SPD-Parteitag 2019: „In die neue Zeit…“

Auf ihrem Parteitag von Anfang Dezember 2019 hat die SPD die Parole „Sozialstaatsreform“ ausgegeben und will alte Zöpfe abschneiden, vor allem will sie „Hartz hinter sich lassen“. Die CDU hat bereits grundsätzliche Ablehnung gegenüber den Ambitionen ihres GroKo-Partners signalisiert – Doch wie viele Zöpfe sind wirklich gefallen und stellen die euphorisch gefeierten Absichtserklärungen des neu gewählten SPD-Vorstands tatsächlich eine essentielle Abkehr von den Prinzipien der Agenda 2010 und der neoliberalen Umverteilungspolitik dar? – Eine Begutachtung der Arbeitsmarkt- und Rentenbeschlüsse.

Der Mindestlohn…

soll nach Beschluss der SPD perspektivisch auf 12 Euro brutto angehoben werden. Die öffentliche Hand sollte bei der Auftragsvergabe mit gutem Beispiel vorangehen.

…Eine Mogelpackung – Die perspektivisch angestrebte Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro, – vorausgesetzt die SPD könnte ihn gegenüber der CDU überhaupt durchsetzen – wäre bereits vor seiner Verabschiedung vollkommen unzureichend.

Die flächendeckende Verbindlichkeits-Erklärung von Tarifverträgen bei temporär geduldeten, aber wesentlich höheren Mindestlöhnen, verbunden mit einem gewerkschaftlich organisierten Angriff auf die mafiösen Strukturen der Leiharbeit, wo in vielen Bereichen auf der Grundlage des sogenannten Arbeitnehmer Überlassungsgesetzes (AÜG) Mindestlöhne und ihre Unterschreitung zum Geschäftsmodell gehören, wären Schritte in die richtige Richtung.

Arbeitslosengeld

Arbeitslose sollen – gestaffelt nach Beitragszeiten und Qualifizierungsbedarf länger ALG I beziehen können. Ein Arbeitslosengeld Q mit einer Maximallaufzeit von maximal 36 Monaten soll eingeführt werden.

Das Arbeitslosengeld Q geht in die richtige Richtung ist jedoch nur eine kosmetische Verbesserung in angebotsorientierten, deregulierten Arbeitsmärkten. Viele Arbeitslose sind gut qualifiziert und verfügen über ausreichend Berufserfahrung, was fehlt sind ausreichend qualifizierte Arbeitsplätze, die strenge Überwachung des Diskriminierungsverbots bei der Einstellung von qualifizierten Stellenbewerberinnen und Stellenbewerbern zum Beispiel aufgrund ihres Alters oder ihres Geschlechts und der Einstieg in eine wirkliche Regulierung des Arbeitmarktes durch den Staat– Mittelfristig: Rekonstituierung des Staates als gewichtiger Akteur am Arbeitsmarkt und der Schaffung industrieller Arbeitsplätze!

Bei dem Modell bleibt zu befürchten, dass der private „Maßnahmen-Dschungel“ der Arbeitsämter weiter ausgebaut wird und ausschließlich die Anbieter von Weiterbildungsmaßnahmen reichlich bedient werden.

Hartz IV

Die Grundsicherung soll künftig Bürgergeld heißen. In einem ersten Schritt soll ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt werden: Die Jobcenter sollen die monatlichen Leistungen nicht stärker als um 30 Prozent kürzen. – Strengere Sanktionen für unter 25-Jährige und Kürzungen von Wohnkosten sollen abgeschafft werden.
Bei allen, die aus dem Bezug von ALG I kommen, soll für zwei Jahre Vermögen und die Wohnungsgröße nicht überprüft werden.
Wer Bürgergeld erhält, soll ein Recht auf Förderung des Nachholens eines Berufsabschlusses bekommen.

Die Umbenennung von Hartz IV in Bürgergeld ist eine Farce, die SPD erhebt die ohnehin umzusetzenden Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts einige Wochen vorher – Reduzierung der Sanktionen bei „Pflichtverstößen“ wie Meldeauflagen und die Zurückweisung von „Stellenangeboten“ durch die JobCenter zum Programm – als wenn auch eine nur auf maximal 30% verringerte Kürzung von der bereits als Ganzes unzureichenden Grundsicherung nicht schon existenzgefährdend wäre! – Das „sozioökonomische und soziokulturelle Existenzminimum“ soll laut SPD-Beschluss dennoch mit dieser Kürzung gewahrt bleiben können, welche Verhöhnung von arbeitslosen Menschen! Ausschließlich die beabsichtigte Rücknahme der Sonderbehandlung jugendlicher Arbeitsloser unter 25 Jahren im Hartz-IV-System, der Verzicht auf Kürzung des Mietanteils und der Beschluss zur temporären Aussetzung der sogenannten Bedürftigkeits-Prüfung bei Menschen, die in die Grundsicherung fallen, können als Neuerung im SPD-Beschluss angesehen werden, die das Sanktions- und Verwaltungsregime der Arbeitsämter und den Generalverdacht der „Jobcenter“ der ungerechtfertigten Leistungserschleichung gegenüber Arbeitslosen aber generell nicht in Frage stellt.

Die Teilung des Arbeitsmarkts durch Beibehaltung eines „Ersten“ und eines „Sozialen Arbeitsmarkts“ wie er in Anlehnung an das Modell des Regierenden Bürgermeisters Müller in Berlin in das Programm der SPD zur Sozialstaatsreform aufgenommen wurde, lehnen wir generell ab, da in sozialen Märkten unter dem Vorwand der „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ und der „Heranführung von Arbeitslosen an den ersten Arbeitsmarkt“ das kapitalistische Wettbewerbsprinzip diejenigen aussondert, die in der kapitalistischen Profitlogik temporär oder dauerhaft keine „Wettbewerbschancen“ haben.
Der durch die Jobcenter verheißene Wechsel in den sogenannten ersten Arbeitsmarkt bleibt für viele Langzeitarbeitslose oftmals eine leere Versprechung, Karrieren im zweiten Arbeitsmarkt bilden sich heraus, an denen sich Maßnahmen-Anbieter eine goldene Nase verdienen. Tarifverträge auf Mindestlohnbasis zementieren – neben anderen Formen prekärer Beschäftigung – einen dauerhaften Niedriglohn-Sektor, der zur Verfestigung von Einkommens- und Altersarmut beiträgt, da keine nennenswerten Renten-relevanten Ansprüche aufgebaut werden können. – Ein solches Arbeitsmarktmodell lehnen wir ab.

Die Abschaffung von Hartz IV für Kinder geht generell in die richtige Richtung, jedoch werden Einkommensobergrenzen für vermögende Haushalte nicht definiert, die das statt dessen zu gewährende Paket aus Steuer finanzierten Familien-und Teilhabe-Leistungen für Kinder einkommensbedingt – ähnlich wie beim sogenannten Baukindergeld – eigentlich nicht brauchen .

Für gebührenpflichtige Angebote wie Sportvereine, Schwimmbäder oder Musikschulen soll es – steuerfinanziert – höhere Zuschüsse geben, anstatt diese soziokulturellen Leistungen generell gebührenfrei zu stellen.

Rente (Schlagworte im SPD-Beschluß)

Kernversprechen des Sozialstaats sichern: gesetzliche Rente bleibt Grundlage für ein ausreichendes Einkommen nach Erwerbstätigkeit und bei Erwerbsminderung;
Anerkennung von Lebensleistung sichern: Einführung Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung; Stabilisierung des aktuellen, perspektivische Erhöhung des zukünftigen Rentenniveaus;
Keine weitere Erhöhung der Regelaltersgrenze;
konkreteSchritte zur Einführung einer Erwerbstätigenversicherung, in die alle einzahlen

Der SPD-Beschluss zur Einzahlung aller in die zur „Erwerbstätigen-Versicherung“ umbenannte Rentenversicherung geht in die richtige Richtung, jedoch ist eine solche Einführung nicht freiwillig zu erreichen, sondern nur durch klare gesetzliche Schritte.

Wir fordern, die private Rentenversicherung mittelfristig per Gesetz in die staatliche Rentenversicherung zu überführen und aufzulösen. Eine Zusammenlegung beider Versicherungsformen darf nicht zur Aufweichung des gesetzlichen Rentensystems führen! Dabei ist in einem ersten Schritt die Rentenversicherung unter Mitwirkung einer gesellschaftlich breiten Basis in einen rein staatlich organisierten Vertrag mit erworbenen und im Detail solide festzulegenden Ansprüchen und Anspruchsgrenzen aller gegenwärtigen und zukünfigen Rentenbezieher zu überführen. – Eine Zusammenführung aller bisher nebeneinander bestehenden Versicherungsformen in ein gerechtes staatliches Rentenmodell muss die bisherigen programmatischen Kürzungen des Rentenniveaus beenden, logischerweise im Gegenteil zu einer allgemein spürbaren Erhöhung der Renten und zukünftigen Anwartschaften für die überwiegende Mehrheit der arbeitenden Klasse führen, Altersarmut ächten, ethisch obszön hohe und ungerechtfertigte Rentenzahlungen kappen und dem allgemeinen Rentenstock der staatlichen Rentenversicherung zuzuführen!

Das Renteneintrittsalter ist zu senken und die Frühverrentung aufgrund Arbeitsunfähigkeit ohne Abschlag auf die erworbenen Rentenansprüche am Ende des staatlich festgelegten Arbeitslebens zu gewährleisten; die Rente und das Familieneinkommen im Alter muss so auskömmlich ausgestaltet sein, dass eine Aufstockung durch Sozialamt, durch zwangsläufige Annahme eines Minijobs oder das Aufsuchen von Tafeln oder Flaschensammeln in einem reichen Land wie Deutschland als Phänomene gesellschaftlichen Versagens bewertet werden müssen.

Eine Finanzierung der geplanten Grundrente aus der Besteuerung von privaten Aktienkäufen (0,2% des Anschaffungspreises) ist abzulehnen (auch wenn wir eine Besteuerung von Aktienkäufen befürworten), ebenso die festgelegte Höhe der Leistung von 10% über der Grundsicherung nach einem 35 jährigen Arbeitsleben – Wenn es der bürgerliche Staat über Jahrzehnte ablehnt – dort wo die Sozialpartnerschaft der Tarifparteien nicht fähig oder willens war, für faire Löhne zu sorgen – regulativ über gesetzlich festgelegte Lohnstandards zum Aufbau auskömmlicher Renten einzugreifen, so kann dieser nachträglich versuchte „Heilungsversuch“ nicht an das Geschehen an kapitalistischen Börsen gekoppelt werden.
Ebenso lehnen wir „fondsgebundene Produkte“ der sogenannten dritten Säule der Rentenversicherung wie Riester-oder Rührup-Renten und privater börsennotierter Versicherungsfonds vollkommen ab.

Homeoffice“

Ein Recht auf mobiles Arbeiten und Homeoffice soll gesetzlich verankert werden. – Mehr Gestaltungsfreiheit im Lebensverlauf sollen Zeitkonten für jeden bringen.

Die beabsichtigte gesetzliche Verankerung des „Rechts auf Homeoffice“ und die Schaffung von „Zeitkonten“, als originäre Instrumente der weiteren Flexibilisierung und Aufsplittung von Arbeit lehnen wir ohne kontrollierbare Regulationsmechanismen dieses Arbeitssegments ab.- Was als Tribut an den Wandel der Arbeitswelt angedacht sein soll, entpuppt sich in der Realität unregulierter Märkte eines neoliberalen Kapitalismus als Instrument zur weiteren Spaltung und Separierung der Arbeiterschaft untereinander.
Wir lehnen die Selbstausbeutung Zuhause zugunsten des Erhalts oder der Erhöhung von Profiten ab.
Statt dessen fordern wir den sofortigen Ausbau eines beschäftigten- und umweltfreundlichen öffentlichen Nahverkehrs, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, als ersten Schritt einen freien Haushaltstag für Männer und Frauen in Verbindung mit der Einführung der 30 Stundenwoche bei vollem Lohn-und Personalausgleich.

Betrachten wir die öffentlichkeitswirksam zelebrierte „Sozialstaatsreform“ der SPD im Detail, so erwecken die programmatischen Beschlüsse in vielen Punkten eher den Eindruck eines Selbstfindungsprogramms für die Parteibasis und zur Rückgewinnung ehemaliger Stammwähler, um dem vollständigen Untergang bei den Bundestagswahlen 2021 zu entgehen. An der strukturellen Beseitigung der Agenda 2010 als weiterem Programm der materiellen Umverteilung zugunsten der besitzenden Klasse im neoliberalen Kapitalismus – Produktivitätssteigerung durch Arbeitsplatzabbau, ausgeprägter Niedriglohn-Sektor, Zersplitterung und Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen jenseits von sogenannten „Normalarbeitsverhältnissen“, Privatisierung und Zerschlagung öffentlicher Daseinsvorsorge, Entlastung von Vermögenden und Kapital bei der Finanzierung des Sozialstaats, Enteignung erworbener Besitzstände der arbeitende Klasse, will und kann die SPD als bürgerliche Partei und konstituierendem Bestandteil dieses Systems offensichtlich nichts ändern.

Georg Daniels