„Wir sind, was folgt“ – Eine Korrespondenz aus Berlin

Ein Freund von Arbeit Zukunft schickte Eindrücke und kritische Anmerkungen zum 29. August 2020 in Berlin:

Demobericht und Analyse zur „Querdenken-Demo“ – Von Georg Daniels

45.000 Personen aus dem gesamten Bundesgebiet (offizielle Angabe), eine riesige, bunte Menge, nahm am Samstag, dem 29.08.2020 an einer bundesweiten Großdemo in Berlin teil.

Berlin: Reichbürger – verlogene Friedensfreunde (c) Der Autor

Aufgerufen hatten wieder der Stuttgarter Unternehmer Michael Ballweg und das Bündnis „Querdenken 711“. Nach der Demo am 1. August war es bereits die zweite Versammlung, zu der das heterogene Spektrum nach Berlin aufgerufen hatte: Corona-Leugner, Impfgegner, Verschwörungstheoretiker, Esoteriker, Reichsbürger, AfD, organisierte und unorganisierte Faschisten aus Parteien und Kameradschaften, Querfrontleute, wie Elsäßers Compact Magazin, etc. Aber : Auch die NPD und „Der III. Weg“ des österreichischen Faschisten Sellner waren dabei.

Unter der Parole „Sturm auf Berlin“ wurde in einschlägigen Internetblogs schon seit Wochen Stimmung für die Demoteilnahme gemacht.

Die Demo konnte jedoch erst nach einer im Vorfeld geführten juristischen Auseinandersetzung mit dem Berliner Innensenator Geisel vor dem Berliner Verwaltungs- bzw. Oberverwaltungsgericht wie geplant stattfinden, nachdem dieser mit der allzu dünnen Begründung eines von der Demo ausgehenden massenhaften Verstoßes gegen die Corona-Auflagen die Demo Anfang letzter Woche verboten hatte.

Die Veranstalter feierten die Aufhebung des Demonstrationsverbots entsprechend selbstbewusst und – bezüglich des rechten Spektrums auch mit einer zunehmend aggressiven Grundstimmung auf der Demo selbst – wie einen Sieg. Dementsprechend wurde ein erster Formierungsversuch der Demo unter Teilnahme von circa 3000 einschlägig der rechten Demofraktion zuzurechnenden Personen am Vormittag in der Friedrichstraße aufgelöst, mit der gleichen Begründung wie in der Verbotsverfügung Geisels: Verstoß gegen Corona-Auflagen. Das heizte die Stimmung weiter auf („Wir sind das Volk“), was in der Folge zur Festnahme von 100 Personen führte, die teilweise durch Demoteilnehmer wieder befreit wurden!

In zeitlicher Nähe zu den Ereignissen in der Friedrichstraße und nach Aufbruch eines überwiegenden Hauptteils der Demo über die Staße des 17. Juni zur Kundgebung am Großen Stern kam es am späteren Nachmittag zu einer Belagerung der russischen Botschaft durch circa 2-3000 aggressiv auftretenden Personen vorwiegend aus dem Reichsbürgerspektrum, die auf einem mitgebrachten Transparent einen „Friedensvertrag“ und in Sprechchören den Abtritt der Polizei und der „Verräter“ forderten.

Alleine im Zuge dieser Belagerung wurden circa 200 Personen festgenommen und erkennungsdienstlich behandelt.

Währenddessen begann an der Siegessäule die Kundgebung des Hauptorganisationsbündnisses der sogenannten „Querdenker“ aus Stuttgart, logistisch und inhaltlich assistiert vom Berliner Bündnis „demokratischer Widerstand“, eines Bündnisses gruppiert um eine gleichnamige Wurfzeitung, die seit April unter Führung eines ehemaligen „Junge Welt“-Autors „Berlin und bundesweit“ erscheint. Ein Haupttenor in vielen Reden war der Kampf gegen das korrupte, morbide Parteiensystem, gegen Merkel, Einschränkung von Freiheitsrechten durch das „Corona-Regime“, die Befreiung von diesem System. – Als Konter-Karikaturen zu diesen Rednern wurden im weiteren Verlauf des Bühnenprogramms von der Moderation in einem zeitlichen Abstand drei pensionierte Polizeibeamte als Redner aufgerufen und zwischenzeitlich die Kundgebungsteilnehmer von derselben aufgefordert, Beifall für die Arbeit der Polizei zu klatschen, dem ein überwältigender Teil der Demo an der Siegessäule lautstark und brav nachkam. Diese Reaktion nutzte die Bühnenmoderation denn auch zu der prompten Feststellung, dass man – O-Ton! – auf die Arbeit der Polizei auch in einen zukünftigen System nicht verzichten könne. …

Wie das aussehen könnte, versuchte zeitgleich zur Hauptkundgebung ein weiterer Demonstrationszug von circa 3000 Personen vor dem Reichstag zu demonstrieren, der sich westlich hinter dem Brandenburger Tor von der Hauptdemo abgespalten hatte und dort eine weitere Kundgebung durchzuführen versuchte.

Aufgefordert durch eine Rednerin und ermuntert durch eine kurzzeitige Unterbesetzung der Polizei am Reichstag gelang es mehreren hundert Leuten – an ihren Fahnen vorwiegend dem Reichsbürger- und faschistischen Spektrum zugehörig zuzuordnen, wie etwa der selbsternannte „Volkslehrer“ Nikolai N., oder ein mutmaßliches Mitglied der „Jungen Alternative“ aus Brandenburg* – die Absperrungen zu überwinden und bis zum Eintreffen einer Polizeihundertschaft

pressewirksam den schon seit Wochen in den sozialen Medien angekündigten „Sturm auf den Reichstag“ auf den Stufen desselben zu zelebrieren.

Fazit des Wochenendes:

„Ein durchschlagender Erfolg“ für die rechte Szene. Sie erreichte medienwirksame Inszenierungen am Reichstag und vor der russischen Botschaft, die ihnen in den nächsten Wochen die notwendige Aufmerksamkeit in den regierungsamtlichen Medien sichern wird. Ihrer Anhängerschaft signalisiert sie, dass auf ihre Ankündigungen auch in Zukunft „Verlass“ sein werde.

Ein „Großer Erfolg“ auch für die als „demokratischer Widerstand“, „Querdenker“ und anderen Oberbegriffen firmierenden Corona-Leugner, Verschwörungs- und „Querfront“-Theoretiker aller Couleur.

Diese Bewegung scheint zur Zeit zu wachsen – auch aufgrund ihrer Anschlussfähigkeit nach rechts außen. Aber auch die Regierungspolitik trägt zur weiteren Mobilisierung dieser Szene – zumindest bezogen auf das zurückliegende Wochenende – bei. Dieser Strömung ist durch die dilettantische Verbotsbegründung a la Geisel nicht beizukommen. Im Gegenteil: Die Aufhebung der Verbotsverfügungen durch die Verwaltungsgerichte verschaffte den Teilnehmern und Teilnehmerinnen ein Gefühl der Rechtmäßigkeit ihrer inhaltlich höchst umstrittenen und Gruppen-egoistischen Positionen. – Es spiegelt in seiner ganzen irrationalen Widersprüchlichkeit in gewisser Weise die erkennbaren Ambitionen einer Regierung – hier des Innenministers eines Landes – getroffene Maßnahmen in der Corona-Pandemie mit weitreichenden sozialen Eingriffen in die Grundrechte der Menschen als selbsterklärend voraus zusetzen.

Bundestagsgebäude („Reichs“tag) – wieder „sauber“? (c)Der Autor

Und die Linke?

Weder schafft die antifaschistische, antikapitalistische und kommunistische Linke es, die kapitalistischen Verhältnisse wirksam zu kritisieren, die sich durch „Corona“ wie in einem Brennglass bündeln, noch erweist sie sich als taktisch bzw. strategisch in der Lage, die entstandene Situation politisch zur Mobilisierung für eigene gesellschaftliche Positionierung zu nutzen. Wieder in die Offensive zu kommen, das gelingt ihr nicht mal im Ansatz, weder im aktuell von den Herrschenden ausgerufenen Corona-Notstand, noch in den Krisen der zurückliegenden Jahrzehnte: „Dotkom-Blase“, „Euro-und Bankenkrise“ „Flüchtlingskrise“.

Zwar wird erkannt, dass genau die Transfer-LeistungsbezieherInnen (Hartz IV/Grundsicherung etc.), MieterInnen, Kleingewerbetreibende, und tausende Belegschaften in Betrieben einmal mehr die Krise bezahlen werden und viele bereits nach knapp einem halben Jahr Corona-Normalität unter das Existenzminimum abgesunken sind. Aber gesellschaftliche Forderungen, die Kampagnen-fähig wären, sind bei der Linken Fehlanzeige.

Die antifaschistische Linke spielt deshalb nur eine untergeordnete Stastisten-Rolle! Ihr fehlt vielfach eine klare gesellschaftliche Positionierung zu der sich seit gut einem halben Jahr immer stärker formierenden „demokratisch-querdenkenden Bewegung“ – vor allen in Hinsicht auf deren rechtsradikale und offen faschistisch auftretenden Fraktionen.

Die Linke war bereits vor Corona gesellschaftlich nicht mobilisierungsfähig. Auch aktuell, am Samstag ließen sich mal gerade mal zwischen 1200-1500 Menschen auf den zentralen Berliner Bebelplatz unter Beachtung der Schutzmaßnahmen für eine Gegenkundgebung mobilisieren.

Zu wenig, trotzdem gut, dass sie da waren –  Antifaschist/innen! Hier gibts genug Polizei!
(c) Der Autor

Die neu-antifaschistisch-bürgerlichen Jugendbewegungen sind nicht in der Lage, entscheidende Impulse zu setzen. Ihre Angehörigen sind – kein Vorwurf! – im neoliberalen Kapitalismus aufgewachsen und bilden den Großteil der heutigen „Antifa“. Gerade weil die Kommunisten derzeit nicht in der Lage sind, Klarheit über die Perspektive der Beendigung des Kapitalismus durch einen neuen Anlauf zur sozialistischen Revolution zu schaffen, dies vor allem in der Jugend zu verbreiten, fehlt ihnen eine antifaschistische Theorie und eine erfolgreiche Praxis, nicht nur ihnen, sondern der gesamten Linken. So beschränkt sich die kämpferische Jugend oft darauf, an den Absperrungen der Polizei vorbeiziehenden, offen faschistisch auftretenden Gruppen ihre antifaschistische Parolen entgegen rufen und sorgfältig gemalte Transparente hoch halten. Gut, dass sie das machen.

Aber es ist an uns klar zumachen, dass auf Grund der Klassenstruktur des Staates in der bürgerlichen Demokratie faktisch „ein Recht auf Nazipropaganda“ und nicht dessen Negierung – in Anspielung auf eine Parole der jungen post-autonomen Antifa – durch den Staatsapparat durchgesetzt und höchstrichterlich sanktioniert wird, wie wir am Samstag erneut exemplarisch gesehen haben. Mit der Übernahme weitgehend Analyse-freier bürgerlich-antifaschistischer Positionen, die sogar – wie oben gesehen – teilweise falsch sind, kann dem zunehmenden Rechtsruck und der autoritären Formierung der Gesellschaft, geschweige denn den tatsächlich erstarkenden faschistischen Strömungen in dieser und vielen anderen kapitalistischen Gesellschaften nicht begegnet werden.

Die überwiegende Mehrheit der am Samstag auf den Berliner Straßen demonstrierenden Leute sind keine Faschisten. Allerdings sind auch deren haltlos wissenschaftsfeindlichen Positionen zur Entstehung des Virus und zum Umgang mit diesem reaktionär und abzulehnen! Genauso ihre Gleichgültigkeit gegenüber den Nazis und Rechtsradikalen, die da direkt neben ihnen demonstrieren!

Wie tun solche Leute nicht pauschal als Faschisten ab. Wir werden sie nicht weiter in das Lager der Faschisten treiben. Es kann dabei aber auch keine falschen Bündnissen mit `widerständigen Querfrontlern´ geben. Eine angemessene Strategie und Taktik auf der Höhe der Zeit nach einer analytischen und gesamtheitlichen Einordnung der Szenerie zu entwickeln, steht für Kommunist/innen, Antifaschistinnen und Antifaschisten, die einer Tatsachen gestützten, materialistischen und wissenschaftlichen Betrachtung der gesellschaftlichen Entwicklungsgesetze verpflichtet sind, auf der Tagesordnung. – Sie sind Voraussetzung für jeglichen erfolgreichen antifaschistischen Kampf schlechthin.

Alles andere ist medial inszenierter Mainstream unter dem Deckmantel eines angepaßten bürgerlichen Antifaschismus!

Berlin, 30.08.2020

* Tweed von Presseservice_RN @PresseserviceRN abgedruckt im Tagesspiegel Berlin vom 31.08.