Artikel von Yusuf Karadaş, übersetzt aus der EVRENSEL
Trotz der Waffenruhe, die nach den Zusammenstößen zwischen drusischen Milizen, beduinischen arabischen Stämmen und HTS (Haiʾat Tahrir asch-Scham)-Kräften in der syrischen Stadt Suweida seit Ende letzter Woche verkündet wurde, gibt es Berichte, dass die HTS und die beduinischen Stämme neue Einheiten in die Region entsendet haben und die Gefechte wieder aufgenommen wurden, mit der Begründung, die Drusen hätten „die Waffenruhe verletzt“. Am vergangenen Wochenende kam es nach der Entführung eines Drusen durch bewaffnete Gruppen zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen drusischen Milizen und Beduinenstämmen, während sich die dschihadistischen Einheiten, die von der HTS unter dem Vorwand, die Lage unter Kontrolle zu bringen, in die Region entsandt wurden, an Massakern, Plünderungen und Folterungen an den Drusen beteiligten. Nach den Massakern an Alawiten in den Küstenstädten Latakia und Tartus im März haben die Angriffe auf die Drusen einmal mehr gezeigt, dass die Erklärungen der die Übergangsregierung in Syrien führenden HTS, die Identität der verschiedenen ethnischen und religiösen Gemeinschaften zu respektieren, nichts weiter als eine heuchlerische Politik sind, um Zeit zu gewinnen. Während Israel, das im Namen der Verteidigung der Drusen die HTS angreift, diese Konflikte zum Anlass nimmt, seinen Machtbereich in Syrien auszuweiten, ist die Haltung der DKS (Demokratische Kräfte Syriens), einer der wichtigsten Akteure in Syrien, angesichts dieser Entwicklungen wichtig.
Fest steht: Die imperialistischen Mächte und Regionalmächte, die die HTS – bestehend aus dschihadistischen Gruppen, die Aleviten und Drusen als „vom Glauben abgefallen“ und deshalb als „zwingend zu ermorden“ ansehen – an die Spitze der syrischen Regierung gesetzt haben, haben damit das Fundament für einen neuen syrischen Staat auf den religiös-ethnischen Bruchlinien gelegt. Vom Rückhalt vom US-Imperialismus und dem US-Sondergesandten für Syrien Barrack ermutigt, verweigerten die HTS Regierung und ihr Anführer Dscholani bei einem neuerlichen Treffen mit der von DKS-Kommandant Mazlum Abdi angeführten kurdischen Delegation jegliche Kompromissbereitschaft. Schon diese Entwicklungen verdeutlichen, dass seit der Machtergreifung der HTS im Dezember die Probleme Syriens weiterhin im Raum sind und dass die Vereinbarungen der Übergangsregierung unter Dscholani mit den Kurden und Drusen vor allem Zeit schinden sollen, um die Macht zu festigen.
Doch warum heben die USA, die westlichen Imperialisten und regionale Reaktionäre die Sanktionen gegen die HTS auf und gehen sogar Kooperationen mit ihr ein, obwohl die HTS sich weiterhin durch Massaker und Übergriffe gegen religiöse und ethnische Minderheiten hervortut?
Die Antwort ist einfach: Die Einsetzung der HTS an die Spitze Syriens dient den regionalen Interessen der US-Imperialisten, Israels und in der Türkei Erdoğans Regierung und den Reaktionären am arabischen Golf. All diese Akteure kamen bei der Einschätzung überein, dass der Iran die wichtigste Bedrohung ist, welche durch das Assad-Regime weiter wächst. Nach der Machtübernahme bezeichnete HTS und ihr Anführer Dscholani nicht Israel, das seine Besetzungen in Syrien ausweitet, sondern den Iran als Hauptfeind und machte darüber hinaus palästinensische Gruppen zur Zielscheibe, um bei Trump Eindruck zu schinden. Daneben schreckte die HTS auch nicht davor zurück, die Ressourcen des Landes für westliche Imperialisten, Golfkapital und die türkische Bourgeoisie zu öffnen, sowie die Zusammenarbeit und die Abhängigkeitsverhältnisse auszuweiten. Als Dscholani sich wie erwartetet dem annäherte, die Zusammenarbeit mit Israel zu intensivieren und den Abraham-Abkommen beizutreten, um sich auf dieser Grundlage der Politik des US-Imperialismus, die Region umzugestalten, einzugliedern, hob der US-Imperialismus die Sanktionen gegen Syrien auf und strich die HTS von der Terrorliste.
Während sich die HTS imperialistischen Mächten und den regionalen Reaktionären unterwirft, dienen die Angriffe auf religiöse Minderheiten und deren Symbole dem Ziel, die eigenen dschihadistischen Anhänger bei der Stange zu halten.
Israel, das keine Gelegenheit auslässt, um seine Herrschaft in Syrien auszuweiten, flog nach den Angriffen auf die Drusen Luftschläge gegen HTS. Indem in den Regierungsmedien in der Türkei Besserwisser wie Ahmet Hakan nach den israelischen Angriffen fragen, ob „so etwa die israelische Unterstützung Dscholanis aussehe“, die Tatsache zu vertuschen, dass die Regierung Erdoğan und Israel trotz der Rivalität zwischen ihnen auf der politischen Grundlage des US-Imperialismus vereint sind. Dabei braucht es keiner besonders tiefgreifenden Analysen, um zu erkennen, dass es keinen Widerspruch gibt zwischen der israelischen Unterstützung für Dscholani – mit dem Ziel, das Assad/Baath-Regime, bis vor kurzem noch einer von Israels Hauptfeinden, zu stürzen – und den heutigen neuen Angriffen in Syrien, mit denen Israel weitere Gebiete in Syrien unter Kontrolle bringen und Dscholani zur Unterwerfung unter die eigenen politischen Ziele zwingen will.
An dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen, dass Erdoğans jüngste Betonung eines „türkisch-kurdisch-arabischen Bündnisses“ im Zusammenhang mit dem Streben nach einer noch bedeutenderen Rolle und Position innerhalb der Politik des US-Imperialismus der regionalen Neuordnung gegen den Iran (und natürlich auch dessen Unterstützer Russland und China) zu sehen ist.
Nach den Übergriffen und Massakern an Drusen forderte der religiöse Vertreter Scheich Hikmat al-Hijri einen „Sicherheitskorridor“ in Richtung Rojava und Jordanien, was für neue Debatten sorgte. Regierung und Medien in der Türkei interpretierten dies nicht als Reaktion auf eine existenzielle Bedrohung für die Drusen, zu der sie sich positionieren sollten, sondern als Versuch, einen „David-Korridor“ im Sinne Israels bis an die türkische Grenze zu schaffen.
Präsident Erdoğan wiederum wirft einerseits diejenigen, die von den Angriffen der Dschihadisten bedroht sind, vor, sie „ließen sich von Israel vor seinen Karren spannen“, andererseits erklärt er, dass „man nicht zulassen werde, dass syrische Kurden zum Spielball des Zionismus werden“. Doch abgesehen davon, dass die Erdoğan-Regierung mit ihrer Rolle beim Regimewechsel in Syrien Israel den angestrebten Freiraum verschafft hat, ist gerade sie die Hauptverantwortliche dafür, dass Israel diese Probleme überhaupt ausnutzen kann, indem sie die demokratischen Rechte der unterdrückten Völker und ethnisch-religiösen Gemeinschaften, allen voran der Kurden, ignoriert und darüber hinaus versucht, ihren Kampf um ihre Rechte mit Gewalt aus der Welt zu schaffen.
Wenn Erdoğan sagt, „Wir werden die Kurden nicht zum Spielball des Zionismus machen“, spricht er dabei etwa von der Anerkennung ihrer nationalen und demokratischen Rechte? Natürlich nicht. Auf der einen Seite als Fortsetzung des mit Öcalan geführten Prozesses und auf der anderen Seite mit einer Stärkung der HTS und deren Machtübernahme rechnend, plant er, sämtliche demokratischen Errungenschaften der Kurden zu beseitigen (sie innerhalb der HTS-Regierung zu zermahlen).
Auch wenn es sich hierbei um ein eigenes Diskussionsthema handelt, lässt sich bereits jetzt sagen, dass die Haltung, die die DKS und die autonome Verwaltung in Rojava gegenüber diesen Plänen einnehmen werden, auch wichtige Auswirkungen auf den inländischen Verlauf des kurdischen Problemlösungsprozesses haben wird.
Die Forderung, einen Fluchtkorridor für die von Massakern bedrohten Drusen zu schaffen, verleiht der Position der DKS und der Kurden in der Zukunft Syriens noch größere Bedeutung. Der DKS-Kommandant Mazlum Abdi reagiert auf diese Aufrufe mit der Erklärung gegenüber der HTS-Führung, dass „die Angriffe auf die Zivilbevölkerung ein Ende finden und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden müssen.“
Bekanntlich war am 10. März in Damaskus eine acht Punkte umfassende Vereinbarung zwischen den DKS und der Übergangsregierung der HTS unterzeichnet worden. Angesichts der Empörung darüber, dass diese Vereinbarung parallel zu den andauernden HTS-Massakern an den Aleviten zustande kam, hatten die DKS erklärt, dass durch diese Vereinbarung nicht nur die Rechte der Kurden, sondern auch die demokratischen Rechte von Aleviten, Drusen und Jesiden abgesichert würden.
Die HTS hingegen versucht, die Unterstützung, die sie vor allem von den Imperialisten und vom Erdoğan-Regime sowie anderen reaktionären Kräften der Region erhält, für das Aufzwingen ihrer eigenen Herrschaft zu nutzen, statt für ein dezentralisiertes Regierungsmodell, das die Rechte und die politische Partizipation ethnischer und religiöser Gemeinschaften sichert. Zu diesem Zweck macht die HTS bei jeder Gelegenheit deutlich, dass sie nicht davor zurückschreckt, Angriffe und Massaker gegen die unterschiedlichen ethnischen und religiösen Gemeinschaften Syriens zu verüben. So lehnte Dscholani die Forderungen des kurz nach der Erklärung des US-Sondergesandte für Syrien Barrack, dass sie in Syrien „eine zentralistische Regierungsform bevorzugen“ würden, zu Gesprächen nach Damaskus gereisten DKS-Kommandanten Mazlum Abdi und der kurdischen Delegation nach der Aufnahme der DKS in die Armee unter Erhalt ihrer Struktur und einem dezentralen Verwaltungsmodell ab.
Heute, am 19. Juli, dem Jahrestag der Rojava-Revolution, hängt der Schutz der Errungenschaften in Rojava gegen den reaktionär-zentralistischen Herrschaftsanspruch der HTS davon ab, ob es der DKS gelingt, sich im Kampf für eine gemeinsame demokratische Zukunft mit den Aleviten, Drusen, Assyrern, Jesiden und allen säkular-demokratischen arabischen Kräften zu vereinen. Andernfalls werden Gefechte, Massaker und ausländische Interventionen aufgrund von ethnischen und religiösen Konfliktlinien, die von der dschihadistischen HTS-Führung bei jeder Gelegenheit geschürt werden, weiterhin das Schicksal Syriens bilden und die Völker weiter verlieren.