Zur Prozessbeobachtung in Ankara

„Merhaba“. Am Sonntagnacht um halb zwölf komme ich im Flughafen von Ankara an. Ein Genosse, der ein Pappschild mit meinem Namen in der Hand hält, steht am Ausgang und begrüßt mich. Ich werde von ihm mit dem Auto in das Gewerkschaftshaus gebracht, wo ich die nächsten Tage übernachten werde. Ich lerne noch schnell die anderen Prozessbeobachter aus Deutschland kennen: zwei Rechtsanwälte aus Bremen und einen Genossen, der in der Friedensbewegung in Hamburg aktiv und Mitglied von Ver.di ist. Ich schlafe sofort ein, es war ein anstrengender Tag.

Um was geht es eigentlich?

Vor gut einem Jahr, am 10. Oktober 2015 sollte in Ankara eine Friedensdemonstration stattfinden, zu der als Hauptorganisatoren die HDP (Demokratische Partei der Völker) und die Gewerkschaft KESK (Konföderation der im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeiter) aufgerufen hatten, daneben aber auch zahlreiche andere Gewerkschaften, Berufsverbände und linke Parteien und Organisationen, wie unsere Bruderpartei EMEP (Arbeiterpartei). Gegen 10 Uhr, noch ehe die Demonstration begonnen hatte, ließen auf dem Platz vor dem Hauptbahnhof von Ankara zwei Selbstmordattentäter kurz nacheinander zwei Bomben explodieren. Der Anschlag hatte verheerende Folgen: er forderte 102 Todesopfer – 16 davon waren EMEP-Mitglieder – und mehr als 500 Verletzte. Kurz nach dem Anschlag sperrte die Polizei das ganze Areal ab, so dass Rettungsfahrzeuge erst nach ca. 45 Minuten zu den Verletzten durchkommen konnten. Außerdem wurde von der Polizei Pfefferspray versprüht, sodass es unter den Verletzten noch viele Todesfälle durch Ersticken gegeben hat. (Wenn man den Suchbegriff „Terroranschlag in Ankara 2015“ bei Google eingibt, kann man sich Bilder, Videos und erste Zeitungsberichte über diesen Terrorakt ansehen: Ein wahres Massaker.) Die Regierung Erdogan konnte nicht umhin, eine dreitägige Staatstrauer anzuordnen. Nachdem Erdogan anfangs versucht hatte, die Tat der PKK in die Schuhe zu schieben, wurde sehr bald klar, dass es sich um einen Anschlag des „Islamischen Staates“ gehandelt hat.

35 Personen, alle aus dem Umfeld des IS, sind der Mittäterschaft angeklagt und 13 davon stehen nun seit Montag, dem 7. November vor dem Gericht in Ankara. Unsere Genossen und auch die anderen von dem Anschlag betroffenen Organisationen sind der Ansicht, dass die Hauptschuldigen an dem Massaker nicht vor Gericht stehen, nämlich die Verantwortlichen des Staatsapparats und der Geheimdienste, der so genannte „Tiefe Staat“ (eine im Verlauf mehrerer Jahrzehnte gewachsene konspirative Verflechtung von Militär, Geheimdiensten, Politik, Justiz, Verwaltung, Rechtsextremismus und organisiertem Verbrechen – Wikipedia). Ein Genosse von EMEP drückte es in etwa so aus: „Die Anklage ist ein Szenario. Die Hauptschuldigen werden versteckt und die Hauptopfer ignoriert. Mit der schwachen Anklage sollen die wahren Hintergründe verdeckt werden.“

Das sind also, kurz gesagt, die Hintergründe des Prozesses vor dem Gerichtshof in Ankara, zudem wir als Prozessbeobachter aus Deutschland eingeladen waren. Zwei Genossen aus Tunesien waren ebenfalls da.

Montag: am frühen Morgen fahren wir zum Parteibüro der EMEP, wo wir von einigen Genossen begrüßt werden, dann geht es zu Fuß zum nahegelegenen Gericht. Es ist ca. 9 Uhr, der Prozess beginnt um 10 Uhr. Vor dem Gerichtsgebäude sammelt sich eine große Menge Besucher. Schilder mit den Fotos der Ermordeten und dem Text „(Name)… wir werden Dich nicht vergessen“ werden hochgehoben. Verschiedene Organisationen stellen Redner. Klar ist, hier stehen Erdogan und die AKP am Pranger. Massives Polizeiaufgebot: Wasserwerfer, Robocops; ein paar Meter von mir entfernt ein Polizist mit Maschinengewehr. Die Menschen auf der Kundgebung lassen sich nicht einschüchtern; sie wurden als Verletzte selbst Opfer des Anschlags oder haben Angehörige verloren.

Parolen wie „Wir kämpfen gemeinsam Schulter an Schulter“ und ähnliche werden gerufen.

Dann gehen wir durch die Personenkontrolle ins Gerichtsgebäude. Zwei Gerichtssäle für ca. 450 Besucher sind fast voll besetzt. Die Lautsprecheranlage und auch die Videoübertragung im zweiten Saal funktionieren nicht. Es entsteht Unruhe. Empörter Zuruf aus dem Saal: „Ihr überwacht uns, ihr behindert uns und könnt nicht einmal die Technik organisieren!“. Um 11 Uhr beginnt endlich der Richter mit der Verlesung der Zeugen, der Anwälte usw. Der Zwischenruf „Macht hier keine Show“ sorgt für tumultartige Unruhe. Es ist eine Beleidigung für die Anwesenden und vor allem für die Opfer. Empörte Rufe. Die Menschen im Saal wollen den Namen des Rufers wissen. Es stellt sich heraus, dass es ein Polizist ist. Er wird des Saales verwiesen.

Kaum ist die Verlesung der Namen beendet, was sich immerhin über eine Stunde hinzieht, erklären die Pflichtverteidiger der Angeklagten nacheinander, dass sie ihr Mandat niederlegen. Es bleiben gerade noch 3 Pflichtverteidiger übrig. Für die anderen gibt es Beifall aus den Zuschauerreihen.

Schließlich beginnt die Vernehmung der Tatverdächtigen zur Person. Sie stammen alle aus Gaziantep und Elazig, Städten am Rande des von Kurden bewohnten Teils der Türkei. Gaziantep ist, so wurde uns gesagt, eine Hochburg des IS. Einer der Angeklagten ist den Behörden schon lange bekannt, weil er mit einem ähnlichen Anschlag in Gaziantep auf eine Hochzeitsgesellschaft in Verbindung steht. Fast alle sind einfache Arbeiter oder arbeitslos. Schon allein das lässt vermuten, dass es sich nicht um die Drahtzieher oder Hintermänner des Terroranschlags handelt.

In der Mittagspause gehen wir an den Porträts der Anschlagsopfer vorbei, die vor dem Gerichtsgebäude aufgereiht sind.

Am Nachmittag wird die Anklageschrift verlesen. Laut unserem Übersetzer handelt es sich nur um die Aufzählung längst bekannter Tatsachen. Eine Opferanwältin sagt: „Die Anklage bringt keine neuen Erkenntnisse.“

Plötzlich großer Aufruhr. Während der Rede eines Anwalts der Opfer hat jemand dazwischengerufen: „Ihr verscheißert den Staat.“ Die Wut unter den Zuschauern ist groß. Viele stehen auf. Ein paar leere Plastikflaschen fliegen Richtung Zwischenrufer. Der Saal kocht. Die Polizisten, die mit Helmen und Schilden ausgerüstet sind und in einer Reihe mit dem Gesicht zu den Zuschauerrängen sitzen, stehen auf und gehen in Stellung. Es wird brenzlig. Verantwortliche der Organisationen (es sind vor allem Frauen), rufen die Menschen zur Ruhe und können sie schließlich beruhigen. Eine Räumung des Saals hätte lediglich der Gegenseite genützt.

Gegen 18 Uhr endet die Sitzung. Draußen findet noch einmal eine Kundgebung statt. Wieder werden die Plakate in die Höhe gehalten – ich bekomme auch eines in die Hand gedrückt. Es gibt kämpferische Reden – das kann man auch erkennen, ohne die Sprache zu verstehen – Parolen werden gerufen und revolutionäre Lieder gesungen. Eine junge Rechtsanwältin, die mir schon während des Prozesses durch ihren mutig vorgetragenen Redebeitrag aufgefallen ist, hält eine sehr kämpferische Rede. Später erfahre ich, dass ihr Mann durch eine Bombe getötet wurde.Beim Abendessen wurde das Gehörte und Gesehene noch einmal mit den Genossen besprochen. Es ist so viel, dass ich nicht alle Einzelheiten aufnehmen kann. Fest steht jedoch:

  • Die Polizei und die Behörden waren gewarnt. Sie wussten von den Anschlagsplänen. Die Täter wurden sogar auf ihrer Fahrt von Gaziantep nach Ankara von einer Kamera gefilmt.

  • Die Polizei hat Pfefferspray versprüht (das sieht man auf Videoaufnahmen) und den Rettungskräften den Weg versperrt. Dadurch gab es noch mehr Tote. Dazu machte auch eine Vertreterin der Ärztekammer eine entsprechende Aussage.

  • Das Gericht versucht, Personen aus dem Umfeld der Attentäter als die einzigen Schuldigen hinzustellen und den Staat aus der Schusslinie zu nehmen.

Der zweite Tag beginnt ebenfalls mit der langen Verlesung der Namen der Anwesenden im Prozess.

Dann kommen die Anwälte der Opfer mit ihren Erklärungen an die Reihe. Sie sind keine persönlichen Anwälte der Betroffenen, sondern vertreten die Organisationen, die von dem Anschlag betroffen sind. Man hat sich anscheinend auf eine kleine Gruppe von Wortführern geeinigt, die unterhalb des Richterpults stehen, eingezwängt zwischen den Polizisten, die die Angeklagten bewachen und anderen, die an einem Hintereingang stehen. – Übrigens: Zwei Polizeioffiziere sitzen oder stehen ständig vor dem Richterpult und beobachten die Zuschauer.

Die Anwälte legen noch einmal die Fakten auf den Tisch: Einige der Angeklagten sind der Polizei schon lange als Al-Kaida- bzw. IS-Anhänger bekannt. Einer der Attentäter wird seit 2003 beobachtet und 2009 verhaftet, dann aber wieder freigelassen. Er und andere konnten ständig die Grenze passieren, ohne dass sie verhaftet wurden. Man wusste, dass sich einige in Pakistan von Taliban ausbilden ließen. Die Spurensicherung nach dem Attentat war äußerst schlampig. Der Tatort wurde einen Tag, nachdem der Anschlag passierte und noch Leichenteile auf dem Platz lagen, wieder für den Verkehr freigegeben. Ein weiteres Indiz, dass die Behörden Mitwisser waren: Busse, die zu linken Demonstrationen fahren, werden in der Türkei ständig stundenlang aufgehalten. Bei der Demo vom 10. Oktober nicht. Kurz nach Eintreffen der Busse detonierten die Bomben.

Der Richter versuchte natürlich, sich den Anschein der Neutralität zu geben. Als aber die Vorwürfe der Anwälte gegen die Regierung, die AKP und Erdogan sich häuften, verlor er schon langsam die Geduld und funkte immer wieder dazwischen und wollte ihnen das Wort abschneiden. Das ist ihm aber, wohl auch aufgrund der Stimmung im Saal, die eindeutig gegen ihn war, nicht gelungen. Unerschüttert und mutig setzten die Anwältinnen (es waren tatsächlich mehr Frauen) und Anwälte ihre Reden bis zum Ende fort. Auch ein Anwalt der Bauarbeitergewerkschaft, der keine Zulassung bekommen hatte, ergriff das Wort und ließ es sich nicht vom Richter nehmen. Er schloss seine Erklärung mit den Worten: „Das Gericht weiß genau wie ich: Das letzte Wort in diesem Gericht wird Erdogan sprechen.“

Tief beeindruckt von dem Mut und der Entschlossenheit der Anwälte und überhaupt aller Menschen, die hier im Kampf gegen ein rabiates diktatorisches Regime stehen, verließ ich in der Mittagspause das Gerichtsgebäude, um zurück zu fliegen. In diesen anderthalb Tagen konnte ich mehr über die Verhältnisse in der Türkei erfahren, als in Zeitungen und Büchern zu lesen ist.

 

Die fortschrittlichen Menschen, Organisationen und Parteien verdienen unsere Anerkennung!

Sie brauchen unsere Solidarität!

Nieder mit der Erdogan-AKP-Diktatur!

Hoch die internationale Solidarität!

Schluss mit der Zusammenarbeit BRD-Türkei!