Diskussionen über die digitale Arbeit

Übersetzt aus dem Türkischen.

April 2017

Kaan Kangal

 

Die Beiträge, die wir auf Social-Media-Plattformen wie Facebook, YouTube und Twitter erstellen, die Links, auf die wir klicken, die Bilder, die wir liken, die Seiten, die wir öffnen, werden von diesen und ähnlichen Medienunternehmen genau verfolgt. Es wird ein statistisches Profil für jeden Nutzer erstellt; je nach Interesse werden jedes Mal, wenn er die Medienplattform aufruft, weitere Links angezeigt, die ihn ansprechen könnten. Wenn der Nutzer Links löscht, die er nicht sehen möchte, werden Alternativen angezeigt; das Verhalten des Nutzers, seine Vorlieben und seine Reaktionen auf neue Links werden ständig von der jeweiligen Medienplattform erfasst und das Nutzerprofil aktualisiert. Medienplattformen erzielen Gewinne durch den Verkauf dieser Statistiken an Dritte (Werbeagenturen, virtuelle Märkte und viele andere private Unternehmen). Da man weiß, dass mit dem Anstieg der Nutzerzahlen auch der Umfang der Nutzerdaten und die Nachfrage nach Werbung anwachsen wird, versuchen Medienplattformen sowohl ihre eigene Website so aktuell und populär wie möglich zu halten als auch die Nutzerprofile noch detaillierter zu gestalten. Vor diesem Hintergrund kommen folgende Fragen in den Sinn: Können wir sagen, dass die Grenzen des Privatlebens in sozialen Medien verletzt werden? Werden Nutzer von sozialen Medienunternehmen unbewusst ausgebeutet, obwohl viele soziale Medien kostenlos genutzt werden können? Oder weiter: Erzeugen Social-Media-Nutzer ohne Gegenleistung für Medienunternehmen Wert (und Mehrwert)?[1]

Diese und ähnliche Fragen gehören zu den Themen, die in letzter Zeit von Medienforschern, Soziologen und Philosophen diskutiert werden; neben liberalen, anarchistischen, konservativen und kritischen Perspektiven werden auch unterschiedliche Meinungen darüber geäußert, welchen Ansatz der Marxismus in Bezug auf diese Fragen haben sollte. Einer der am häufigsten genannten Namen im Bereich Marxismus und digitale Medien ist der österreichische Medientheoretiker Christian Fuchs. Fuchs ist eine schillernde Figur. Er hat eine ungewöhnliche Produktivität in Bezug auf kritische Medientheorie und ein marxistisches Konzept digitaler Arbeit. Jedes Jahr erscheinen Dutzende von Artikeln in verschiedenen Zeitschriften und jedes Jahr erscheinen mehrere Sammelbände oder Monografien. In einem Artikel leitet er aus Lukács’ „marxistischer gesellschaftlicher Ontologie“ eine Theorie der digitalen Arbeit ab, während er in einem anderen Artikel Heideggers neu veröffentlichte Schwarze Hefte[2] kritisiert und eine „marxistische Medien- und Technologietheorie“ vorstellt. Auch seien seine verschiedenen Spekulationen über die Möglichkeiten eines kommunistischen Internets ausgehend von Pikettys Kapital-Buch hier beachtet. Fuchs bringt viele Themen und Bereiche wie Systemtheorie, marxistische Arbeitswerttheorie, philosophische Wissenschaftstheorie usw. mit seiner eigenen digitalen Medientheorie in Verbindung. In diesem Artikel werden wir diese angeblich marxistische digitale Medientheorie von Fuchs, ihre inneren Dynamiken und ihr Verhältnis zum Marxismus untersuchen. Unsere These lautet wie folgt: Aus Sicht von Marx’ Konzepten der materiellen/nicht-materiellen Arbeit, der produktiven/unproduktiven Arbeit, Ware und Verdinglichung, Wertschöpfung, Ausbeutung und Profitrate sowie der Wirtschaftskrisen ist Fuchs’ Medientheorie unmarxistisch.

FUCHS’ THEORIE DER DIGITALEN ARBEIT

Fuchs’ Theorie der digitalen Arbeit ist das Ergebnis seiner Einwände gegen zwei theoretische Fronten. Auf der einen Seite behauptet er, Marx’ Arbeitswerttheorie gegen Namen wie Lazzarato, Hardt und Negri zu verteidigen, die Marx’ Arbeitsbegriff kritisieren; auf der anderen Seite beklagt er sich darüber, dass marxistische Soziologen angesichts des Aufkommens neuer Technologien und digitaler/virtueller Medienplattformen diese nicht in Bezug auf politische Ökonomie, Ideologie und Kulturtheorien untersuchen. Das Internet ist seit relativ langer Zeit ein untrennbarer Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens und die Theorie kann diese Realität nicht ignorieren. Die Frage ist also: Welche Rolle spielen das Internet und soziale Medien im Kapitalismus; welchen wirtschaftlichen Kreislauf haben sie; welche (ökonomischen, wissenschaftlichen und technologischen) strukturellen Veränderungen gibt es heute, die es zu Marx’ Zeiten nicht gab? Fuchs sucht Antworten auf diese Fragen; viele der von ihm vorgeschlagenen Lösungen – darauf werden wir gleich eingehen – stehen im Zentrum der Kritik.

Ein Ausgangspunkt für Fuchs’ Konzept der digitalen Arbeit ist das Konzept der immateriellen Arbeit. Dieses wurde von italienischen Autonomen wie Lazzarato, Hardt und Negri in jüngsten Diskussionen auf die Tagesordnung gesetzt – obwohl das Konzept selbst viel älter ist – und wurde zur Grundlage ihrer Kritik an Marx. Lazzarato definiert immaterielle Arbeit als „Arbeit, die den informatischen und kulturellen Inhalt der Ware produziert“[3]. Hardt und Negri übernehmen diese Definition und verwenden sie als Trittbrett für ihre eigene Marx-Kritik. Nach Hardt und Negri ist immaterielle Arbeit „ein immaterielles Produkt wie Information, Informatik, Kommunikation oder eine sinnliche Reaktion“[4]. Obwohl sie in ihrem Buch Empire[5] immaterielle Arbeit in 1) „informatisierte“ industrielle Produktion im Zusammenhang mit „Kommunikationstechnologien“, 2) „analytische und symbolische Aufgaben“ und 3) „Wirkungserzeugung und Manipulation“ unterteilen, streichen sie in ihrem Buch Multitude [6] die erste Art von immaterieller Arbeit (informatisierte Industrie) aus dieser Aufreihung. Nach Fuchs ist das Konzept des „Immateriellen“ irreführend, weil es die Welt in eine dualistische Substanzunterscheidung zwischen Materiellem und Immateriellem führt[7]. Als Folge dieser Dualität werden geistige Arbeit, Gedanken, Wissen und Informatik von Natur und Materie getrennt. „In einer materialistischen Philosophie ist die ganze Welt materiell“, sagt Fuchs[8].

In Bezug auf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Benutzeraktivitäten auf Social-Media-Plattformen und der Internetökonomie macht Fuchs seinen ersten Schritt durch die Ablehnung des Konzepts des „Immateriellen“. Sein zweiter Schritt lautet wie folgt: Internetnutzer produzieren durch Benutzeraktivitäten auf digitalen Medienplattformen Wert; und zwar ihre Nutzerdaten und Profilstatistiken. Diese Informationen werden von Medienplattformen an Werbeunternehmen verkauft – so verwandeln sie den von Nutzern produzierten Wert in Gewinn. Da Nutzer von Medienplattformen für ihre Benutzeraktivitäten keine Gebühr erhalten, produzieren sie Wert bei gleichzeitiger „unendlicher Ausbeutung“[9].

Einige Theoretiker argumentieren angesichts dieser Behauptung von Fuchs, dass eine marxistische Theorie der digitalen Medien von Anfang an zum Scheitern verurteilt sei, da Marx’ Werttheorie nur teilweise mit Social-Media-Plattformen in Verbindung gebracht werden könne. Sie behaupten, dass der Gewinn des neuen digitalen Mediums nicht aus dem „Verkauf der Ware“, sondern aus der „Zuweisung und Verteilung von Wert“ im Finanzsektor stammt[10]. Die Priorität liegt nicht bei der Wertschöpfung, sondern bei der finanziellen Rendite. Eine andere Meinung betont den teilweisen Einfluss der Zeit, die ein Benutzer im Internet verbringt, auf die Anzeige virtueller Werbung; je mehr Zeit ein Benutzer in sozialen Medien verbringt, desto mehr Informationen können über ihn gesammelt werden; als Ergebnis können Werbeunternehmen mehr Material für die Entwicklung von Strategien für ihre Zielgruppe erhalten. Die Popularität einer virtuellen Medienplattform führt dazu, dass sie sowohl von Nutzern als auch von Werbeunternehmen bevorzugt wird, weshalb digitale Arbeit „Gewinnsteigerung“ und „finanzielle Aufwertung“ bedeutet. Nach einer dritten Meinung sollte die Quelle des im digitalen Raum zirkulierenden Wertes nicht im Web 2.0, sondern im Handelskapital der Werbebranche gesucht werden[12]. Nach einer vierten Meinung ist Fuchs’ Ausbeutungstheorie „in gewisser Weise“ richtig, aber Marx’ Konzepte von Arbeit und Wert haben in der Internetökonomie keine Entsprechung[13]. Schließlich ist nach einer fünften Meinung Fuchs’ Ausbeutungsthese völlig falsch, weil die Nutzer keinen Wert schaffen; der „kostenlose“ Zugang zu digitalen Medien ist eine Illusion und deren finanzielle Quelle sollte tatsächlich in den Aktivitäten der Werbebranche in den digitalen Medien gesucht werden[14]. Wie man sieht, basieren einige der Einwände gegen Fuchs auf der These, dass Marx’ Arbeitswerttheorie nicht an die heutigen Bedingungen angepasst werden kann, während andere das Problem eher in Fuchs’ eigener These der „unendlichen Ausbeutung“ sehen. Angesichts dieser Kritiken wehrt sich Fuchs einerseits gegen Versuche, die Aktualität von Marx in Bezug auf die heutigen Entwicklungen in Medien und Informationstechnologie zu untergraben, denn das Problem sei nicht nur theoretisch, sondern auch ideologisch; andererseits argumentiert er, dass die marxistische politische Ökonomie neue technische Entwicklungen mit Konzepten wie „unendlicher Ausbeutung“ usw. aufgreifen solle. Wie wir unten zeigen werden, enthalten Fuchs’ neue oder eigene Theorien viele Inkonsistenzen.

IMMATERIELLE ARBEIT BEI MARX

Beginnen wir mit immaterieller Arbeit und der damit verbundenen geistigen Arbeit. Marx gibt ein Beispiel: „Was den schlechtesten Architekten von den besten Bienen unterscheidet, ist dies: Der Architekt stellt sich das Gebäude in seiner Vorstellungskraft vor, bevor er es in der realen Welt aufstellt.“[15] Jede Art von Arbeit ist Teil des Prozesses, der einen Rohstoff in ein Endprodukt umwandelt. Diese Tätigkeit erfordert unweigerlich geistige Arbeit.

Marx’ Theorien über den Mehrwert bieten eine reiche Quelle zum Arbeitsprozess sowie materieller/nicht-materieller und geistiger Arbeit. Hier übernimmt Marx das Konzept der immateriellen Produktion und verwendet Begriffe wie „geistige Arbeit“, „geistiger Arbeiter“ und „geistige Produktion“ synonym mit „immaterieller“ Arbeit, Arbeiter und Produktion[16]. Nach Marx umfasst die immaterielle Produktion, die geistige Arbeit verwendet, unter anderem folgende Arbeitsbereiche: Schauspieler, Soldaten, Anwälte, Wissenschaftler, Staatsbeamte, Ärzte, Richter, Diener, Ökonomen, Künstler, Polizisten, Professoren, Lehrer, Schriftsteller usw. Darüber hinaus betont er, dass alle Arten von Arbeit, einschließlich immaterieller oder geistiger Arbeit, ein materielles Produkt hervorbringen[17]. Marx unterteilt die „immaterielle Produktion“ im kapitalistischen Produktionsmodus in zwei Typen. Der erste besteht aus „verkäuflichen Waren“; zum Beispiel „Bücher, Bilder, kurz gesagt alle Produkte künstlerischer Schöpfung“[18]. Der zweite Typ der immateriellen Produktion findet in der produktiven Arbeit eines geistigen Arbeiters statt. In der kapitalistischen Produktionsweise unterteilt Marx geistige Arbeit in produktive und unproduktive. Er nennt Arbeit, die in direkter Austauschbeziehung mit Kapital steht und durch die Produktion von Wert und Mehrwert Kapital produziert, „produktiv“; die, die keine direkte Austauschbeziehung mit Kapital hat und kein Kapital produziert, „unproduktiv“. Ein Lehrer an einer Privatschule zum Beispiel ist als Lohnarbeiter in einer produktiven Arbeits-Kapital-Beziehung mit dem Eigentümer der Einrichtung tätig, aber in Bezug auf seine Beziehung zu seinen Schülern ist er ein unproduktiver Arbeiter. Ebenso leistet ein Schauspieler in einem Privattheater produktive Arbeit in seiner Austauschbeziehung mit dem Theaterbesitzer; in seiner Beziehung zu seinem Publikum, wo dieser Austausch nicht vorhanden ist, leistet er unproduktive Arbeit.

Die gesellschaftliche Produktion selbst ist materiell. Bei der Unterteilung der Produktion in materiell und nicht-materiell betont Marx die reinen Erscheinungsformen von Produkten (Kunst, Literatur, Theater, Bildung usw.), die auf geistiger oder Kopfarbeit basieren. Jede Sache (Gefühl, Gedanke usw.), die nicht greifbar ist und uns im Vergleich zu anderen greifbaren Objekten (Tisch, Stuhl usw.) wirkt auf uns rein von ihrer Erscheinung her als „nicht-materiell“. Die „Immaterialität“ von immaterieller Arbeit und Produktion weist auf diese Erscheinung hin. Mit anderen Worten: Die Gesellschaftlichkeit und Geschichtlichkeit von Arbeit und Produktion wird durch Materialität ausgedrückt; die Erscheinungsformen, in denen sie uns präsentiert werden, ändern diese Tatsache nicht. Aber ausgehend von diesen Erscheinungsformen haben einige politische Ökonomen – nicht nur heute, sondern auch zu Marx’ Zeiten und sogar davor – geschlossen, dass ein anderes ökonomisches Prinzip entwickelt werden muss, das ausschließlich auf „nicht-materieller“, geistiger Arbeit basiert. Fuchs ist sich dieser Unterscheidung zwischen materieller und immaterieller Arbeit bei Marx nicht bewusst. Aber im Kontext des von dieser Unterscheidung berührten Problems stellt Fuchs die Frage: Können wir in einer rein materiellen Welt vom  Immateriellen sprechen? Diese Frage kann nur dialektisch beantwortet werden.

Im Gegensatz zu Fuchs betrachtet Marx die Welt als Ganzes aus den verschiedenen Formen und Reflexionen der Materie in unterschiedlichen Stadien. Die Realität, in der wir leben, ist in jeder Phase und auf jedem Gebiet materiell; Objekte, Ereignisse und Phänomene (Fantasie, Traum, Plan, Vorstellung usw.), die uns hinsichtlich ihrer Erscheinungsformen und/oder unsere Sinne als „nicht-materiell“ erscheinen, sind neurologische und physiologische Aktivitäten. Diese Art von geistiger Aktivität, die in jeder Arbeit und Produktion vorhanden ist, kann im Gegensatz zu physischen Objekten weder berührt noch gesehen werden. Die Produkte geistiger Arbeit sind „eine Erweiterung des menschlichen Muskel-, Nerven- und Gehirnsystems“.[19] Ebenso hat die virtuelle Realität des Cyberspace ein immaterielles Aussehen. Aber sie sind im Kontext ihrer elektromagnetischen Wellen und cyber-optischen Physik materiell.

Italienische Autonome wie Lazzarato, Hardt und Negri definieren immaterielle Arbeit eher im Kontext ihrer gesellschaftlichen und technischen Rolle im kapitalistischen Produktionsprozess als in Bezug auf ihr Produkt. Die Immaterialität der nicht-materiellen Arbeit, so die These, kommt von der Immaterialität des produzierten Produkts. Da das Produkt nicht materiell ist, sind auch die Arbeit und der Produktionsprozess, die es produzieren, nicht materiell. Die Immaterialität der Arbeit bezieht sich hier nicht auf den gesellschaftlichen Charakter des Arbeitsprodukts, sondern auf seine physischen Eigenschaften. In Marx’ Verständnis wird die Immaterialität jedoch nicht als eine spezifische, für den Produktionsprozess sekundäre Substanz behandelt, sondern als Erscheinungsform der materiellen Produktion und der gesellschaftlichen Beziehungen, die für den Produktionsprozess spezifisch sind.

SACHLICHE TÄTIGKEIT UND PRODUKTIVE ARBEIT

Fuchs geht davon aus, dass die Aktivität des Internetnutzers einen unbewussten Produktionsprozess darstellt. Produktivität bedeutet für ihn, dass Benutzer Wert für das Kapital schaffen. Auf den ersten Blick scheint dies der Definition von produktiver Arbeit von Marx zu entsprechen. Im kapitalistischen Produktionsmodus unterscheidet sich produktive Arbeit von unproduktiver Arbeit dadurch, dass sie in unmittelbarer Beziehung zum Kapital steht und es bereichert. Es ist jedoch genau dieser Ansatz von Fuchs, der verhindert, dass er die Aktivität von Internetnutzern als produktive Arbeit definiert, denn die Beziehung zwischen produktiver Arbeit und Kapital ist eine unmittelbare Austauschbeziehung. Zwischen den Nutzern und den Bossen der digitalen Medien gibt es keine unmittelbare Austauschbeziehung; diese Art von Beziehung besteht zwischen (bezahlten) Medienmitarbeitern und Kapitaleignern. Ausgehend von Marx können wir sagen, dass es keine produktive Arbeitsbeziehung zwischen Medienbenutzern und Unternehmen gibt. Aber können statistische Profilinformationen über Benutzer, die gesammelt und an Dritte verkauft werden, als Ware bezeichnet werden?

Marx gibt einige Beispiele, die zur Lösung dieses Problems geeignet sind. Diese beziehen sich auf den Rohstoff der materiellen Produktion. Da Mediennutzerinformationen nach Fuchs der Rohstoff des in der Medienökonomie produzierten Werts sind, muss man sich ansehen, wie bei Marx Rohstoffe (z.B. natürliche Ressourcen) und Wertproduktion verstanden werden. Auf natürliche Ressourcen wie Dampf oder Wasser können Kapitalisten kostenlos zugreifen. So wie der Mensch zum Atmen Luft braucht, braucht der Kapitalist „ein ‚Gebild von Menschenhand‘, um Naturkräfte produktiv zu konsumieren“[20]. Zum Beispiel ist ein Wasserrad „nötig, um die Bewegungskraft des Wassers, eine Dampfmaschine, um die Elastizität des Dampfs auszubeuten“[21]. Der Wert wird hier nicht durch die natürliche Ressource erzeugt, sondern durch die menschliche Arbeit, die in diese natürliche Ressource eingreift, sie verändert und transformiert und sie bearbeitet. In diesem Produktionsprozess werden auch Maschinen verwendet; aber sie erzeugen keinen Wert, sondern übertragen nur ihren eigenen Wert auf die produzierten Produkte [22].

Digitale Medien sind ein Ganzes, bestehend aus Software und Hardware, Cyberspace und Medienmitarbeitern mit einem algorithmischen System und einer Kette von kollektiven Arbeitsmechanismen. Ausgehend von Marx‘ Theorie setzt die Summe der kommerzialisierten Nutzerdaten zunächst einen Arbeitsprozess voraus, der eine riesige Menge an Informationen als Rohstoff verarbeitet, d.h. rohe Nutzerdaten (vor dem Verkauf an Dritte) in ein Produkt verwandelt, das verschiedenen Interessen dienen kann. Zweitens muss man produktive Arbeit nicht in der kostenlosen Benutzeraktivität suchen, sondern in der Arbeitskraft, die die verwendete Software, Hardware und Cyberspaces überhaupt produziert hat, und in den Medienunternehmen, in denen sie realisiert wurde. Und schließlich darf man nicht übersehen, dass all diese Software, Hardware, Cyberspaces, algorithmischen Systeme und elektronischen Maschinen allein keinen Wert erzeugen, sondern nur ihren eigenen Wert auf das übertragen, was auch immer produziert wird, aber letztendlich nur bezahlte Arbeit in unmittelbarer Austauschbeziehung mit dem Kapital Wert erzeugt [23].

NUTZERDATEN ALS WARE

Fuchs behauptet, dass Nutzerdaten zu einem bestimmten Preis als Ware an Werbeunternehmen verkauft werden. Der Wert, den dieser Preis ausdrückt, ist größer als das investierte konstante und variable Kapital. Laut Fuchs wird der in dieser Ware vorhandene Mehrwert von Mediennutzern und -mitarbeitern erzeugt. „Der Unterschied besteht darin, dass den Benutzern keine Zahlung geleistet wird und sie daher unendlich ausgebeutet werden“ [24]. Wir haben bereits erwähnt, dass Nutzeraktivitäten nach Marx keinen Wert erzeugen können. Aber hier taucht eine andere Frage auf: Da Nutzerdaten gehandelt werden, können sie als Ware bezeichnet werden. Doch wann werden Nutzerdaten zu einer Ware? Als Rohstoff, d.h. bevor sie von algorithmischen Systemen in verwendbare Informationen umgewandelt werden oder danach? Fuchs ist in dieser Hinsicht unklar. Einerseits sagt Fuchs, dass digitale Medien „alle persönlichen Informationen und Benutzerverhaltensweisen sammeln und beide vermarkten“, andererseits behauptet er, dass Benutzeraktivität bereits produktive Arbeit ist. Dann sind Benutzerdaten bereits vor der Umwandlung in verwendbare Informationen eine Ware. Das heißt, Fuchs’ zweite These widerspricht seiner These über den Prozess, in dem Nutzerdaten „kommodifiziert“ werden [25].

Im Gegensatz zur Benutzeraktivität im Internet verkauft ein Arbeiter seine Arbeitskraft als Ware an den Kapitalisten. Der Arbeitsprozess des Arbeiters setzt sich zusammen aus dem Wert, der dem Wert seiner Arbeit entspricht, und dem Mehrwert, den er produziert hat, obwohl er dafür keine Vergütung erhalten hat. Wenn die Mediennutzeraktivität bereits Wert erzeugt, dann macht dies die rohen Nutzerdaten zur Ware. Wenn Nutzerdaten von relevanten algorithmischen Systemen „kommodifiziert“ werden, dann sind Nutzerdaten vor diesem Prozess keine Ware. Denn Fuchs glaubt, den größten Skandal in der Geschichte der Menschheit entdeckt zu haben (unendliche Ausbeutung) und begnügt sich mit der Betonung, dass die Quelle der Wertschöpfung Mediennutzer sind.

FUCHS GEGEN MARX

Einige amateurhafte Berechnungen von Fuchs erwecken den Eindruck, dass die Beziehung zwischen digitaler Wertschöpfung und den Gewinnraten von Medienunternehmen auch arithmetisch nachgewiesen werden kann [26]. Bei näherer Betrachtung besteht Fuchs’ Berechnung jedoch lediglich aus Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division der Marktanteile und Nutzerzahlen verschiedener großer Medienunternehmen. Das ist die Grundlage, von der aus Fuchs versuchen wird, die Wertschöpfung pro Nutzer zu beweisen! Zunächst muss gesagt werden: Die Multiplikation der Zeit, die Benutzer auf der Medienplattform verbringen, mit der Anzahl der Benutzer, beweist Fuchs’ Ausbeutungsthese nicht. Darüber hinaus besteht die Ausbeutungsthese darauf, dass die Quelle des Gewinns von Medienunternehmen (Arbeitgeber-Arbeiter, Finanzen, Werbebranche) die Benutzer selbst sind, anstatt die eigentlichen Quellen zu identifizieren. Das heißt, im Namen des Marxismus verdreht Fuchs die Quelle des Werts durch falsche Konzeptdefinitionen und arithmetische Quacksalberei. Zu Themen wie Unternehmenswert, finanziellen Renditen usw., die von Fuchs’ Kritikern bereits angebracht worden sind, hat dieser sich nicht geäußert.

Weiter. Mehrere Aspekte von Fuchs’ Ausbeutungsthese stehen im Widerspruch zu Marx’ Ausbeutungsrate und Krisentheorie. Bei Marx wird die Ausbeutungsrate als Verhältnis des produzierten Mehrwerts zum variablen Kapital definiert:  . Im Gegensatz dazu ist das feste Kapital das Geldkapital, das zur Beschaffung von Produktionsmitteln wie Maschinen verwendet wird. Laut Fuchs führen Internetnutzer eine neue Art von produktiver Arbeit aus, da sie keinen Lohn erhalten und trotzdem, ja sogar als Ergebnis davon einen großen Teil des im digitalen Zeitalter zirkulierenden Werts produzieren. Demnach erzeugt digitale produktive Arbeit Mehrwert, aber ihr variables Kapital ist gleich Null. Deshalb spricht Fuchs von unendlicher Ausbeutung. Zunächst gibt es keine arithmetische Entsprechung für eine solche Gleichung. Ein Bruch mit einem Nenner von Null kann nicht definiert werden [27]. Zweitens versucht Fuchs anscheinend eine Lösung für dieses Problem zu finden: variables Kapital, das bezahlte Arbeitnehmer in Medienunternehmen repräsentiert, und unbezahlte Nutzungsarbeit von ausgebeuteten Internetnutzern. Fuchs’ Formel lautet wie folgt:  [28]. Diese Formel scheint das Problem des Nullnenners zu lösen, aber sie widerspricht der These der vermeintlichen Wertschöpfung durch Nutzer. Selbst wenn man annimmt, dass Nutzer Wert schaffen, kann die Wertschöpfung durch Nutzer nicht getrennt von dem Mehrwert berechnet werden, den bezahlte Medienarbeiter produzieren. Im Gegenteil: Wenn Nutzer tatsächlich Wert schaffen würden, wäre dies eine Ergänzung zum bereits produzierten Wert; aber laut Fuchs ist das Gegenteil der Fall: Die Hauptquelle des Werts sind Internetnutzer, nicht Medienarbeiter. Untersuchen wir nun, wie diese Behauptung mit Marx’ Tendenz zum Rückgang der Profitraten und den Auswirkungen auf Überproduktionskrisen zusammenhängt.

Bei Marx wird die Profitrate als prozentuales Verhältnis des Mehrwerts zur Summe aus festem und variablem Kapital definiert:
°[29]. Laut Fuchs’ Ausbeutungsthese erklärt das durch unbezahlte Arbeit von Internetnutzern auf null reduzierte, variable Kapital und die dadurch maximale Mehrwertproduktion, wie Unternehmen so viel Gewinn machen können. Dies bedeutet, dass Medienunternehmen so viel Wasser in ihre Mühlen tragen können, wie sie wollen, solange sie kostenlose Internetnutzerarbeit haben, und dass ihre Profitraten niemals sinken werden. Im Gegensatz dazu betont Marx, dass die Profitraten nach einer gewissen Zeit sinken und dass dies eine besondere Ausdrucksform der kapitalistischen Produktionsweise ist [30].

Schließlich die Krise. Nehmen wir an, dass Medienbenutzer tatsächlich Wert schaffen, dafür keine Vergütung erhalten und daher unendlich ausgebeutet werden. Kann in diesem Fall von Überproduktion oder unzureichendem Verbrauch von Wert oder Ware gesprochen werden? Wenn dem so wäre, müsste Fuchs dafür eintreten, dass Marx’ Wirtschaftsgesetze im Kontext der digitalen Medienökonomieüberarbeitet werden müssen. Das Dilemma, dem Fuchs gegenübersteht, kann wie folgt zusammengefasst werden: Entweder ist Fuchs’ Behauptung der unendlichen Ausbeutung wahr – aber dann müsste er selbst Marx’ gesamte politische Ökonomie neu schreiben, was der Tendenz der italienischen Autonomen entspricht, gegen die er sich zunächst gewandt hat – oder Fuchs gibt diese Behauptung auf. Es ist wiederum unwahrscheinlich, dass Fuchs von seiner „marxistischen“ Medientheorie abrücken wird, auch wenn deren grundlegende Behauptungen fast alle im Widerspruch zu Marx stehen: Was Fuchs ausmacht, sind eben seine exzentrischen Behauptungen und die auf ihnen fußenden unzähligen Veröffentlichungen.

FAZIT

Es mag überraschen, dass Fuchs, während er versucht, Marx’ Theorie auf die Internetökonomie anzuwenden, eine Theorie entwickeln kann, die im Widerspruch zu Marx’ grundlegenden ökonomischen Gesetzen steht. In gewisser Weise könnten die Fehler, die Fuchs hier oder da in den abstrakt-konzeptuellen Bereichen der Theorie gemacht hat, oder die Sackgassen, in die er geraten ist, als „rein theoretische Fehler“ bezeichnet werden; aber Fuchs will dies auch mit einem neu gefundenen Slogan verbinden: „Alle digitalen Arbeiter der Welt, vereinigt euch!“[31] Obwohl die Botschaft dieses Slogans auf den ersten Blick an Marx erinnert, ist der Inhalt der Thesen, wie bereits erwähnt, Marx völlig fremd.

Die Quelle des Problems liegt in Fuchs’ größtem theoretischem Bemühen, das auch seine inkonsistenteste Seite ist: die endlose Ausbeutung von Internetnutzern. Hier stehen uns zwei Möglichkeiten zur Verfügung: Entweder wird die NetSlaves-These weiterhin verteidigt oder vollständig aufgegeben. Obwohl es unwahrscheinlich ist, dass Fuchs die zweite Option wählt, gibt es keinen Grund für uns, diese Ausbeutungsthese zu verteidigen.

Abgesehen davon ist es jedoch sinnvoll, Fuchs’ folgende Fragen zu berücksichtigen: Ist ein nicht-kommerzielles Internet möglich? Kann ein internationaler digitaler Überwachungsmechanismus für alle Nutzerdaten und Finanztransaktionen von Medienunternehmen eingerichtet werden? Welche Praktiken können für ein transparenteres Informationsnetz und Betreibersystem in Betracht gezogen werden? Diese Liste von Fragen könnte verlängert werden; aber wenn es einen Punkt gibt, der nicht enthalten sein sollte, dann ist es das Problem der unbegrenzten Ausbeutung.

 

[1] Für eine tiefere Diskussion dieses Themas siehe: Kaan Kangal. 2016. “The Karl Marx Problem in Contemporary New Media Economy: A Critique of Christian Fuchs’ Account” Television & New Media 17 (5), S. 416 ff.

[2] Die Schwarzen Hefte sind der Name der Tagebücher, die Heideggers faschistische Identität in ihrer reinsten Nacktheit offenbaren.

[3] Maurizio Lazzarato, 1996. “Immaterial Labor.” In Radical Thought in Italy: A Potential Politics, editiert durch Paolo Virno und Michael Hardt, 133–50. Minneapolis: University of Minnesota Press, S. 143 f.

[4] Michael Hardt und Antonio Negri. 2004. Multitude: War and Democracy in the Age of Empire. New York: The Penguin Press, S. 108.

[5] Michael Hardt und Antonio Negri. 2000. Empire. Cambridge: Harvard University Press, S. 293.

[6] Michael Hardt und Antonio Negri. 2004. Multitude: War and Democracy in the Age of Empire. New York: The Penguin Press, S. 108.

[7] Christian Fuchs. 2014. Digital Labour and Karl Marx. New York: Routledge, S. 252.

[8] ebd., S. 362.

[9] Christian Fuchs. 2010. “Labor in Informational Capitalism and on the Internet.” The Information Society 26, S. 188; Christian Fuchs. 2012. “The Political Economy of Privacy on Facebook.” Television & New Media 13 (2), 141; Christian Fuchs. 2014. Digital Labour and Karl Marx. New York: Routledge, 102; 2015, S. 67–68.

[10] Adam Arvidsson und Elanor Colleoni. 2012. “Value in Informational Capitalism and on the Internet.” The Information Society 28, S. 136.

[11] Mark Andrejevic. 2015. “Personal Data: Blind Spot of the ‘Affective Law of Value?’” The Information Society 31, S. 6 f.

[12] Bruce Robinson. 2015. “With a Different Marx: Value and the Contradictions of Web 2.0 Capitalism.” The Information Society 31, S. 50.

[13] Dal Yong Jin und Andrew Feenberg. 2015. “Commodity and Community in Social Networking: Marx and the Monetization of User-Generated Content.” The Information Society 31, S. 53, 57.

[14] César R. S. Bolaño und Eloy S. Vieira. 2015. “The Political Economy of the Internet: Social Networking Sites and a Reply to Fuchs.” Television & New Media 16 (1), S. 57 f.

[15] Karl Marx. 1996. “Capital: A Critique of Political Economy. Volume I.” Quelle: Karl Marx und Friedrich Engels, Collected Works. Vol. 35. Moskau: Progress Publishers, S. 188.

[16] Karl Marx. 1965. “Theorien über den Mehrwert” Werke 26.1. Berlin: Dietz, S. 146, 152, 181–82, 240, 256–58, 329, 385–86; Siehe auch. Karl Marx. 1962. “Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Buch I: Der Produktionsprozeß des Kapitals”, Werke 23. Berlin: Dietz, S. 382, 674.

[17] Siehe ebenso Kaan Kangal. 2017. “Sean Sayers’ Concept of Immaterial Labor and The Information Economy” Science & Society 81 (1): S. 124-132; Sean Sayers. 2017. “Immaterial Labor and The Information Economy: Reply” Science & Society 81 (1): S. 133-136. Ausgehend von der Immaterialität als Erscheinungsform schließt Marx im Gegensatz zu autonomen Interpreten nicht, dass es eine soziale Klasse gibt, in der diese Immaterialität verkörpert ist. Darüber hinaus ist die scheinbare Immaterialität von Arbeit, Produktion und produziertem Produkt kein Kriterium dafür, ob Arbeit wertbildend oder nicht wertbildend ist. Daher ist es inkonsistent, zu dem Schluss zu kommen, dass die Subjekte, die in materielle oder immaterielle Arbeit, Produktion und Produkte eingreifen, verschiedenen Klassen angehören.

[18] Karl Marx. 1965. “Theorien über den Mehrwert” Werke. 26.1. Berlin: Dietz, S. 385 f.

[19] Marx, Karl. 1987. “Economic Works 1857–1861.” Quelle: Karl Marx und Friedrich Engels, Collected Works. Vol. 29, Moskau: Progress Publishers, S. 272.

[20] Karl Marx. 1962. “Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Buch I: Der Produktionsprozeß des Kapitals”, Werke 23. Berlin: Dietz, 407.

[21] Ebd., S. 407.

[22] Ebd., S. 308.

[23] Es ist erwähnenswert, dass in der unmittelbaren Austauschbeziehung zwischen Kapital und Arbeit das, was produktive Arbeit von unproduktiver Arbeit unterscheidet, darin besteht, dass Arbeit Kapital unmittelbar produziert (vermehrt, bereichert). Zum Beispiel gibt es bei einer einmaligen Maschinenreparatur in einer Fabrik oder bei der Reparatur des Bühnenbodens im Theater durch Handwerker zwischen den Fabrik- oder Theaterbesitzern und den Handwerkern wieder einen Geldwechsel, aber die hier aufgewendete Arbeit produziert das Kapital nicht unmittelbar; daher ist es unproduktive Arbeit.

[24] Christian Fuchs. 2012. “The Political Economy of Privacy on Facebook.” Television & New Media13 (2), S. 143

[25] Christian Fuchs. 2010. “Labor in Informational Capitalism and on the Internet.” The Information Society 26, S. 147.

[26] Christian Fuchs. 2015. “Against Divisiveness: Digital Workers of the World Unite! A Rejoinder to César Bolaño.” Television & New Media 16 (1), S. 67–69.

[27] Hierauf verweist auch Andrejevic. Siehe Mark Andrejevic. 2015. “Personal Data: Blind Spot of the ‘Affective Law of Value?’” The Information Society 31, S. 9.

[28] Christian Fuchs. 2012. “The Political Economy of Privacy on Facebook.” Television & New Media13 (2), S. 145.

[29] Karl Marx. 1965. “Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. Buch III: Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion“ Quelle: Werke. 25, Berlin: Dietz, S. 251.

[30] Ebd., S: 223

[31] Christian Fuchs. 2015. “Against Divisiveness: Digital Workers of the World Unite! A Rejoinder to César Bolaño.” Television & New Media 16 (1): S. 62 ff.