das die Anwältin der Nebenklage schon bei der Anhörung des „Gutachters“ im Gerichtssaal ziemlich zerpflückte.

Am 16. Dezember wurde nun nicht der Prozess beendet, sondern die Entscheidung über den Befangenheitsantrag verkündet. Würde dem Antrag stattgegeben, so könnte das bedeuten (so der Richter nach Aussagen von Prozessbeobachtern), dass der Prozess um 6-9 Monate unterbrochen wird, dass neue Gutachter (evtl. auch im Ausland) gesucht werden müssten, die möglicherweise eine Einarbeitungszeit in die Problematik von zwei Jahren oder länger benötigten, und dass der Prozess dann noch einmal ganz neu aufgerollt werden müsste.

Nicht nur die Dortmunder Bürgerinitiative gegen den PCB-Skandal begrüßte diese Entwicklung, weil zumindest das Schlimmste zunächst einmal abgewendet wäre. Sie führte am 16. Dezember ab 9.45 eine optisch wirksame Aktion vor dem Landgericht durch, bei der viele der noch ungelösten Probleme aufgezeigt wurden (siehe unten).

Das Gericht entschied dann leider doch wie befürchtet: der Befangenheitsantrag wurde abgelehnt. Zwei Sprecherinnen des Gerichts wechselten sich ab beim hastigen und genuschelten Verlesen der langen Ablehnungsbegründung. Es war kaum etwas zu verstehen. Notizen als Gedächtnisstütze zu machen war unpraktisch, denn dann verpasste man ein paar der wenigen verständlichen Satzteile – also konnten die ungewöhnlich zahlreichen Zuhörer nur versuchen, sich einen Gesamteindruck zu bilden. Und der spricht nicht für das Gericht. Als bezeichnend greifen wir heraus:

Prof. Rettemeier hatte in seinem Gutachten offenbar geschrieben, es gäbe keine wissenschaftlichen Untersuchungsergebnisse über gesundheitliche Auswirkungen von PCB auf den Menschen. Dies widerlegte die Nebenklage mit dem Hinweis auf die sog. Iowa-Studie (USA 2011). Das wurde nun wiederum vom Gericht zurückgewiesen, weil bei dieser Studie nur „in vitro“ („im Reagenzglas“) untersucht worden sei. Tatsächlich waren aus dem menschlichen Körper isolierte Zellen auf Schädigung durch PCB hin untersucht worden und diese eindeutig nachgewiesen worden. Gegen-„Argument“ des Gerichts: damit ist ja nicht wissenschaftlich „belastbar“ bewiesen, dass diese Zellen auch geschädigt worden wären, wenn sie nicht isoliert gewesen wären. Zu gut (?) Deutsch: das Gericht bemängelt offenbar, dass für die Iowa-Studien keine Versuche an Menschen durchgeführt wurden. Das beweist unseres Erachtens aber, dass unter den Iowa-Wissenschaftlern kein Dr. Mengele war, was wir begrüßen. Doch das scheint nun zugunsten der Angeklagten ausgelegt zu werden und zum Nachteil der Menschen, die der zuständige Richter an früheren Verhandlungstagen selbst als „PCB-Geschädigte“ bezeichnet hatte. Übrigens meldete sich unnötiger, aber bezeichnender Weise auch der Staatsanwalt zu Wort mit dem Hinweis, er teile die Befangenheitsbedenken der Nebenklage (alle anderen Nebenkläger hatten sich ihr angeschlossen) nicht. Was Wunder? Schließlich hatte er Herrn Prof. Rettenmeier als Gutachter vorgeschlagen. Seine Anklage lautet übrigens sinngemäß auf „Körperverletzung in Tateinheit mit Verstößen gegen folgende Auflagen.“ Es muss also eine Körperverletzung durch Envio definitiv nachgewiesen werden, was zwar statistisch einfach, aber konkret fast unmöglich ist, weil bis auf Chlor-Akne alle anderen Gesundheitsschäden auch andere Ursachen haben können. Würde die Anklage lauten auf „Fahrlässige (oder gar vorsätzliche) Körperverletzung…“, so stünden Verstöße gegen Auflagen der Bezirksregierung Arnsberg z.B. im Mittelpunkt. Der Staatsanwalt ist kein Anfänger, er weiß, wie „man“ Anklageschriften abfasst…

Die befürchtete „Vollbremsung“ des Prozesses am 18. Dezember blieb nun aus, bei so einer Bremsung kann man ja auch leicht ins Schleudern kommen. Statt ihrer scheint es ein langsames Ausbremsen zu geben. Der Nebenklage wurde immerhin die Anhörung eines weiteren Gutachters zugestanden.

Keine Versuche, aber Untersuchungen an Menschen haben übrigens Prof. Kraus und sein Team von und an der TH Aachen durchgeführt. Er ist Leiter des Betreungsprogramms, das nunmehr seit gut viereinhalb Jahren für die Envio-Opfer durchgeführt wird. Es gibt in der Welt niemanden sonst, der über einen so langen Zeitraum Untersuchungsergebnisse vorliegen hat. Er wäre daher ein Wissenschaftler, den man zur Beurteilung von PCB-verursachten Gesundheitsschäden beim Menschen zurate ziehen müsste. Doch Prof. Kraus wurde auf Antrag der Verteidigung vom Gericht als „befangen“ abgelehnt – er macht aus seinem Mitgefühl für die untersuchten Menschen keinen Hehl.

Nun soll – wahrscheinlich im Januar – Prof. Tim Brümmendorf vom Gericht befragt werden. Er hat offenbar bei den von ihm untersuchten Arbeitern, Familienangehörigen und Anwohnern die Schädigungen durch PCB beobachtet, die in der Iowa-Studie nur an isolierten Zellen bewiesen wurden: eine Schädigung der Zellenden (Telomere), die sich beim gesunden Menschen regelmäßig abspalten und neue Zellen bilden – nach PCB-Einwirkung tun sie das nicht; es wird die Bildung neuer Zellen jedoch gebremst, ähnlich wie oft bei älteren Menschen; das ist eindeutig eine Körperverletzung, diesmal eindeutig nicht durch „…höchst ungesunden Lebensumstände“, wie von der Verteidigung unterstellt. (Eigentlich nicht) erstaunlich ist, dass Prof. Brümmendorf nicht als Gutachter aussagen darf, sondern nur als „Sachverständiger Zeuge“. Moment mal – da war doch was? Ach ja, Prof. Kraus, durfte der nicht auch nur als…? Genau! Und nun rate mal, liebe(r) Leser(in), wo Prof. Brümmendorf arbeitet? Richtig! In Aachen, an der Technischen Hochschule. Und noch schlimmer: an demselben Institut wie Prof. Kraus! Und noch viel schlimmer: im Team von Prof. Kraus! Na hör mal, liebe(r) Leser(in), wie kannst Du denn da an Sippenhaft denken!

AZ schließt sich den Kritiken der Bürgerinitiative am Prozess, an der Bezirksregierung Arnsberg und der Stadt Dortmund an:

„Sicherung des Wirtschaftsstandortes Dortmund – Hauptsache Arbeitsplätze – zu welchem Preis, das ist egal!“

Sowie den Forderungen:

„Entschädigung der betroffenen Arbeiter und ihrer Familien!“

„Verurteilung der Envio-Verantwortlichen!“

„Sanierung des verseuchten Geländes – aber nicht auf unsere Kosten!“

„Der Envio-Skandal: ein Umwelt-, ein Politik-, ein Justizskandal!“

„Freispruch für Neupert = Ermutigung für Unternehmer zur sanktionslosen Vernachlässigung von Umwelt und Arbeitsschutz!“


Der eindrucksvolle Dokumentarfilm des WDR ist unter „Grünkohl, Gifte und Geschäfte“ bei YouTube zu sehen:

https://www.youtube.com/playlist?list=PL24B419F94CE5A596