Türkei in die EU?

Am 16. Dezember beschlossen in Brüssel die Regierenden der
25 EU-Mitgliedsstaaten, Verhandlungen über den Beitritt der Türkei zur Europäischen
Union aufzunehmen. Viele Menschen sehen das mit Skepsis, denn sie erinnern sich
noch an die Freudenrufe des Kapitals über die EU-Osterweiterung. Das konnte so
nicht nur seine Absatzmärkte vergrößern, sondern erhielt auch direkten Zugriff
auf Produktionskapazitäten zu niedrigsten Löhnen. Die damit verbundenen
erpressten Lohnsenkungen bei Siemens und Opel sind unvergessen.

Gleiches würde auch für die Türkei gelten, denn auch dort
sind die Löhne aus Kapitalssicht sehr attraktiv.

Die türkische Wirtschaft boomt zurzeit. In der Türkei ist
schon die Rede davon, sie könne das China Europas werden. Dieser Ausspruch ist
auf das dortige Wirtschaftswachstum bezogen, aber man kann ihn auch leicht mit
den Zuständen in China, den frühkapitalistischen Arbeitsbedingungen, dem
18-Stunden Tag etc. verbinden.

Noch bedeutsamer erscheinen die sogenannten geopolitischen
Interessen, die in den Empfehlungen der EU-Kommission zum EU-Beitritt offen
genannt werden: „Die Türkei ist ein strategisch wichtiges Land“  „Der Beitritt der Türkei würde der EU
helfen, die Energieversorgungsrouten besser zu sichern“. „Im Hinblick
auf Zentralasien könnte die Türkei den politischen Einfluss der EU in dieser
Region kanalisieren helfen.“

Das Kapital möchte von der Türkei aus in weitere Länder expandieren.
Um den politischen und wirtschaftlichen Einfluss auf die turksprachigen Länder
der ehemaligen Sowjetunion wie Turkmenistan, Aserbaidschan, Usbekistan,
Kirgisien gibt es jetzt bereits einen Wettlauf zwischen der Türkei und  dem Iran. Über die Türkei als
EU-Mitgliedsstaat würde das europäische Kapital einen Fuß in die Tür bekommen.
Über diesen Einfluss wären dann auch die Öl- und Gaspipelines, die durch
Zentralasien verlaufen, besser zu kontrollieren.

Auch der militärische Aspekt wird nicht vernachlässigt: In
den Empfehlungen der EU-Kommission heißt es weiterhin: „Dank ihrer hohen
Militärausgaben und ihres hohen Streitkräftekontingents ist die Türkei in der
Lage, einen bedeutenden Beitrag zur Sicherheit und Verteidigung der EU zu
leisten.“

In der öffentlichen Diskussion werden sehr viele Punkte
behandelt, die geostrategischen jedoch nicht. Stattdessen wird das Bild
vermittelt, dass allein eine EU-Mitgliedschaft „Menschenrechte“ in
die Türkei bringen könne, als sei die EU der Inbegriff des Humanismus. Viele
glauben an eine Verbesserung der Rechte der Kurden. Viele in der Türkei
erhoffen sich einen weiteren wirtschaftlichen Aufschwung und verbesserte
Lebensumstände. Wenn aber das türkische und das europäische Kapital gerade an
den geringen Löhnen, bzw. an niedrigen Lebensstandards interessiert sind, dann
gibt es keinen Automatismus, der eine Verbesserung bringt. Verbesserte
Lebensumstände und mehr Rechte müssen in der Türkei erkämpft werden, eine
EU-Mitgliedschaft würde diesem Kampf zuwiderlaufen. Das angeblich
„humane“ Gesicht der EU ist angesichts des Sozialabbaus (Hartz IV),
der sich rapide verschlechternden Arbeitsbedingungen
(Lohnsenkung/Arbeitszeitverlängerung), des Umbaus der Polizei wie des Militärs,
sowieso eine Maske ihres imperialistischen Charakters.

Die Arbeiterklasse hat ein Interesse daran, dass in allen
Ländern ein Lohn gezahlt wird, der ein gutes Auskommen ermöglicht und so
Lohnerpressungen und Produktionsverlagerungen unattraktiv macht. Das Kapital
hat das gegensätzliche Interesse und so muss man vom Standpunkt der
Arbeiterklasse die EU als Instrument des Kapitalismus ablehnen und die
Auflösung fordern und natürlich nicht die Aufnahme von weiteren
Mitgliedsstaaten. Diese Ablehnung der EU muss aber unterschieden werden von den
Stimmen der reaktionären und insbesondere der rechten Seite, die jetzt die
Hetze und Diskriminierung gegen Ausländer in Deutschland verstärken will.
Unsere Haltung richtet sich nicht gegen die Türkei und die Völker der Türkei,
sondern gegen die EU und den deutschen Imperialismus. Nicht die Türken stellen
eine Bedrohung dar, sondern die Großmachtinteressen der EU und des deutschen
Imperialismus, die zu Lohnsenkungen, verschlechterten Arbeitsbedingungen,
Sozialabbau, Abbau demokratischer Rechte und Militarisierung führen. Deshalb
ist eine weitere Stärkung der EU durch einen Türkei-Beitritt gegen die Interessen
der Arbeiter in der Türkei und in Deutschland gerichtet.