Der Imperialismus und das Spiegelbild Russlands

Ahmet Cengiz
Übersetzt aus dem Türkischen. Erschienen in der Zeitschrift: TEORI VE EYLEM (Theorie und Praxis), Ausgabe 55, 3/2022

In einem Interview von Isaac Chotiner (The New Yorker) mit dem US-amerikanischen Politikwissenschaftler John Mearsheimer über den Ukraine-Krieg erklärte dieser, dass die USA verantwortlich sei, dass der Ukraine-Krieg überhaupt möglich wurde. Der Experte für internationale Politik sagte:

„Ich denke, dass der ganze Ärger in diesem Fall auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 begann, als die NATO eine Erklärung abgab, dass die Ukraine und Georgien Teil der NATO werden würden. Damals machten die Russen deutlich, dass sie diese Entwicklung als Bedrohung ihrer Existenz ansahen und ihr Einhalt gebieten wollten. Wir hingegen haben im Laufe der Zeit dazu tendiert, die Ukraine in den Westen einzugliedern, um sie zu einer westlichen Hochburg an der Grenze Russlands zu machen. Dafür hat die NATO-Erweiterung natürlich nicht ausgereicht. Die Erweiterung der NATO war dabei ein Schlüsselelement der Strategie, aber auch die Erweiterung der Europäischen Union gehörte zu dieser Strategie. Dazu gehörte auch die Umwandlung der Ukraine in eine pro-amerikanische liberale Demokratie. Aus der Sicht Russlands stellte dies eine lebenswichtige Bedrohung dar […] Man muss sich klarmachen, dass eine dreiteilige Strategie am Werk war: Die Erweiterung der EU, die Erweiterung der NATO und die Umwandlung der Ukraine in eine pro-amerikanische liberale Demokratie. [1]

Der Grund für das Zitieren aus diesem interessanten Interview, das doch einen Großteil der Propaganda widerlegt, die insbesondere in den westlichen Ländern vor und während des Krieges in der Ukraine verbreitet wurde, ist, hervorzuheben, dass es eine besondere Vorgeschichte zur Aggression Russlands gegen die Ukraine gibt. Und, was hier vielleicht noch wichtiger ist, dass diese Vorgeschichte bestimmte Aspekte hat, die es ermöglichen, dass eine offensichtliche Aggression in den Augen einiger linker Kreise relativierbar wird. So war es unter diesen Umständen auch keine Überraschung, dass Verwirrung darüber entstand, wie man sich angesichts der Aggression verhalten sollte. Lesarten wie „Ja, Russland hat angegriffen, aber es war dazu gezwungen“ oder „Dieser Angriff ist eigentlich eine Verteidigung“ oder „Russland konnte bei der Belagerung nicht länger zuschauen, es musste irgendwann eine Grenze setzen“ konnten sich basierend auf dieser Unklarheit ihren Weg ebnen.

Nun könnte man meinen alles habe seine eigene Vorgeschichte und somit den oben angedeuteten Widersprüchen einfach aus dem Weg gehen. Dieser Ansatz würde jedoch das Ausmaß und die Originalität dessen, was hier auf der Tagesordnung steht, außer Acht lassen. Es ist eine Tatsache, dass nicht nur die sozialistische Vergangenheit Russlands (die Putin-Administration nutzt diese in der russischen Gesellschaft immer noch lebendige Erinnerung bei jeder Gelegenheit und mit all ihren Symbolen aus), sondern auch seine wirtschaftliche Schwäche gegenüber den heute dominierenden, aggressiven und die Welt beherrschenden imperialistischen Staaten (ferner, dass es fortwährend Zielscheibe dieser Mächte war und es nicht vermochte aus der Position einer zurückgebliebenen Macht herauszukommen) den Blick auf Russland und die Bewertung seiner Politik und seiner Ausrichtungen ziemlich kompliziert macht. Sagen wir es direkt: Unter den bestehenden imperialistischen Staaten weist Russland atypische Züge auf. Demgegenüber ist beispielsweise die Erscheinung Chinas relativ klarer, weil das Niveau und die Geschwindigkeit seiner Entwicklung die ihm eigenen atypischen Aspekte zum größten Teil verdrängt haben. Die Situation in Russland ist etwas anders; die mit Widersprüchen behaftete Umwandlung seiner atypischen Züge hin zum Typischen ist immer noch im Gange. Kurzum, diese eigentümliche Situation Russlands ist einer der Faktoren, warum die russische Aggression und der Invasionsversuch bei einigen linken Kräften ambivalent bewertet wird. Die Auswirkungen dessen reichen sogar so weit, dass auch einige linken Kräfte, die zu Recht Russland als imperialistisch bezeichnen, davon absehen den Rückzug Russlands aus der Ukraine zu fordern.

Betont werden muss, dass die durch die besondere Situation Russlands verursachte Verwirrung nicht auf den aktuellen Krieg beschränkt ist. Die Verwirrung beginnt eigentlich schon bei der Bewertung Russlands selbst. Die Behauptung Russland sei kein imperialistischer Staat ist zweifellos das markanteste Beispiel dafür. Eigentlich bedürfte es nicht auf diese unfundierte Behauptung näher einzugehen. Doch wenn in einer Zeit in der ein Krieg stattfindet, dessen allgemeine Zusammenhänge keineswegs unterschätzt werden dürfen, und in der sich der „Nebel des Krieges“, um den Ausdruck von Clausewitz zu gebrauchen, rasch ausbreitet, Einzelpersonen und Parteien, die sich als Marxisten bezeichnen, hingehen und diese Behauptung sich eigen machen und damit die bestehende Verwirrung noch weiter verbreiten, ist es unerlässlich, diese Frage in vielerlei Hinsicht zu erörtern.

In diesem Artikel wird nicht der Versuch unternommen, eine empirische Analyse Russlands vorzulegen. Seine Absicht ist vielmehr die Logik des Arguments, Russland sei nicht imperialistisch, das nach Auffassung des Verfassers dieses Artikels eine Formalisierung der Imperialismustheorie Lenin’s darstellt, aufzuzeigen und sie prinzipiell zu kritisieren.

… IST NICHT, WEIL…

Der objektive Ausgangspunkt derjenigen, die behaupten Russland sei nicht imperialistisch, ist die relative Schwäche der russischen Wirtschaft gegenüber anderen starken imperialistischen Staaten und die relative Unterentwicklung dieser oder jener grundlegenden Eigenschaft der Wirtschaft aufgrund dieser Schwäche. Ohne Zweifel, die Schwäche der russischen Wirtschaft ist eine offensichtliche und zudem allseitig bekannte Tatsache. So stellt der bereits erwähnte Mearsheimer fest, dass das Bruttosozialprodukt Russlands „kleiner ist als das von Texas“. Das Problem ist also nicht die Tatsache selbst, sondern die daraus gezogenen Schlussfolgerungen. Wie man an den Beispielen sehen wird, die wir unten anführen werden, ist die Herangehensweise derjenigen, die behaupten Russland sei nicht imperialistisch, mit einem offensichtlichen Positivismus und einer Schematisierung behaftet. Oder anders ausgedrückt: die Schematisierung der Leninschen Imperialismustheorie wird mit „Fakten“ bemäntelt.

Um unseren Artikel nicht zu überfrachten werden wir uns auf zwei Beispiele aus der Türkei und Deutschland beschränken. Diese beiden Beispiele stehen stellvertretend für die Tatsache, dass diese Behauptung von verschiedenen linken Kreisen in vielen Ländern aufgestellt wurde. In der Türkei wurde diese Behauptung am ausführlichsten von Hazal Yalın in ihrem Buch „Russland: Kollaps, Aufstieg und Dynamiken“[2] begründet. In Deutschland hingegen wird diese Frage noch immer in einem breiten linken Spektrum diskutiert. An dieser Stelle soll es genügen die Debatten innerhalb der DKP zu zitieren, die aus einer revisionistischen Tradition stammt. Die Jugendorganisation dieser Partei, die SDAJ, bezeichnet Russland als imperialistisch, während die Parteiführung sich von dieser Definition distanziert.

Es sei darauf hingewiesen, dass Yalıns Buch „Russland“ auf umfangreichen Recherchen, insbesondere im Bereich der Wirtschaft, beruht. Schließlich ist Yalın eine Russland-Kennerin, die die russische Sprache gut beherrscht und viele Werke der russischen Literatur ins Türkische übersetzt hat. Doch wir haben hier nicht die Absicht Yalıns Buch als Ganzes zu bewerten. Unerwähnt sollte es aber nicht bleiben, dass einige dem Marxismus widersprechende Prämissen sie daran hinderten fundierte Schlussfolgerungen aus ihrer empirischen Arbeit zu ziehen. Hier aber interessiert uns ihr grundlegendes Argument, nämlich dass Russland nicht imperialistisch sei.

Das gemeinsame Merkmal derjenigen, die behaupten Russland sei nicht imperialistisch, ist, dass sie die berühmten fünf Punkte in Lenins Buch „Imperialismus“, in denen er „die grundlegenden Merkmale des Imperialismus“ zusammenfasst, mit einer formalen Logik betrachten. Wir können diesen Ansatz wie folgt zusammenfassen: ‚Wenn diese fünf Punkte die grundlegenden Merkmale des Imperialismus sind, dann gilt es zu schauen, ob diese Merkmale im heutigen Russland existieren oder nicht.‘ Von Lenin ausgehen bedeutet in diesem Fall: ‚Wenn eine dieser Eigenschaften schwach oder nicht vorhanden ist, dann kann das jene Land nicht imperialistisch sein‘!

Im Schlusskapitel ihres Buches führt Yalın beispielsweise die oben genannten fünf Punkte an. Anschließend nimmt sie eine interessante Klassifizierung dieser Punkte vor und kommt auf der Grundlage von acht Punkten, die ihre empirische Studie zusammenfassen, zu dem Schluss, dass Russland nicht imperialistisch ist: „Russland ist eine kapitalistische Wirtschaft innerhalb des imperialistischen Weltsystems, die sich in ihrer Struktur nicht von einer durchschnittlichen peripheren Wirtschaft unterscheidet. Sie stützt sich jedoch auf das sowjetische Erbe, auf der Grundlage eines starken und ständig gestärkten Staatskapitalismus, der ein Hindernis für ihre Kolonisierung darstellt. „[3]

Yalın kommt zu dieser Schlussfolgerung durch eine Interpretation, die den inneren Zusammenhang der von ihr zitierten Fünf-Punkte-Definition von Lenin aufhebt. Sie lautet wie folgt:

„Die ersten beiden Stufen“ (d.h. „1. die Konzentration von Produktion und Kapital bis zu einem so hohen Entwicklungsstand, dass Monopole entstehen, die im Wirtschaftsleben eine entscheidende Rolle spielen; 2. Die Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und die Schaffung der Finanzoligarchie auf der Grundlage dieses ‚Finanzkapitals‘„), „kennzeichnen nicht nur die imperialistischen Länder, sondern alle Länder des imperialistischen Weltsystems; mit anderen Worten, alle Länder dieses Weltsystems, ob kolonial oder imperialistisch, haben die ersten beiden Etappen vollzogen… es kann kein kapitalistisches Land im imperialistischen Weltsystem geben, das nicht Monopole und die Finanzoligarchie geschaffen hat. Der Vergleich dieser beiden Stufen zwischen verschiedenen Ländern gibt uns ein hauptsächlich quantitatives Bild… Die anderen Stufen[4] definieren die imperialistischen Länder direkt, d.h. wir haben jetzt ein qualitatives Bild vor uns; daher sind dies die Hauptkriterien für die Bestimmung der Stellung eines Landes gegenüber anderen im Weltsystem. Nochmal: das Markenzeichen des Systems ist der Kapitalexport, der unmittelbar die imperialistische Hegemonie hervorbringt“. [5]

„Der russische Kapitalexport ist jedenfalls äußerst schwach; Kapitalabfluss ins Ausland bedeutet nicht Export, sondern Kapitalflucht, und zwar sowohl über Offshore-Konten als auch über illegalen Kapitalabfluss. (…) Die Tendenz der russischen Bourgeoisie, Geld zu horten, ist stark, die Tendenz, produktive Investitionen zu tätigen, äußerst schwach. [6]

Wir werden auf die Schlussfolgerungen von Yalın zurückkommen, aber vorher sollten wir den sehr ähnlichen Ansatz von Patrik Köbele, dem Vorsitzenden der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), zitieren. Auch er behauptet, dass die oben erwähnten ersten beiden Punkte in Russland relevant sind, aber der dritte Punkt, nämlich dass „der Kapitalexport“ „neben dem Warenexport eine besondere Bedeutung erlangt“ hat, soll in Russland nicht relevant sein:

Das dritte Charakteristikum, dass ‚der Kapitalexport gegenüber dem Warenexport vorrangige Bedeutung gewinnt‘, scheint mir in Russland nicht erfüllt zu sein. Die Kapitalabflüsse aus Russland gehen zu großen Teilen in Steuerparadiese wie Zypern, die Schweiz oder Luxemburg. Diese dienen nicht dazu, sich direkt in andere Kapitalien einzukaufen, wie es aus meiner Sicht beim von Lenin genannten Kapitalexport gemeint ist. Eins von drei Kriterien ist meines Erachtens nicht erfüllt. Ich neige deshalb zur Position, dass es sich bei Russland um ein kapitalistisches Land handelt, das das imperialistische Stadium noch nicht erreicht hat.[7]

Mit „einem der drei Kriterien“ meint Köbele die ersten drei der fünf von Lenin zusammengefassten Punkte. Während Yalın oben die ersten beiden Punkte mit einer interessanten Interpretation definitorisch bedeutungslos macht, nimmt Köbele eine gröbere Einteilung vor: „Ihr wisst, dass Lenin fünf Merkmale für die Charakterisierung des Imperialismus benennt, von denen drei sich auf die Entwicklung der nationalen Ökonomie und zwei auf die Entwicklung internationaler Verhältnisse beziehen.“[8]

MIT LENIN GEGEN LENIN

Yalıns obige Feststellung, dass „ein Vergleich dieser beiden Phasen“ (d.h. die Entstehung von Monopolen als Ausdruck der Konzentration von Produktion und Kapital und die Bildung der Finanzoligarchie auf der Grundlage des Finanzkapitals) „zwischen verschiedenen Ländern uns ein hauptsächlich quantitatives Bild vermittelt“, scheint auf den ersten Blick eine sichtbare Realität auszudrücken. Ja, anders als zu Lenins Zeiten gibt es heute in fast allen Ländern, in denen der Kapitalismus ein nennenswertes Niveau erreicht hat, Monopole und Finanzkapital. Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied zwischen Monopolen und Finanzkapital in nichtimperialistischen kapitalistischen Ländern und Monopolen und Finanzkapital in imperialistischen Ländern. Im Zusammenhang mit der Definition ist es nicht richtig diesen Unterschied als rein quantitativen Unterschied wie bei Yalin zu interpretieren. Denn der (quantitative) Größenunterschied zwischen den Monopolen und dem Finanzkapital der imperialistischen Länder und der kapitalistischen Länder bringt einen weiteren Unterschied mit sich, der nicht rein quantitativ ist. Wer kontrolliert beispielsweise unter diesen Monopolen und Finanzkapitalen wen, wer beherrscht den relevanten Markt, wer kann wem seine eigenen Bedingungen aufzwingen oder wer ist von wem abhängig? Wenn z.B. das wesentliche Wesen des Monopols darin besteht, die Konkurrenz zu begrenzen und den Markt zu beherrschen, dann kann es doch nicht bedeutungslos sein, dass die quantitative Größe der Monopole und des Finanzkapitals der großen imperialistischen Staaten einem deutlichen Positionsunterschied gegenüber den Monopolen und dem Finanzkapital dieses oder jenes kapitalistischen Landes entspricht, gerade im Hinblick auf das Wesen und die Funktion des Monopols. Das heißt: die faktische Existenz des Monopols und Finanzkapitals in allen kapitalistischen Ländern beseitigt nicht den nicht ausschließlich quantitativen Unterschied in der Stellung der Monopole und des Finanzkapitals der imperialistischen Länder gegenüber den anderen Ländern. Um es mit Hegel zu sagen: „Die Quantität ist selbst eine Qualität.“[9] Daher ist die Frage nicht die abstrakte faktische Existenz von Monopolen und Finanzkapital in einzelnen Ländern, sondern die Frage ist: welchen konkreten Stellenwert haben sie innerhalb des imperialistischen Systems und hat sich z.B. der Status der Monopole der imperialistischen Länder gegenüber den anderen kapitalistischen Ländern, so wie dieser zur Zeit Lenins bestand, verändert? Gerade weil es in dieser Beziehung zu keiner grundlegenden Veränderung gekommen ist, hat Russland versucht seine Monopole und das Finanzkapital durch den Staatskapitalismus zu schützen.

In beiden Beispielen die wir angeführt haben wird eine Definition, die bei Lenin ganzheitlich ist, je nach Bedarf, d. h. je nach den Vorstellungen des Einzelnen, zugeschnitten. Doch bei Lenins allgemeiner Definition stehen die einzelnen Elemente in einem inneren Zusammenhang miteinander und bilden in diesem Sinne eine Einheit. Diesbezüglich ein weiteres Beispiel: Laut Yalın ist das „Markenzeichen des imperialistischen Weltsystems der Kapitalexport“. Diese Aussage bedeutet eine Abkehr von Lenins Imperialismustheorie. Es liegt auf der Hand, dass der Kapitalexport im Zeitalter des Imperialismus auf der Grundlage der Konzentration von Produktion und Kapital, der Existenz von Monopolen als Ausdruck dieser Konzentration und der Bildung von Finanzkapital an Bedeutung gewinnt. Im Übrigen ist der Kapitalexport kein Phänomen, das zum ersten Mal mit dem kapitalistischen Imperialismus auftritt. Er unterscheidet sich jedoch von früheren Kapitalexporten gerade durch die erwähnte Grundlage. Wenn man sich nun nach dem oben genannten Ansatz richtet, so müsste man sagen, dass dies auch ein „quantitatives Bild“ darstellt. Schließlich exportieren heute auch viele nicht-imperialistische kapitalistische Länder, wie beispielsweise die Türkei, Kapital. Außerdem führt der Kapitalexport nicht „direkt zur imperialistischen Hegemonie“. Mit anderen Worten: Die durch den Kapitalexport erzeugte Hegemonie ist kein Selbstläufer, sondern nur in Verbindung mit den oben erwähnten Zusammenhängen von Monopolen und Finanzkapital (und natürlich anderen Zusammenhängen wie Handel, Finanzen und Militär) möglich.

Russlands Kapitalexporte mögen relativ gering sein, aber das bedeutet nicht, dass es sie nicht gibt. Es sollte klar sein, dass Kapitalexporte, die auf staatskapitalistischer Basis in Russland durchgeführt werden, nicht aufhören Kapitalexporte zu sein, nur weil sie vom Staat durchgeführt werden. Nach Angaben des IWF ist Russland nach 2010 zu einem Nettokapitalexporteur geworden (Berechnungszeitraum 2005-2020). Während die Nettoposition im Jahr 2005 ein Defizit von 31 Milliarden 866 Millionen Dollar aufwies, stiegen die Nettokapitalexporte zwischen 2010 und 2020 von 18 Milliarden 409 Millionen auf 517 Milliarden 23 Millionen Dollar. Mit anderen Worten, sie mag im Vergleich zu anderen imperialistischen Staaten noch klein sein, aber es ist offensichtlich, dass sie große Zuwächse verzeichnet hat. Was das Privatkapital betrifft, so kauft es nicht nur Yachten und Villen, sondern beteiligt sich, wenn möglich, an ausländischen Unternehmen, sei es in den Ländern der ehemaligen UdSSR oder im Westen. Mit anderen Worten, das derzeitige Niveau des russischen Kapitalexports hat nichts damit zu tun, ob es ihn gibt oder nicht (natürlich gibt es ihn), sondern vielmehr damit, dass Russland aufgrund der spezifischen Bedingungen seiner kapitalistischen Entwicklung, auf die wir später noch eingehen werden, diese Eigenschaft noch nicht so stark entwickelt hat wie andere imperialistische Länder. Die zitierten Daten zeigen, dass Russland gewisse, wenn auch noch unzureichende Fortschritte bei der Überwindung dieser Schwäche gemacht hat. Würde man Lenins Definition ganzheitlich verstehen, so wäre es von vornherein klar, dass dieser oder jener imperialistische Staat immer bestrebt ist seine Schwäche in einem Merkmal durch andere Merkmale, in denen er relativ überlegen ist, auszugleichen.

Als ob Lenin über eine chemische Formel sprechen würde, wird das Problem mit dem Verständnis behandelt, dass „wenn eine oder zwei der fünf Punkte fehlen, man nicht von Imperialismus sprechen kann“. Mit dieser Kritik wollen wir natürlich nicht sagen, dass die benannten fünf Punkte unwichtig sind oder dass einer von ihnen wichtig und der andere unwichtig ist. Wir stellen jedoch fest, dass dieser Ansatz nicht marxistisch ist. Vielmehr spiegelt sich darin der vom Revisionismus in den Marxismus eingeführte Positivismus wider, der als einer seiner Hauptmerkmale den Gesamtzusammenhang nicht mit einbezieht. Diese Auffassung des Imperialismus als ein eigenständiges Ganzes erinnert an die Auffassung des Sozialismus als eigenständige gesellschaftliche Formation durch den modernen Revisionismus. Um seine opportunistische Politik zu rechtfertigen vernachlässigt dieser nämlich die Tatsache, dass der Sozialismus nur die erste Stufe/ Phase des Kommunismus ist.

Es muss jedoch betont werden, dass die Tatsache, dass Lenins Definition des Imperialismus für sich einen inneren Zusammenhang, eine Einheit, aufweist, nicht zu der Schlussfolgerung führen darf, dass er den Imperialismus als ein einheitliches Ganzes auffasst. Nach Lenins Verständnis ist nämlich der Imperialismus keine eigenständige gesellschaftliche Formation, die den Kapitalismus ersetzt. Der Imperialismus verändert den Kapitalismus nicht grundlegend, und er kann es auch nicht(Lenin). In den Materialien zur Überarbeitung des Parteiprogramms macht Lenin dies sehr deutlich:

„Der Imperialismus kompliziert und verschärft die Widersprüche des Kapitalismus, er ‚verknotet‘ die Monopole mit der freien Konkurrenz, aber den Austausch, den Markt, die Konkurrenz, die Krisen usw. beseitigen kann der Imperialismus nicht. … Nicht reine Monopole, sondern Monopole neben dem Austausch, dem Markt, der Konkurrenz, den Krisen – das ist überhaupt die wesentlichste Eigenart des Imperialismus. Darum ist es theoretisch falsch, die Analyse des Austauschs, der Warenproduktion, der Krisen usw. überhaupt zu streichen und sie durch die Analyse des Imperialismus als eines Ganzen zu ‚ersetzen‘. […] In Russland wäre es überdies auch darum falsch, den Imperialismus als ein einheitliches Ganzes darzustellen (der Imperialismus ist überhaupt kein einheitliches Ganzes), weil es in Russland noch sehr viele Gebiete und Arbeitszweige gibt, die von der Natural- und Halbnaturalwirtschaft erst zum Kapitalismus übergehen.[10]

Die von Lenin mit großer Vorsicht und Warnung[11] vorgenommene allgemeine Fünf-Punkte-Definition als ein Schema anzuwenden, bedeutet daher nichts anderes als den Imperialismus im Gegensatz zu Lenin als ein einheitliches Ganzes zu verstehen. Obwohl das obige Zitat von Lenin für sich spricht, ziehen wir nur für ein Moment die oben kritisierte Herangehensweise als Kriterium heran und prüfen mal, ob Lenin selbst mit der Lenin-Lesart dieser Freunde übereinstimmt: Bekanntlich sprach Lenin in den Jahren des Ersten Weltkriegs davon, dass in Russland „der militärische und feudale Imperialismus“ überwog[12], und manchmal bezeichnete er Russland als einen „militärisch-absolutistischen-feudalen Imperialismus“. Falls man einwenden sollte, dass Lenin diese Ausdrücke verwendete als er sein Buch „Imperialismus“ noch nicht geschrieben hatte, so sei gleich darauf hingewiesen, dass Lenin diese Charakterisierungen nicht nur beibehielt, sondern auch weiter ausarbeitete. In seinem Artikel „Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung“, den er im Anschluss an sein Buch „Imperialismus“ verfasste, sprach er beispielsweise mit den folgenden Adjektiven über Russland: „… brutalen, mittelalterlichen, wirtschaftlich rückständigen, militärisch-bürokratischen Imperialismus.”[13] Hier und an anderen Stellen verwendete er auch die Ausdrücke „russischer Sozialimperialismus“, wenn er diejenigen in Russland kritisierte, die eine besonders sozialchauvinistische Linie vertraten. Zudem bezeichnete Lenin z.B. Großbritannien als „Kolonialimperialismus“ und Frankreich manchmal als „Wucherimperialismus“.

Die relative wirtschaftliche Rückständigkeit Russlands hinderte Lenin nicht daran, „das wirtschaftlich rückständigste Land“, „ein Land, das in ein eigentümliches Netz vorkapitalistischer Beziehungen verstrickt“ war, in den „modernen kapitalistischen Imperialismus“ einzubeziehen. Die relativ schwache Entwicklung und Rückständigkeit dieses oder jenes imperialistischen Landes war für ihn nicht Gegenstand einer schematischen Bewertung, die weit vom Kern der Sache entfernt war. Im Gegenteil, wie er in seinem Artikel „Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus“ darlegte:

„Das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts war der Übergang zur neuen, imperialistischen Epoche. Nutznießer des Monopols ist das Finanzkapital nicht eines Landes, sondern einiger, sehr weniger Großmächte. (In Japan und Rußland wird das Monopol des heutigen, modernen Finanzkapitals zum Teil ergänzt, zum Teil ersetzt durch das Monopol der militärischen Macht, des unermeßlichen Gebiets oder der besonders günstigen Gelegenheit, nationale Minderheiten, China usw. auszuplündern.)“[14]

Sicherlich lassen sich weitere Beispiele anführen, aber die angeführten sind wohl ausreichend klar. Das Resultat ist eindeutig: Wenn man die Herangehensweise in den von uns angeführten Beispielen als Grundlage nimmt, so ist es nicht von der Hand zu weisen, dass in der Frage des imperialistischen Charakter Russlands der Lenin, den wir soeben zitiert haben, im Widerspruch steht zu dem Lenin, den diese Freunde meinen gelesen zu haben! Lenin verfällt eben nicht in einen sich horizontlos auf sein Objekt fokussierenden Positivismus, indem auf der Grundlage der Tatsache, dass ein großer Staat wirtschaftlich relativ rückständig ist oder dass er noch nicht in der Lage war mit anderen imperialistischen Staaten – zum Beispiel beim Kapitalexport – zu konkurrieren, die Schlussfolgerung zieht, dass dieser Staat nicht als imperialistisch definiert werden könne, weil er eines der Kriterien des Imperialismus noch nicht vollständig erfüllt hat. Nicht nur, dass er dies nicht tut; er verfügt zudem über einen Realismus und eine Vielseitigkeit, die ihm die Einsicht ermöglicht, dass ein betreffender Staat diese oder jene Schwäche in seiner Entwicklung als imperialistische Macht durch andere Merkmale zu ergänzen trachtet.

HISTORISCHE PERSPEKTIVE

Genug der Worte über die Herangehensweise an die Frage und ihrer Methodik; kommen wir nun zu den Aspekten, die mit der historischen Dimension zusammenhängen.

Lenin, der den Imperialismus gelegentlich als „zeitgenössischen Kapitalismus“ bezeichnete, erklärt die Bedeutung der dem Ausdruck „zeitgenössisch“ innewohnenden Abgrenzung zu seine Vorherigen in diesem Zusammenhang wie folgt:

„Der Imperialismus erwuchs als Weiterentwicklung und direkte Fortsetzung der Grundeigenschaften des Kapitalismus überhaupt. Zum kapitalistischen Imperialismus aber wurde der Kapitalismus erst auf einer bestimmten, sehr hohen Entwicklungsstufe, als einige seiner Grundeigenschaften in ihr Gegenteil umzuschlagen begannen, als sich auf der ganzen Linie die Züge einer Übergangsperiode vom Kapitalismus zu einer höheren ökonomischen Gesellschaftsformation herausbildeten und sichtbar wurden. Ökonomisch ist das Grundlegende in diesem Prozeß die Ablösung der kapitalistischen freien Konkurrenz durch die kapitalistischen Monopole.“[15]

Wir sehen, dass der von Lenin analysierte Imperialismus ein Kapitalismus ist, der als Ergebnis der inneren Entwicklung des Kapitalismus der freien Konkurrenz entsteht, und zwar als besondere Verschärfung und Zuspitzung der diesem Kapitalismus innewohnenden Widersprüche, also als höchste Stufe seiner Entwicklung. Es sollte klar sein, dass die besagte allgemeine Definition von Lenin im Wesentlichen die Veränderungen innerhalb eines in diesem Zusammenhang stehenden Prozesses beinhaltet. Daher ist es heute (d.h. angesichts der Tatsache, dass fast 150 Jahre seit dem Ende der Periode der freien Konkurrenz vergangen sind und der Monopolkapitalismus seit mehr als einem Jahrhundert existiert) unabdingbar zu erkennen, dass die Formen, die ein kapitalistisches Land beim Erwerb imperialistischer Eigenschaften annehmen wird, nicht genau dieselben sein werden wie beim Übergang vom freien Wettbewerb zum Monopol, dass sie Unterschiede aufweisen können, dass die Entwicklung dieser Eigenschaften unter den Bedingungen der Existenz und des scharfen Wettbewerbs und Drucks der alten imperialistischen Staaten stattfinden wird und dass dies viele Modifikationen und Deformationen mit sich bringen wird. Dies nicht zu beachten hieße, die Geschichte in abstrakten Formeln zu betrachten.

Abgesehen davon, dass die Reduzierung der Leninschen Imperialismustheorie auf ein ahistorisches Schema überhaupt falsch ist, haben wir es doch mit Russland gerade mit dem Land zu tun, in dem eine solche Herangehensweise auf keinen Fall richtig sein kann. Und warum? Weil Russland ein Land ist, in dem sich ein außergewöhnlicher, in der Geschichte beispielloser Prozess vollzogen hat. Unabhängig davon, ob man von 40 oder 70 Jahren spricht: Fakt ist, dass Russland ein Land ist, in dem der Sozialismus über einen langen Zeitraum hinweg aufgebaut wurde, in dem es in einer bestimmten Phase seiner Entwicklung zur Restauration des Kapitalismus unter sozialistischen Formen kam und dann offene kapitalistische Formen annahm. Es ist ein Land, in dem zum ersten Mal in der Geschichte die Rückkehr vom Sozialismus zum Kapitalismus stattfand und in dieser Hinsicht einen einzigartigen Prozess durchlaufen hat. Es kann wohl kein Zweifel darüber bestehen, dass bei der Beantwortung der Frage, ob solch ein kapitalistisches Land imperialistisch ist oder nicht, die Einzigartigkeit seiner Geschichte und wie es durch diese Einzigartigkeit konditioniert wurde berücksichtigt werden muss. Und dies kann nur Gegenstand einer dialektischen Analyse sein und nicht einer Analyse, die sich mit dem Feststellen von Fakten begnügt.

Der DKP-Vorsitzende Köbele äußert sich zum Beispiel nur sehr eingeschränkt zu diesem Aspekt. Seine Aussage (siehe Fußnote) zielt im Wesentlichen darauf ab, die Bedeutung des Vorhandenseins der Grundzüge der ersten beiden Punkte der Definition (kurz gesagt, die Monopole und die Finanzoligarchie auf der Grundlage des Finanzkapitals) in Russland mit der sowjetischen Vergangenheit zu relativieren.[16]

Bei Yalın wird dieses Thema ausführlicher behandelt. Sie nennt dazu die folgenden Punkte: „Die grundlegende Besonderheit des russischen Kapitalismus besteht darin, dass der moderne Kapitalismus in diesem Land nicht aus dem Feudalismus hervorgegangen ist, sondern aus der Ablehnung des Sozialismus, d.h. (unter anderem) aus der Ablehnung einer riesigen vergesellschafteten Industrieproduktion.“[17] Aber wie wir sehen werden, nimmt Yalın diese offensichtliche Besonderheit als ein Indiz dafür an, dass Russland nicht imperialistisch sei bzw. nicht sein könne. Sie geht davon aus, dass die Wirtschaftspolitik der Putin-Regierung im Gegensatz zur Jelzin-Regierung gerade jene Merkmale hervorgebracht hat, die Russland zu einem nicht-imperialistischen Land machen.

Betrachten wir diesen Aspekt doch etwas näher. Ihre empirische Studie erschließt für Yalın das folgende Bild:

„Nach dem Jahr 2000 ging man zu einem staatlichen Plankapitalismus über, der sich auf den Energiesektor stützte; Oligarchen, die geneigt waren, die Kontrolle an die internationalen Monopole abzutreten, indem sie sich in strategischen Bereichen mit ihnen zusammenschlossen, wurden entweder vollständig eliminiert oder eingeschüchtert; die politische Macht wurde völlig umgestaltet, mit einer Troika, die sich auf den Präsidenten, der die Einheit des Landes repräsentiert, die Armee (allgemeiner die Sicherheitsbürokratie), deren Prestige und Elitequalität zugenommen hat, und die traditionellen Auswärtigen Angelegenheiten stützt; es wurden Maßnahmen ergriffen, um den Aufstieg der mittleren Bourgeoisie zu verhindern, während die Macht privater oder staatlicher Monopole zur Beeinflussung der Regierung, insbesondere in der Außenpolitik und der Integrität Russlands, beseitigt wurde… Mit anderen Worten: Der wichtigste Faktor bei der Gestaltung der russischen Wirtschaft und der politisch-sozialen Struktur nach 2000 ist das zunehmende Gewicht des Staatskapitalismus.“[18]

Sagen wir es ohne den Leser mit Zahlen zu langweilen: Ja, die Daten bestätigen die Existenz eines starken Staatskapitalismus. Laut Igor Artemyev, dem Leiter des russischen Föderalen Antimonopoldienstes (FAS), der von Yalın zitiert wird, „wurden 2005 35 Prozent des BIP vom Staat erwirtschaftet, während diese Zahl 2015 auf 70 Prozent gestiegen ist.“ Yalın zitiert auch die folgende Beobachtung von Artemyev, die sie für „äußerst treffend“ und „von grundlegender Bedeutung für das Verständnis der derzeitigen sozialen und politischen Ordnung in Russland“ hält: „Der Prozess der ‚Verstaatlichung der Wirtschaft, der Errichtung eines staatlichen Monopolkapitalismus, der Verschmelzung von Wirtschaft und {politischer} Macht‘ ist in Russland im Gange.“[19]

Aufgrund des zunehmenden Gewichts des Staatskapitalismus in wichtigen Sektoren kommt Yalın zu dem Schluss: „All dies deutet auf eine außergewöhnliche Konzentration von Kapital hin. Es ist jedoch festzustellen, dass die Oligarchen von den vom Staat kontrollierten Sektoren ferngehalten werden, insbesondere von der Energiewirtschaft, der Schwerindustrie und teilweise dem Bankensektor. Dies entspricht nicht dem Wesen des imperialistischen Systems. Auch außerhalb des staatlichen Sektors ist die Tendenz zur Verschmelzung von Bank- und Industriekapital gering. Fast die einzige Ausnahme ist die Beziehung zwischen der AlfaBank und der Telekommunikation. Im staatlichen Sektor sind diese beiden Kapitalgruppen untrennbar miteinander verbunden. Die Tatsache, dass Bergbau und Metallurgie fast vollständig den Oligarchen überlassen wurden, vervollständigt dieses interessante Bild.“[20]

Die Tabelle ist in der Tat interessant, weil sie darauf hinweist, dass wir es nicht mit einer üblichen Situation zu tun haben und daher keine „üblichen“ Formierungen von imperialistischen Ländern zu erwarten ist! Bevor wir zu der Frage kommen, ob aus diesem Tableau eine Schlussfolgerung gezogen werden kann, die „mit dem Wesen des imperialistischen Systems nicht übereinstimmt“, sollten wir einige andere interessante Fakten erwähnen, die Yalın in ihrer empirischen Studie zwar erwähnt, aber nicht weiter ausführt um Schlussfolgerungen zu ziehen. So erfahren wir zum Beispiel Folgendes aus ihren Untersuchungen: „Es hat sich auch ein spezielles Verständnis des Staates für den Staat‘ herausgebildet: In diesem Konzept sind staatliche Organisationen sowohl Geber als auch Empfänger von staatlichen Ausschreibungen. Einige Privatunternehmen hingegen werden durch direkte Käufe und Konzessionen privilegiert und dem Wettbewerb entzogen: So wurde die Brücke von Kertsch an das Unternehmen Stroygazmontaj (Arkadiy Rotenberg’s) vergeben.“[21]

Stroygazmontaj interessiert uns hier nicht, aber die Informationen, die Yalın in einer Fußnote (!) über Rotenberg erwähnt, sind recht interessant:

„Rotenbergs Geschichte kann als einen anderen Weg gesehen werden, die Oligarchen aus ihren Tätigkeitsbereichen in Russland zu entfernen. Rotenberg ist als Freund von Putin bekannt. Nach dem Verkauf von Stroygazmontaj schloss sich Rotenbergs andere große Baufirma, die Stroyproyekt holding, mit der VEB (Außenwirtschaftsbank) Staatliche Entwicklungsgesellschaft zusammen, und es entstand Natsproyektstroy. Es handelt sich um ein staatliches Unternehmen, aber es zeugt auch von Rotenbergs Fusion mit dem Staat. Nun muss Natsproyektstroy auch große Infrastrukturaufträge erhalten. Es ist schwer zu benennen: wird der Besitz eines Oligarchen de facto verstaatlicht und er zum Manager auf Lebenszeit ernannt? Es ist, als ob die Ausplünderung der 90er Jahre, die die Tür von der angeblichen „Staatsmann-Sein“ zur Oligarch-Sein geöffnet hat, ihre eigene Antithese erlebt: die Tür von der Oligarch-Sein zur „Staatsmann-Sein“ wird geöffnet.[22]

Ist es wirklich so schwierig zu benennen womit wir es hier zu tun haben? Von Artemjew haben wir schließlich erfahren, dass der Aufbau des monopolistischen Staatskapitalismus „die Verschmelzung von Wirtschaft und Macht“ nicht verhindert, sondern im Gegenteil herbeiführt. Und von Yalın selbst lesen wir, dass die „Plünderungsperiode der 90er Jahre“ mittlerweile „ihre eigene Antithese“ erfahren hat, d.h. dass dieses Mal die Tore des Übergangs von der ‚Oligarch-Sein’ zur ‚Staatsmann-Sein geöffnet worden sind. Offensichtlich gibt es auch auf personaler Ebene eine Verschmelzung zwischen „Wirtschaft und Staat“. Yalıns Zitate aus der Tabelle der 50 größten Unternehmen Russlands geben ebenfalls einen Eindruck von dieser Fusion. Aus dieser Tabelle geht hervor, dass die ersten vier größten Unternehmen (Gazprom, LUKOYL, Rosneft und Sberbank) nicht vollständig in Staatsbesitz sind. Der Staat besitzt 50,1 bzw. 50,2 Prozent ihres Kapitals, und private und juristische Personen sind zu unterschiedlichen Prozentsätzen Anteilseigner dieser Riesenmonopole. Zudem wird aus der Tabelle ersichtlich, dass das zweitgrößte Unternehmen, LUKOYL, das Yalın für „rätselhaft“ hält, nach Angaben von „Vagit Alekperov, dem Leiter des Unternehmens (obwohl es keine genauen Angaben gibt)“  „zu 50 Prozent ausländischen Unternehmern, zu 20 Prozent ihm selbst und zu 10 Prozent Leonid Fedun, dem Vizepräsidenten“ gehört.[23]

Wir haben es also mit einer komplexen Oligarchie zu tun, zu der die großen Oligarchen gehören. In diesem Fall sollte es doch offensichtlich sein, dass der monopolistische Staatskapitalismus in Russland eine Klassenbasis hat, die sich nicht auf nationalistischen Motiven wie dem Staatsbewusstsein der betreffenden Staatsmänner oder dem Wunsch Russland nicht zerschlagen zu lassen beschränken lässt. Yalın leugnet diese offensichtliche Tatsache zwar nicht gänzlich, zieht jedoch nicht die richtigen Schlüsse aus den Besonderheiten Russlands, auf die in der Einleitung zu dieser Unterrubrik hingewiesen wurde, und behauptet Folgendes:

Der russische Staatskapitalismus ist zwar nicht völlig unabhängig von den großen Monopolen, aber er ist auch kein Staatskapitalismus, der ausschließlich für die Bedürfnisse dieser Monopole organisiert ist. Er hat seine eigenen traditionellen Prioritäten, zu denen die Säuberung „strategischer Sektoren“ von Oligarchen und ausländischem Einfluss (Anfälligkeit) gehört. Ich weiß nicht, ob diese Situation unbegrenzt andauern kann, wo und wie ein Punkt gesetzt werden sollte, (…) aber … mit dem riesigen sowjetischen industriellen Erbe im Rücken und seiner Leitungstradition kann er weit über die Vermutungen hinaus fortbestehen und tut es auch.“[24]

Um es direkt zu sagen: Yalın sieht den Wald vor lauter Bäume nicht. Sie schenkt den unausweichlichen Implikationen des Klassencharakters des monopolkapitalistischen Staates keine ernsthafte Aufmerksamkeit, sondern übergeht sie im Grunde. Der Punkt, auf den sie sich fokussiert, ist die Dominanz des Staates in der Wirtschaft. Diese Tatsache gibt jedoch noch keinen Aufschluss darüber, in wessen Dienst dieser Staat steht bzw. die Interessen welcher Klassen bzw. Schichten er verfolgt. Was die Behauptung betrifft, die sie aus der Existenz des Staatskapitalismus zieht, nämlich dass er nicht nur für die Bedürfnisse dieser Monopole organisiert ist, dass er Prioritäten hat, die auf dem Grundsatz beruhen, strategische Sektoren von Oligarchen und ausländischem Einfluss zu befreien, so genügt es, die folgenden Fragen zu stellen: Entsprechen die oben erwähnten „traditionellen Prioritäten“ nicht den Bedürfnissen der Monopole? Ist es nicht klar, dass der Kapitalismus in Russland, dessen Übergang zu offenen kapitalistischen Formen durch einen großen Zusammenbruch und Ausbeutung gekennzeichnet war, notwendigerweise und schnell die Form eines staatlichen Monopolkapitalismus annehmen musste, wenn er nicht offen kolonisiert oder halbkolonisiert werden wollte? Erfordert denn die relativ schwache Wirtschaftsstruktur des Landes nicht, dass das Wirtschaftsleben und der Aufbau nicht den Interessen dieser oder jener Gruppe des Privatkapitals (das im Übrigen mit dem ausländischen Kapital verbunden war/ist) untergeordnet werden? Und dies in einer Zeit, in der der Kapitalismus in Russland mit einer massiven Ausplünderung durch die großen imperialistischen Staaten des Westens (gerade durch die Ermutigung von und durch einige Oligarchen) bedroht war? Ist es dann in diesem konkreten Zusammenhang nicht nachvollziehbar, dass es bestimmte Monopole, Kapitalgruppen und eine mit dem Staat verflochtene Oligarchie des Finanzkapitals gibt, deren Sicht der Dinge statt auf einzelne bzw. kurzfristige Interessen auf lange Sicht ausgerichtet ist und gerade deshalb die Ambition haben sich mit dem Staat zu verflechten und aus ihm Kraft zu schöpfen, um gegenüber der zerstörerischen Konkurrenz des ausländischen Kapitals zu überleben und sich zu entwickeln?

Die oben genannten Beispiele zeigen, dass diese besondere Verschmelzung von „Wirtschaft und Macht“ bereits stattgefunden hat und dass die monopolkapitalistische Oligarchie im Lande gezwungen ist, sich sowohl auf das „industrielle Erbe der Sowjetunion“ als auch auf die „Leitungstraditionen“ zu stützen, und zwar nicht im Interesse der arbeitenden Bevölkerung Russlands, sondern für ihre eigenen Monopolinteressen.

AUFLÖSUNG VON INNEREN ZUSAMMENHÄNGEN, ERSCHEINUNG VON VERKEHRTEN BILDERN…

Wir haben gesehen: die Tatsache, dass einige durch die historische Besonderheit der Entstehung des Kapitalismus in Russland geprägten Aspekte des russischen monopolistischen Staatskapitalismus nicht eins zu eins mit den Formungen im „gewöhnlichen“ Imperialismus übereinstimmen, wird als Hinweis darauf gewertet, dass der Kapitalismus in Russland einige Merkmale des Imperialismus nicht aufweist. Dies ist natürlich nur möglich, weil die Klassenperspektive und -analyse nicht die Achse dieses Verständnisses bilden. Der kapitalistische Charakter des Staates wird zwar festgestellt, aber dass im Hintergrund dieser Charakterisierung die Tatsache steht, dass die Kapitalisten diesen Staat in ihren Dienst stellen, wird nicht vom marxistischen Standpunkt aus analysiert. Im Gegenteil: an diesem Punkt angelangt verhält man sich kurios, ähnlich einem Jäger, der im Antlitz des von ihm gejagten Tieres sich lediglich mit einem zuwinken begnügt! Doch nicht nur dies; zudem wird ausgehend von dem Faktum, dass der Kapitalismus in Russland sich über den Staat organisiert, auf ‚sowjetisch anklingende‘ Merkmale hingewiesen und diese als indirekte Hinweise dafür angeführt, dass der monopolistische Staatskapitalismus in Russland noch nicht imperialistisch sei.

Bevor wir weitermachen eine kurze Anmerkung zu den ‚sowjetisch anklingenden’ Merkmalen. Bei der Analyse Russlands ist es natürlich nicht richtig die Existenz solcher kultureller (auch traditioneller) Formungen und Bewusstseinselemente zu übersehen. Sie haben jedoch nicht die Bedeutung, die ihnen von denjenigen zugeschrieben wird, die auf diesen Punkt hinweisen. Vielmehr entsprechen sie dem, was Ernst Bloch mit dem Begriff der „Ungleichzeitigkeit“ erklärte. Einige Elemente der kulturellen Bildung und des Bewusstseins können überleben, auch wenn die Basis, auf der sie einmal abhoben, schon längst verfallen oder verschwunden ist. Bloch sagt, dass es zum Beispiel in der Bauernschaft des Kapitalismus der 1930er Jahre Reste des Bewusstseins gibt, die nicht mit unserer Zeit übereinstimmen, weil sie auf einer Art toter, abgestumpfter oder zumindest vom Rest der Welt abgekoppelter Unterbau beruhen. Und er stellt fest, dass diese Art von Bewusstsein, Verhalten, Denkweise, die wir zum Beispiel in der Bauernschaft finden, die ihren Boden pflügt und ihre Felder mit dem Pflug der Vergangenheit bestellt, ein politisch ungleichzeitiges Bewusstsein ist. Insofern widerspricht die ungleichzeitige Existenz von ‚sowjetisch anklingenden‘ Kultur- und Bewusstseinselemente im heutigen monopolkapitalistischen Russland nicht der Natur der Dinge. Die Tatsache, dass die Elemente „sowjetisch“ sind, hebt ihren ungleichzeitigen Charakter also nicht auf. Nebenbei bemerkt ist die Instrumentalisierung ungleichzeitiger Bewusstseinselemente durch die herrschenden Klassen nicht nur in Russland zu beobachten. Bloch sprach ja nicht zu Unrecht von „der Reaktion, die sich auf Ungleichzeitigkeit versteht“.[25]

Fahren wir fort wo wir aufgehört haben. Wir haben erneut gesehen, dass Lenins Feststellung, der Kapitalismus könne nur auf einer bestimmten und sehr hohen Stufe seiner Entwicklung zum „kapitalistischen Imperialismus“ werden, abstrakt und mechanisch verstanden wird. So wird beispielsweise der relativ schwache Kapitalexport als Indiz dafür gewertet, dass Russland „noch nicht das imperialistische Stadium erreicht hat“ (Köbele). Wenn diese Herangehensweise richtig wäre, dann wäre es auch für die Analyse selbst bedeutungslos darauf hinzuweisen, dass das Hauptmerkmal des Kapitalismus in Russland ein Kapitalismus ist, der sich durch die Übernahme des industriellen Unterbaus und des kulturellen Schatzes einer weit fortgeschrittenen Gesellschaft (Sozialismus) auszeichnete. D.h. der Kapitalismus in Russland konnte während seiner Bildung/Entwicklung ökonomisch und kulturell auf ein weitaus Entwickelteres zurückgreifen. Er musste also in Bezug auf einige Aspekte gar nicht bestimmte Stufen durchlaufen. Diese Besonderheit kann und darf man doch nicht unberücksichtigt lassen, wenn man im Kontext Imperialismus eine konkrete Analyse Russlands vornimmt. Zumal doch gerade diese Besonderheit dazu führte, dass der Kapitalismus in Russland sehr verzerrte Formen annahm, was sich u.a. darin ausdrückte, dass sich bei ihm bestimmte Merkmale des Imperialismus stark und andere schwach entwickelt haben.

Kurz gesagt: weil die hier kritisierte Herangehensweise nicht auf eine fundierte historisch materialistische Klassenanalyse und -perspektive beruht, wird an dem Außergewöhnlichen in Russland das Gewöhnliche nicht erkannt. Dazu bedarf es aber einer historisch-dialektischen Vermittlung, die jedoch nicht erbracht wird, wenn die Erscheinungsformen Russlands lediglich positivistisch wahrgenommen werden. Dies scheint auch der Grund zu sein, warum einige Erscheinungen nicht als verkehrte Spiegelbilder erkannt werden.

Nun, welche Art von Verzerrungen und Widersprüchen hat die Rückkehr vom Sozialismus zum Kapitalismus zur Folge gehabt? Um diesen ohnehin schon überlangen Artikel nicht noch weiter in die Länge zu ziehen, möchten wir uns einer Metapher bedienen. Unsere Metapher ist ein seltsamer Vorfall, der in dem Film „Der seltsame Fall des Benjamin Button“ ([26]) dargestellt wird. Der Film selbst basiert auf eine Geschichte von F. Scott Fitzgerald aus dem Jahr 1922. Die Handlung des Films ist kurz gefasst folgende: Benjamin Button wird als Baby mit dem Körper eines körperlich sehr alten Mannes geboren. Er hat ein furchterregendes Aussehen. Bei der ersten Untersuchung stellt der Arzt fest, dass die Knochen dieses Babys abgenutzt sind, seine Haut verschrumpelt ist und dass es mit diesem Körperbau, der dem letzten Entwicklungsstadium eines sehr alten Mannes entspricht, nicht lange leben wird. Der Entwicklungsprozess von Benjamin Button verläuft jedoch anders als der eines normalen Menschen. Während er von Lebensjahren her älter wird, wird er körperlich aber jünger. Und in einem sehr fortgeschrittenen Alter verwandelt er sich körperlich in ein normales Baby und stirbt. Hier geht es uns um die Auswirkungen des umgekehrten Verlaufs von Buttons Leben, oder besser gesagt, um die spezifischen Implikationen dieses umgekehrten Verlaufs der Entwicklung, wie z. B. die Nichtübereinstimmung von Alter und Körperbau, die umgekehrte Erscheinung, die Wesen-Form Deformation, die seelisch-körperlichen Asymmetrien, die Auflösung der inneren Zusammenhänge. Benjamin spielt zum Beispiel als ein älterer Mann mit einem Mädchen, das so alt ist wie er, nämlich 8-9 Jahre alt. Die Szene sieht so aus als würde ein Großvater mit seiner Enkelin spielen, in Wirklichkeit spielen zwei kleine Kinder miteinander. Benjamin wird mit dem Körperbau eines 60-jährigen alten Mannes zum Matrosen, dabei verhält er sich wie der 20-Jährige, der er eigentlich ist. Er sieht aus wie ein erfahrener Seemann, dessen Haare auf See ergrauten, aber in Wirklichkeit ist er ein Neuling. Als er den Körperbau eines achtjährigen Kindes erreicht, erkrankt er an Demenz und ist nicht mehr in der Lage, seine Angehörigen zu erkennen.

An zwei Wendepunkten seiner jüngeren Geschichte sah sich Russland[27], das bei seiner Umwandlung von einem sozialistischen in ein kapitalistisches Land eine umgekehrte Entwicklung durchmachte, mit Implikationen konfrontiert, die an den bizarren Zustand von Benjamin Button erinnern. Ein Wendepunkt war der Beginn der kapitalistischen Restauration unter den Bedingungen des Sozialismus. Das Andere war der Übergang zum offenen Kapitalismus als ein relativ junges kapitalistisches Land, jedoch mit einer fortgeschrittenen industriellen Basis, einer riesigen Armee, einem mächtigen Staatsapparat, die dem Entwicklungsstand eines jungen kapitalistischen Landes in vielerlei Hinsicht weit voraus waren. Wir werden diese beiden Wendepunkte und ihre benjamin-buttonschen Implikationen hier nicht einzeln analysieren. Doch auf Folgendes sei hingewiesen: Während der kapitalistischen Restauration in der UdSSR begann sich der innere Zusammenhang zwischen Unter- und Überbau aufzulösen. Erscheinungen wie Wesen-Form Deformationen, Nichtübereinstimmungen, Diskrepanzen u.ä. waren die Folgen. Wichtig ist hier zu erkennen, dass diese Erscheinungen mit dem Übergang zu offenen kapitalistischen Verhältnissen nicht einfach vom Tisch waren. Als Verhältnisse wurden diese Erscheinungen im offenen kapitalistischen Russland in neuen Gestalten reproduziert. Dies war insofern unausweichlich, da dieses Russland bis zu einem Punkt selbst das Produkt dieser Verhältnisse war. In Russland wurde beispielsweise der Übergang zu offenen kapitalistischen Verhältnissen mit einer vom Sozialismus übrig gebliebenen Produktionskapazität und -konzentration vollzogen, aber eine breite bürgerliche Klasse, wie sie in einem kapitalistischen Land auf ähnlichem Niveau anzutreffen ist, wurde nicht gebildet. Im Gegenteil: die Bourgeoisie in Russland hatte von Anfang an einen oligarchischen Charakter, so wie Benjamin Button als ein sehr alter Mann geboren wurde. Oder: „normalerweise“ ist die militärische Macht das Ergebnis von wirtschaftlicher Macht und basiert auf dieser. Russland hingegen hat ein Bruttosozialprodukt in der Größe von Texas, verfügt aber über eine der größten Armee der Welt und besitzt weltweit das größte Nuklearwaffenarsenal. Es ließen sich noch weitere Beispiele für Nichtübereinstimmungen/Nichtentsprechungen anführen, aber wir denken, dass unser Standpunkt verstanden worden ist.

Tatsache ist, dass das heutige Russland von einer finanziell-militärisch-bürokratischen Oligarchie beherrscht wird, die aus dem Zusammenschluss von Kapitalisten, Monopolen und Teilen der staatlichen Bürokratie besteht. Russlands heutige Gestalt ist sowohl eine Folge der Besonderheit der Entwicklung des Kapitalismus in diesem Land als auch eine Reaktion auf die widersprüchlichen Implikationen dieser Besonderheit.

Es geht um den Klassencharakter und die Tendenzen der Monopole und des Finanzkapitals in Russland und darum, was die objektiven Realitäten der imperialistischen Epoche ihnen im Hinblick auf die Erhaltung und Stärkung ihrer Existenz als Ganzes diktieren. Die Grundmotive der Monopole, wie z.B. Maximalprofit, und des Finanzkapitals, wie z.B. unbegrenzte Kapitalakkumulation, verschwinden nicht, weil sie aus Russland stammen oder weil Russland einen Staatskapitalismus hat. Angesichts des Klassencharakters bzw. der Triebkräfte des Finanzkapitals als dem besonderen Kapitaltyp unserer Epoche und der Tatsache, dass die Aufteilung der Welt durch imperialistische Staaten in Bezug auf Territorium und Einflusssphären abgeschlossen ist, bedeutet eine Vorstellung, die annimmt, dass ein so großer monopolkapitalistischer Staat, dessen Eigenschaften und Merkmale wir erörtert haben, überleben kann, ohne imperialistische Eigenschaften zu besitzen und zu entwickeln, eine Abtrennung der Imperialismustheorie von den materiellen Beziehungen und Widersprüchen, deren Ausdruck sie ist.

Russland ist ein kapitalistisches imperialistisches Land, das die grundlegenden Merkmale, die Lenin in seiner allgemeinen Definition des Imperialismus zum Ausdruck bringt, im Wesentlichen und in einer besonderen Gestalt besitzt. Dass ein so großes und mächtiges monopolkapitalistisches Land mit seinen Monopolen, seinem Finanzkapital, seiner Armee und seinen riesigen unter- und oberirdischen Ressourcen die Position einer „durchschnittlichen peripheren Wirtschaft“ akzeptiert, entspricht vornherein nicht den brutalen Wirklichkeiten des imperialistischen Zeitalters. Man kann nunmal nicht wie ein Lamm am Tisch der Wölfe sitzen. Auch wenn einige dies für möglich halten, besteht für uns jedenfalls kein Zweifel daran, dass die in Russland herrschende Oligarchie in vollem Bewusstsein dieser Tatsache handelt.

Wenn es nicht Opfer der Ausplünderung der großen imperialistischen Staaten werden will (was es nicht wollen kann) und wenn es kein sozialistisches System ist, in dem die Arbeiterklasse an der Macht ist (was nicht der Fall ist), so muss es als ein monopolkapitalistisches Land bei der Neuaufteilung der Welt mitmachen und eine Rolle spielen. Außerdem hat es bereits in der berühmten Rede ihres Präsidenten auf der 43. Münchner Sicherheitskonferenz erklärt, dass es diese Rolle zu spielen beansprucht, als er sagte, dass „eine unipolare Welt inakzeptabel ist“. Und Russland hat nicht nur mit seinem Angriff auf die Ukraine, sondern auch mit seinen früheren Schritten hinreichend bewiesen, dass es entschlossen ist, die „Unipolarität“ und die Rolle, die ihm in diesem Zusammenhang andere Imperialisten zuweisen, nicht zu akzeptieren. Hinter dieser Entschiedenheit steht nicht die Politik oder die Präferenzen irgendeiner Regierung, sondern sie ist bedingt durch die Klassenlage und die objektiven Interessen der Monopole und des Finanzkapitals in Russland.

Wie Lenin in einem Brief im August 1916 schrieb: „Man kann den gegenwärtigen Krieg nicht verstehen, ohne die Epoche zu verstehen.“[28] Russland steht weder allgemein außerhalb der Epoche des Imperialismus noch außerhalb der gegenwärtigen Konstitution des heutigen imperialistischen Weltsystems. Wenn wir die Wirklichkeit Russlands verstehen wollen, können wir unseren Horizont nicht auf sein Spiegelbild beschränken. Denn nur im Gesamtzusammenhang der imperialistischen Epoche sind alle Konturen seiner Wirklichkeit klar erkennbar.

[1] Mearsheimer, J. (2022) „Why John Mearsheimer Blames the U.S. for the Crisis in Ukraine“, The New Yorker, https://www.newyorker.com/news/q-and-a/why-john-mearsheimer-blames-the-us-for-the-crisis-in-ukraine/amp?fbclid=IwAR0qlqr4j0grBKNLI_lgw9cxNT-S5IaocBxpJVF4zydr7cPjp11LGXwUgUs

[2] Yalın, H. (2021) Rusya: Çöküş, Yükseliş ve Dinamikler, NotaBene Publikationen, Istanbul.

[3] Yalın, ebd. S. 162

[4] Das heißt, die anderen von Lenin zusammengefassten grundlegenden Eigenschaften: „3) der Kapitalexport erlangt im Unterschied zum Warenexport eine besonders große Bedeutung; 4) es entstehen internationale monopolistische Allianzen von Kapitalisten, die sich die Welt teilen; 5) die territoriale Aufteilung der Erde durch die stärksten kapitalistischen Mächte ist abgeschlossen. Der Imperialismus ist der Kapitalismus in einem Entwicklungsstadium, in dem sich die Vorherrschaft der Monopole und des Finanzkapitals durchgesetzt hat, in dem der Kapitalexport eine besonders große Bedeutung erlangt, in dem die Aufteilung der Welt zwischen internationalen Konzernen begonnen hat und in dem die Aufteilung des gesamten Territoriums der Erde zwischen den mächtigsten kapitalistischen Ländern abgeschlossen ist. “ (aus Yalıns Übersetzung aus dem Russischen von Lenins „Imperialismus“, siehe age, S. 155)

[5] Yalın, ebd. S. 155, Hervorhebungen von uns.

[6] Yalın, ebd. S. 158.

[7] Köbele, P. (2022) „Frieden geht nur mit Russland und China“, Unsere Zeit, https://www.unsere-zeit.de/frieden-geht-nur-mit-russland-und-china-2-168075/

[8] Köbele, ebd.

[9] G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logie, Erster Teil, S. 332, Verlag von Felix Meiner in Leipzig.

[10] Lenin, W. I. Materialen zur Revision des Parteiprogramms, LW, Bd. 24, S. 465, kursiv von Lenin.

[11] In seinem Buch „Imperialismus“ stellt Lenin bei der Formulierung der betreffenden Definition zunächst Folgendes fest: „Doch sind allzu kurze Definitionen zwar bequem, denn sie fassen das Wichtigste zusammen, aber dennoch unzulänglich, sobald aus ihnen speziell die wesentlichsten Züge der zu definierenden Erscheinung abgeleitet werden sollen. Deshalb muss man – ohne zu vergessen, dass alle Definitionen überhaupt nur bedingte und relative Bedeutung haben, da eine Definition niemals die allseitigen Zusammenhänge einer Erscheinung in ihrer vollen Entfaltung umfassen kann – eine solche Definition des Imperialismus geben, die folgende fünf seiner grundlegenden Merkmale enthalten würde“. LW, Bd. 22, S. 270.

[12] Lenin, Sozialismus und Krieg, LW, Bd. 21, S. 306

[13] Lenin, Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung, LW, Bd. 22, S. 368

[14] Lenin, Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus, LW, Bd. 23, S. 113, kursiv von Lenin.

[15] Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, LW Bd. 22, S. 269f

[16] „Bei beidem sollten wir allerdings im Auge behalten, dass als geschichtliche Besonderheit des Übergangs zum Kapitalismus durch eine Konterrevolution ein hoher Einflussgrad und Eigentumsanteil des kapitalistischen Staates gegeben ist. Das ist ein Unterschied zu hochentwickelten staatsmonopolistischen Gesellschaften wie etwa Deutschland, den USA, Frankreich oder Britannien. Ein weiterer Unterschied ist die Entwicklung der russischen Monopole und Oligarchen aus dem sowjetischen Volkseigentum. Das gleicht eher den Prozessen der ursprünglichen Akkumulation als den Prozessen der Entstehung der westlichen Monopole im Konkurrenzkampf bei der Herausbildung des Imperialismus.“ (Köbele, ebd.)

[17] Yalın, ebd. S. 113.

[18] Yalın, ebd. S. 115.

[19] Yalın, ebd. S. 118, Kursivschrift von uns.

[20] Yalın, ebd. S. 128, Kursivschrift von uns.

[21] Yalın, ebd. Kursivschrift von uns.

[22] Yalın, ebd. S. 119, Kursivschrift von uns.

[23] Yalın, ebd. S. 121.

[24] Yalın, ebd. S. 165., hervorgehoben von uns.

[25] Siehe: Bloch, E. (1973) Erbschaft unserer Zeit, Suhrkamp Verlag, S. 104-126.

[26] Es heißt, dass Fitzgerald beim Schreiben dieser Geschichte von einem Zitat von Mark Twain inspiriert wurde: „Es ist schade, dass der beste Teil des Lebens am Anfang und der schlechteste Teil am Ende liegt.“

[27] Natürlich bestand die UdSSR nicht nur aus Russland, aber da Russland unser Thema ist, beschränken wir uns auf dieses Land.

[28] Lenin, Werke, Bd. 35, S. 205.