Notizen über die Dilemmas der gegenwärtigen kapitalistischen Welt

Übersetzt aus dem Türkischen.

Ahmet Cengiz

Seit einigen Jahren befindet sich die kapitalistische Welt mit ihrer Wirtschaft, ihrer sozialen und politischen Lage sowie ihrer internationalen Ordnung und Beziehungen in einem Wust von unterschiedlichen Krisen und Problemen. Fast nichts lässt sich in diesem Wust vermissen:  Pandemie, stockende Lieferketten, Ukraine-Krieg, Sanktionen in ungeahntem Umfang, Wirtschafts-, Technologie- und Cyberkriege, wiedererstarkender Militarismus und eine neue Aufrüstungswelle, Energiekrise, Angebotsschocks, neue Migrationswellen, Lebensmittelkrise, große Zuwächse an Hungernden[1], zunehmende Dürrefälle, tausende Leben fordernde Überflutungen, Waldvernichtung und -brände, insgesamt die Klima- und Umweltkrise, zweistellige Inflationszahlen in fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern, die Unhaltbarkeit der Nullzinspolitik, ernsthafte Wertverluste an den Börsen, Rückgang des Wirtschaftswachstums, sich überflügelnde Staatsschulden, am Horizont erscheinende Rezession und steigende Wahrscheinlichkeit einer ökonomischen Krise, politische Krisen, Erosion der „Mittelschicht“ in „Wohlstandsgesellschaften“, Wohnungskrisen, wachsende Armut, Unsicherheit, Lebenshaltungsprobleme und auf die Straße getragene Unmut, Streiks und Rebellionen… Dieses „multiple Krisenumfeld“[2], dieser Wust an Problemen, entwickelt sich mit jedem Tag mehr zu einem gordischen Knoten – von Lösungen ganz zu schweigen. Dieser Verknotungsprozess der Widersprüche des kapitalistisch imperialistischen Systems, dieses Anomie aufzeigende Lagebild, verschärft natürlicherweise die Zukunftsängste unter den Massen und Völkern. Dabei beschränkt sich die wachsende Sorge und Beunruhigung nicht nur auf Existenzprobleme, denn die Menschen werden auch Zeuge der Diskussionen um den Einsatz von taktischen Nuklearwaffen im Ukraine-Krieg. In der aktuellen Lage liegt das Weltkriegsrisiko für eine breite Schicht nicht mehr in weiter Ferne.

Aus bürgerlicher Sicht wird als Grund für diese Lage generell die Covid-19 Pandemie sowie der Angriff Russlands gegen die Ukraine genannt. Die US-Finanzministerin Yellen behauptet beispielsweise, dass „der Grund für die meisten Problemlagen [in der Weltwirtschaft] in Russlands Krieg in der Ukraine sowie der Covid-19 Pandemie“ liege.[3]Bundeskanzler Scholz wiederum hat bei seiner ersten Bundestagsrede nach dem Angriff Russlands gegen die Ukraine von einer „Zeitenwende“, gesprochen. Bundespräsident Steinmeier bezeichnete den Angriff Russlands gegen die Ukraine bei einer Rede vom 28. Oktober als „Epochenbruch“: „Er hat auch uns […] in eine andere Zeit […] gestürzt: eine Zeit, gezeichnet von Krieg, Gewalt und Flucht, von Sorge vor der Ausbreitung des Krieges zum Flächenbrand in Europa.“ Steinmeier erwähnte, dass „das Ringen um Dominanz“ stetig zunehme und „die traurige Wahrheit“ folgendes sei: „Es kommen härtere Jahre, raue Jahre auf uns zu. Die Friedensdividende ist aufgezehrt. Es beginnt für Deutschland eine Epoche im Gegenwind.“[4] Beim 20. Parteitag der KPCh rief Xi Jinping in seiner Eröffnungsrede zum einen das Volk dazu auf, sich „auf die schlimmsten Fälle vorzubereiten“ (gleichfalls stimmte er in Anbetracht geringer Wachstumszahlen die Gesellschaft in seinen Reden vor dem Parteitag auf Genügsamkeit ein), zum anderen erklärte er, dass auf internationaler Ebene „globale Veränderungen, wie sie in einem Jahrhundert nicht gesehen worden sind“, auftreten würden und „gefährliche Stürme“ vor China stünden. Laut Papst Franziskus wiederum, der es als Fehler sieht, den Ukraine-Krieg als einen „Cowboy-Film“ zu betrachten, „in dem es gute und böse Jungs gibt“, handele es sich nicht nur „um einen Krieg zwischen Russland und der Ukraine“„Nein, das ist ein Weltkrieg!“

Zugleich überschlagen sich in den Print- und Rundfunkmedien (in fast allen fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern!) Nachrichten und Programme über die „Weltordnung“; Podiumsdiskussionen mit Militärexperten, Politikern und Akademikern der internationalen Beziehungen folgen aufeinander und neue Bücher zu diesem Thema stapeln sich. Ihr gemeinsamer Nenner: es braucht eine neue Weltordnung! „Die geopolitische Neuordnung der Welt“[5] ist nun Pflicht, unausweichlich gar! Unklar ist, wer sich in dieser „Neuordnung“ wo und wie positionieren und was für eine Rolle spielen können wird.

Die Zeichen weisen auf ein Abklingen des mit dem „Globalisierungswahn“ geformten und der Welt übergestülpten „globalen Optimismus“ hin. Die Entwicklung lässt die Normalität vermissen. Der Umfang und das Tempo der Entwicklungen fordern das von der Monopolbourgeoisie auf dem „Sieg über den Kommunismus“ errichtete Flussbett heraus. Und die Kämpfe zwischen den Klassen neigen sich allmählich einem Stadium zu, das nicht mehr in das aus dem Stoff des „historischen Sieges“ des Kapitals genähten Korsett passt und unruhig und komplex ist und von dem unklar ist, wo es auftreten wird…

Ohne Zweifel muss in diesem „multiplen Krisenumfeld“ unterschieden werden, was darin konjunkturell ist und was nicht. Andernfalls können weder die eigentliche Besonderheit der neuen Phase noch die Entwicklungen, mit der sie schwanger geht, richtig verstanden werden. Diese Differenzierung vorausgesetzt kann gesagt werden, dass weder die große Pandemie noch der Ukraine-Krieg der eigentliche Grund für diesen Zustand der kapitalistischen Welt ist. Jedoch wirken sie auf den benannten Zustand wie ein Brandbeschleuniger, dahingehend nämlich, dass sie die Lösungsmöglichkeiten für diesen Problemwust erschweren und diese Erschwerung wiederum zu neuen Dilemmas führt, weil sie bisher handhabbare Probleme sukzessiv unhaltbar machen.

Sowohl die große Pandemie als auch der Ukraine-Krieg sind weder zufällige externe Faktoren noch losgelöst von den für den imperialistischen Kapitalismus charakteristischen Widersprüche, auf die sie nun Einfluss nehmen, aufgetreten. Im Gegenteil, sie sind ihr Produkt. Zweifellos sind viele der als Anzeichen des „multiplen Krisenumfeldes“ angeführten Tatsachen keine Neuerscheinungen. Zu Indikatoren einer neuen Lage macht sie jedoch, dass sie nicht zufällig aufeinandertreffen. Schließlich haben sie sich als ungelöste Probleme in einem bestimmten Zeitraum angehäuft. Doch der Grad dieser Akkumulation hat nun den Spielraum und die Möglichkeiten verengt, die in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht benötigt werden, um mit den dem Kapitalismus innewohnenden Widersprüche zurechtkommen zu können. Diese Verengung wiederum hat die indirekten Beziehungen zwischen den Einzelproblemen zu unmittelbaren gemacht hat und auf diese Weise das (ökonomisch-politische) System selbst als Ganzes in den Fokus gedrängt. Und indem den besagten Indikatoren diese Tendenz innewohnt, kommt es dazu, dass ihre Wechselwirkungen untereinander, Veränderungen in den Klassenkämpfen (wie zwischen Staaten/Monopolen, so auch zwischen einzelnen Klassen) zu einer Notwendigkeit macht. Überprüfung und Änderung der eigenen Linie und der strategischen/taktischen Haltung ist nun ein Gebot der Stunde für alle Teilnehmer des Klassenkampfes.

Diese Schrift hat nicht das Ziel, eine aktuelle Bewertung der Machtkämpfe zwischen den imperialistischen Staaten zu liefern. Vielmehr geht es darum, sowohl auf den Hintergrund der tektonischen Verschiebungen in diesem sich verschärfenden Kampf als auch auf ihre möglichen Resultate aufmerksam zu machen.

Siegestrunkenheit und ernten was man sät

Dass China aufgrund seiner Kapitalakkumulation, Produktionskapazität sowie technologischen Entwicklung als auch seinem Potenzial nach eine die US-Hegemonie bedrohende Entwicklung verzeichnet und zunehmend als „neuer Spielmacher“ eigenständig agiert, während Russland seine ihm zugewiesene Rolle (Tankwart, bleib bei deinen Zapfsäulen!) ablehnt und sich auf seine militärische Kraft stützend versucht, Verlorenes wiederzugewinnen u.ä., also kurz gesagt die heutige internationale „Unordnung“ bzw. „Konfliktordnung“, ist im Kern die Folge des weltweiten Raub- und Beutezuges, der allen voran durch die USA und der imperialistischen Staaten des Westens mit ihrer Monopolbourgeoisie nach dem Sieg über die Sowjetunion in Angriff genommen wurde sowie der dahinterstehenden kapitalistischen politischen Ökonomie. Heute ist der zu seiner Zeit noch „ihren Sieg über den Kommunismus“verkündende westliche Kapitalismus mit Gegensätzen konfrontiert, die er mit siegestrunkenem Ehrgeiz und extremer Selbstsicherheit selbst produziert hat.

So sehr manche auch versuchen, dieses Ergebnis mit einer Logik zu erklären, die geradezu an die in dem Lied „kendim ettim kendim buldum“ („Dieses Elend habe ich mir selbst angetan“ – Anm. d. Übers.) erhobene Mäkelei erinnert, also dieses Resultat als ein Problem der „Naivität“ beziehungsweise „Illusionen der liberalen Demokratie“ oder „Krise des Begriffs der Weltordnung“[6] darstellen, so ist zu unterstreichen, dass der Kern der Sache völlig anderer Natur ist.

Es gibt Ereignisse, deren Wirkungen noch nach ihrem Verschwinden andauern. Zweifellos haben viele Faktoren zum gegenwärtigen Bild der kapitalistischen Welt beigetragen, aber im Weltmaßstab waren die entscheidenden im Wesentlichen wie folgt: Auf der politischen Seite der Wendepunkt 1989/91, d.h. der Zusammenbruch der UdSSR und des Ostblocks und seine Auswirkungen auf die Klassenkämpfe. Auf der wirtschaftlichen Seite die Gegensätze, die vom neuen Regime der internationalen Arbeitsteilung und Kapitalakkumulation hervorgebracht wurden, das durch den „neoliberalen Globalisierungswahn“ der 1990er Jahre geschaffen wurde, sowie die unvermeidlichen „Nebenwirkungen“der Maßnahmen und der Wirtschaftspolitik, die von den imperialistischen Staaten angesichts der Weltwirtschaftskrise 2008/9 und ihrer Folgeschäden ergriffen bzw. verfolgt wurden.

Über die tiefgreifenden Auswirkungen der Wende von 1989/91 auf das Kräfteverhältnis zwischen Arbeit und Kapital (sowie zwischen den unterdrückten Völkern und den imperialistischen Staaten) ist besonders in unserer Zeitschrift viel geschrieben worden. Um hier nicht zu wiederholen, wollen wir kurz eine weitere Angelegenheit anschneiden, die sowohl die politischen/moralischen Auswirkungen dieses historischen Ereignisses auf die Arbeiterklasse und die Völker vergrößerte als auch die Beeinträchtigungen in ihrem Leben erweiterte: Ende der 1970er und Anfang der 80er Jahre wurde in Großbritannien und den USA und später auch in anderen imperialistischen Ländern eine als „Neoliberalismus“bekannte Wirtschaftspolitik eingeführt. Anders gesagt, der Generalangriff des Finanzkapitals auf die Arbeiterbewegung begann lange vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion.[7]

Erinnern wir uns: Reagan sah sich im ersten Jahr seiner Präsidentschaft 1981 mit einem großen Streik konfrontiert. Im August 1981 legten 13 000 Fluglotsen die Arbeit nieder, hauptsächlich für eine Lohnerhöhung und das Recht auf eine Vier- statt Fünf-Tage-Woche. Die Reagan-Regierung reagierte ungewöhnlich hart. Allen, die den Streik nicht innerhalb von 48 Stunden beendeten, wurde mit Entlassung gedroht. Als nur 10 % der öffentlich Bediensteten zur Arbeit zurückkehrten, machte Reagan seine Drohung wahr, entließ auf der Stelle 11 000 Fluglotsen und erteilte ihnen zudem ein lebenslanges Berufsverbot im öffentlichen Dienst! Natürlich beschränkte sich diese harte und aggressive Haltung nicht auf den öffentlichen Sektor. Vielmehr wirkte sie wie ein Schlachtruf, sodass die Chefs in der Privatwirtschaft ebenso begannen, auf die Forderungen der Arbeiter mit der gleichen Härte zu reagieren. In den folgenden Jahren wurde der Arbeiterbewegung in den USA ein schwerer Schlag versetzt. Eine ähnliche Situation ereignete sich 1984 in Thatchers Großbritannien. Der ein ganzes Jahr andauernde Bergarbeiterstreik (Miners‘ Strike) endete mit einer Niederlage. Diese Niederlage führte sowohl zum Triumph der von der Thatcher-Regierung verordneten „neoliberalen“ Wirtschaftspolitik als auch dazu, dass sich die Gewerkschaften, die Thatcher während des Streiks als „innere Feinde“ bezeichnete, sich jahrzehntelang davon nicht erholen konnten.

Um es mit anderen Worten auszudrücken: Der Zusammenbruch der UdSSR fand zu einem Zeitpunkt statt, als die Arbeiterbewegung in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern schwere Schläge zu erleiden begann und schwächer wurde. Diese Konstellation hat dazu geführt, dass der Zusammenbruch der UdSSR insbesondere in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern tiefere Narben in der Arbeiterbewegung hinterlassen hat. Und insofern hat es natürlich das Finanzkapital zusätzlich gestärkt.

Es war natürlich kein Zufall, dass die Arbeiterklasse, insbesondere in den angelsächsischen Ländern, mit diesem Generalangriff konfrontiert wurde, d.h. dass die Monopolbourgeoisie in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern die keynesianische Politik aufgab. Während die keynesianische Politik einerseits dazu beitrug, den durch die Ölkrise von 1974-75 verursachten Konjunktursturz zu überwinden, die Nachfrage durch leicht zugängliche Kredite zu subventionieren und so ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum auf internationaler Ebene zu ermöglichen usw., führte sie andererseits zu einem enormen Anstieg der Verschuldung des öffentlichen und privaten Sektors sowie zu größeren Haushalts- und hohen Leistungsbilanzdefiziten. Diese Politik konnte den Fall der Profitabilität, insbesondere im verarbeitenden Gewerbe, in jenen Jahren nicht verhindern; darüber hinaus führten die lockere Geldpolitik und die Haushaltsdefizite zu einem Anstieg der Inflation. Im Jahr 1978 begann das Leistungsbilanzdefizit sogar, die Stellung des Dollars als internationale Reservewährung zu bedrohen.[8]

Die „goldenen Handschellen“ von Milton Friedman, d.h. Inflationsbekämpfung, „Rückzug“ des Staates aus der Wirtschaft, ausgeglichene Haushalte, Steuersenkungen, „Liberalisierung“ der Märkte, harte Sparpolitik unter dem Deckmantel der „angebotsorientierten Wirtschaft“ usw., waren ein Konzept zur Umkehrung dieser Entwicklung, zur Stärkung des Finanzkapitals, das unter den Bedingungen eines scharfen Wettbewerbs in Zugzwang geriet, sowie zur Senkung der Löhne trotz der Gefahr, dadurch die Arbeitslosigkeit zu erhöhen. Nur wenige Jahre nach dem Übergang zu einer solchen Politik, die auch mit internationalen Entwicklungen wie der Verschärfung des Wettbewerbs in der Weltwirtschaft zusammenhing, wurde nun der Zusammenbruch der UdSSR als historische Bestätigung des „Neoliberalismus“ lanciert. Und bekanntermaßen wurde diese Politik mit den Möglichkeiten, die sich durch die Konstellation dieser Entwicklungen boten, ab den 90er Jahren weltweit umgesetzt bzw. aufoktroyiert.

Bevor wir dieses Zwischenkapitel beenden, noch eine kurze Anmerkung zur Bezeichnung dieser Aggressionspolitik als „Neoliberalismus“: Was heute als „Liberalismus“ bezeichnet wird, hat nichts mit den Ideen der Aufklärung oder dem darauffolgenden klassischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts zu tun. Denn: „Die politischen Ideale des Liberalismus konfrontieren ihn mit den Grenzen seiner eigenen Wirtschaftsweise. Daher kann es kein in sich schlüssiges Konzept des Neoliberalismus geben, in dem die politisch-sozialen Wertvorstellungen des Liberalismus mit der Praxis der kapitalistischen Wirtschaft vereinbar sind.“[9] Deutschland zum Beispiel definiert sein Wirtschaftsmodell als „soziale Marktwirtschaft“, d.h. auch in dieser Definition steckt die Erkenntnis, dass das klassische Modell der liberalen Marktwirtschaft allein die dem Kapitalismus innewohnenden Widersprüche nicht ausgleichen kann. Insofern haben wir es heute nicht, wie mit der Vorsilbe „neo“ suggeriert wird, mit einem neuen Liberalismus zu tun (höchstens könnten sich die Väter der „sozialen Marktwirtschaft“, die  Theoretiker des „Ordoliberalismus“ der Freiburger Schule als solche bezeichnen).[10] Die Machtkonzentration bestimmter Kapitalgruppen auf dem kapitalistischen Markt ist bereits eine der inhärenten Tendenzen der Kapitalakkumulation. Es sollte klar sein, dass dies im Zeitalter der Monopole und des Finanzkapitals viel größere Ausmaße angenommen hat (sodass freier Wettbewerb und Markt im Wesentlichen nur auf dem Papier existieren) und dass der kapitalistische Staat von Zeit zu Zeit gezwungen ist, in den Markt direkt einzugreifen, wenn diese Konzentration kritische Ausmaße erreicht oder dies gar von den in der Krise erschütterten Branchen und Kapitalisten selbst gefordert wird. Deshalb glauben allen voran die „Neoliberalen“ selbst weder an den freien Markt noch die Freizügigkeit der Marktteilnehmer noch an das Märchen des selbstregulierenden Marktes. Der Begriff des „Neoliberalismus“ ist ein irreführender Begriff, der erfunden wurde, um die große Offensive der Monopolbourgeoisie und ihres Staates gegen die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse zu verschleiern, dient als „ideologischer Deckmantel“, um die Klassenherrschaft des Finanzkapitals und der Oligarchie zu verbergen, und hat nichts mit der Realität gemein.

Die Neugestaltung der Weltwirtschaft

Wie wir wissen, ist die Welt seit Anfang der 90er Jahre einer „Globalisierung“ unterworfen, die auf „neoliberalen“Prinzipien beruht. Aber uns interessiert hier, inwiefern in jenen Jahren eine „globale“ Weltwirtschaft aufgebaut wurde sowie die Folgen der Widersprüche, die dieser monopolkapitalistischen Konstruktion von Anfang an innewohnten und heute zutage treten.

Um den Rahmen dieses Artikels nicht zu sprengen, wollen wir in diesem Zusammenhang nur darauf eingehen, was hauptsächlich in der Produktion geschehen ist. Bekanntlich krönten Friedmans „goldene Handschellen“ das „goldene Zeitalter“ des Finanzkapitals, das von den 90er Jahren bis heute andauerte. Ja, es war in der Tat ein „goldenes Zeitalter“, denn die Arbeiterklasse erlitt weltweit eine große Niederlage; ihre gewerkschaftliche Organisation war weitgehend zerschlagen, ihr Selbstvertrauen stark angeschlagen und die (nationalen) Barrieren, die die Errungenschaften und die Volkswirtschaften der Völker und Länder umgaben, sind im großen Ganzen beseitigt worden. Dieser Zustand, der sich in politischer Hinsicht vollzog, wurde durch technologische Entwicklungen, die wenige Zeit vorher begannen und auch außerordentlich neue Möglichkeiten zur Organisation der globalen Produktion und des Handels boten, abgesichert.

Somit senkte die Monopolbourgeoisie auf dem Wege der „Globalisierung“, also durch die Organisation der Produktion und der ihr entsprechenden Arbeitsteilung als ein weltweites Netzwerk, die Reproduktionskosten der Arbeitskraft in den Kernländern ungemein, während sie in den fernen Ländern ernstzunehmende Steigerungen der Ausbeutungsrate und der Profitrate verzeichnete. Die großen Monopole des Westens konnten auch aufgrund der Hilfe ihrer eigenen Staaten (durch Handelsverträge, Einrichtung von Freihandelszonen, finanzielle Unterstützung und Sicherheiten) mit der globalen Wertschöpfungskette ein weltweites Lieferkettennetzwerk aufbauen, das dessen Bedürfnissen entsprach.

Die Verschiebung vieler Teile und Schritte der Produktion ins Ausland, insbesondere in Länder mit einem Angebot an billiger Arbeitskraft (Offshoring), bot aus Sicht der Monopole brandneue Möglichkeiten zur Lösung von Problemen wie dem tendenziellen Fall der Profitrate, der Profitabilität und der Effizienz. Haupttriebkraft war jedoch das Herabsenken der Lohnkosten. Laut einer Studie von 2005,wurde „ein Fabrikarbeiter aus den USA, der 21 US$ die Stunde kostet, durch einen chinesischen Arbeiter ersetzt, der für 64 Cent arbeitet.“[11] Die großen Monopole des Westens und allen voran der USA begannen, einen stets größeren Teil ihrer Profite in Übersee zu erwirtschaften. Nur als Beispiel: Während 1977 noch etwa 17 Prozent der Nettogewinne von US-Monopolen aus Auslandsaktivitäten stammten, stieg dieser Anteil 1994 auf 27 und 2006 gar auf 48,6 Prozent! Natürlich war Kapitalexport keine neue Erfindung, doch bildeten diese enormen Profitraten und die auf ihnen errichteten globalen Wertschöpfungsketten eine neue Dimension des Kapitalexports. Entsprechend verwundert auch die Abnahme der Anzahl von Industriearbeitern in den USA von 17 Millionen in den 2000er Jahren auf 11 Millionen nicht (zweifellos war dies nicht der einzige, doch aber der Hauptgrund).

Ein ebenso nicht unwichtiger Aspekt dieser Entwicklung ist die überwältigende Zementierung der vorherrschenden Position großer Monopole in der Produktion und ihre Fähigkeit, während des Aufbaus der globalen Wertschöpfungsketten den Zulieferern (im In- wie Ausland) eine Reihe harter Konditionen, allen voran im Preis (aber auch in der Produktqualität, den Produktionsbedingungen, den Lieferfristen etc.), aufzuzwingen. Dies bot ihnen nicht nur große Einsparungen in den Ausgaben, sondern auch eine Begrenzung des Risikos. Als ein Beispiel für die Auswirkung dieser (Monopol-)Stellung auf die Profite lässt sich Apple heranziehen. Während Apple 2010 58 Prozent des Verkaufswerts ihres iPhones (549 Dollar) einstreichen konnte, entfielen auf den chinesischen Arbeiter lediglich 1,8 Prozent (10 Dollar)! (Ähnliche Beispiele finden sich auch in vielen anderen Produkten.)[12]

Laut eines ILO-Berichts von 2015 hat diese neue Vertiefung, die die geografischen Entfernungen der Arbeitsteilung relativiert und sich auf die neuen technologischen Möglichkeiten stützt, dazu geführt, „dass die Zahl der Arbeitsplätze, die mit globalen Warenketten zusammenhängen, zwischen 1995 und 2013 stark zugenommen“ hat, sodass nun „jeder fünfte Arbeitsplatz weltweit mit globalen Warenketten zusammenhängt.“[13] Heutzutage bildet der monopolinterne Handel, also der Warenumlauf zwischen den in unterschiedlichen Ländern befindlichen Niederlassungen internationaler Monopole, etwa ein Drittel des Welthandels. Auch unter Einfluss dieser Verhältnisse wurden die in einem Glied der globalen Wertschöpfungskette befindlichen Produzenten in einen grenzüberschreitenden Markt integriert, wodurch auch die Möglichkeiten von gegenseitigem Lernen und Steigerungen des Produktionsumfangs zugenommen haben.

Da dieser Warenaustausch sich zwischen unzähligen Produzenten von Vorprodukten/Komponenten verwirklicht, hat sich auch ein globaler Handel der Produzenten gleicher oder ähnlicher Produkte entwickelt. Folglich vollzog sich im Welthandel nicht nur ein Handel von miteinander in keiner Verbindung stehenden Produkten (bspw. Mikrochips im Austausch für Agrarprodukte); es nahm auch die Anzahl mit gleichen Produkten (Kraftfahrzeuge, Elektronikgeräte etc.) miteinander konkurrierender Länder zu. Der Produktionsweg eines Produktteils ermöglichte auch den „Technologietransfer über die Komponentenfertigung“. So, wie der Anspruch an die Zulieferer ansteigt, steigt auch der Bedarf nach Kapitalgütern und nach Bildung. Mit anderen Worten, die Verschiebung im Rahmen der oben genannten Beziehungen und Grundlagen eines bestimmten Teils, sogar des Großteils, der Produktion ins Ausland schaffte die Bedingungen für neue Konkurrenten in den entsprechenden Sparten und Sektoren.[14]

Ein weiteres Thema, das für sich selbst genommen eines eigenen Artikels würdig wäre und wir nicht unerwähnt lassen können, ist der Umstand, dass sich der Grund für die seit einiger Zeit heiß diskutierte Problematik der „Finanzialisierung“der Wirtschaft im Kern in dem oben grob skizzierten Prozess finden lässt. Es sei daran erinnert, dass Ende der 70er Jahre zunächst in den USA, dann in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern die „Liberalisierung“ des Finanzmarkts begann. In diesem Rahmen wurde vorrangig die Bindung der umlaufenden Geldmenge an einen materiellen Gegenwert wie Gold oder ein bestimmtes Produkt aufgehoben. Später, durch die weitestmögliche Ausweitung dieser „Liberalisierung“ besonders in den 90er Jahren, begann das Wertgleichgewicht „zwischen Real- und Finanzwirtschaft“ rasch zugunsten der Finanz zu kippen. Während beispielsweise 1980 das Volumen der zur „Realwirtschaft“ zählenden Werte das Doppelte der „Finanzwirtschaft“ bildete, ist dieses Gleichgewicht ab den 80er Jahren auf den Kopf gestellt worden. Heute beträgt das Volumen der global im Finanzsektor gehandelten Werte das Vierfache der „Realwirtschaft“![15] Sogar in Europa hat sich die Größe des Finanzsektors im Vergleich zur „Realwirtschaft“ in den letzten zwanzig Jahren verdoppelt. In der bürgerlichen Wirtschaftslehre wird diese Angelegenheit mit den erwähnten Liberalisierungen (Deregulierung) begründet. Doch die Aufhebung von einschränkenden Gesetze im Finanzsektor ist nicht der Grund für den Überfluss an Geldkapital und die Aufblähung der „Finanzwirtschaft“, im Gegenteil, die Änderungen an den Gesetzen dienten dazu, bessere Rahmenbedingungen für die Entwicklung einer im Monopolkapitalismus objektiv vorhandenen und zunehmend erstarkenden Tendenz zu schaffen. Der eigentliche Grund für das rasante und extreme Anwachsen des Finanzsektors in den letzten 30 Jahren ist die oben besprochene außerordentliche Periode in der Weltwirtschaft gewesen, die durch exorbitante Kapitalakkumulation, Mehrwert- und Profitraten der Monopole gekennzeichnet war.[16] Es sollte nicht übersehen werden, dass diese Periode besonders dem westlichen Finanzkapital eine extreme Kapitalakkumulation ermöglicht hat und dass dieser Überfluss an Geldkapital dank der im „goldenen Zeitalter“ in der Produktion realisierten Ausbeutungs- und Profitraten angewachsen ist, und zwar so sehr, dass es sich heute mit den Profitraten der „Realwirtschaft“ nicht mehr abfinden kann![17] Und nun stellt dieser extreme Kapitalüberfluss einen immensen Risikofaktor dar, der den Zerstörungsgrad der herkömmlichen Wirtschaftskrisen aufgrund seines gigantischen Volumens ungemein erhöht und aufgrund der Jagd nach Maximalprofitraten einen starken Druck auf die reale Produktion selbst ausübt.[18]

Kurz gesagt: die Weltwirtschaft wurde umgestaltet, indem die Produktionsstruktur erneuert, die vorhandene Arbeitsteilung vertieft, die Handelsregeln verändert bzw. neugeordnet, sowie die neuen technologischen Möglichkeiten auf breiter Ebene angewandt wurden. Auslöser dieser Entwicklung waren vor allem die Bemühungen in den imperialistisch kapitalistischen Ländern, den Kapitalexport möglichst zu beschleunigen und die Offshoring-Tendenz in der Produktion zu verstärken. Diese zur Überwindung der Rezession der 70er-Jahre unabdingbar gewordenen Bemühungen bekamen dann mit der Wende 1989/91 einen starken Rückenwind, denn historisch gesehen schuf sie für diese Umgestaltung der Weltwirtschaft einen außerordentlich günstigen politischen Rahmen auf internationalem Maßstab. Es lässt sich sagen, dass bis ungefähr zur Krise 2008 die westlichen Staaten und Monopole den größten Nutzen aus diesem neu etablierten internationalen Produktionsmodell und des Kapitalanhäufungsregimes zogen. Aber auch die Bourgeoisie von Staaten wie China und Indien machten sich diesen Prozess von Anfang an zunutze, sodass in solchen Staaten eine gewichtige Kapitalakkumulation und ökonomische Entwicklung zu verzeichnen war. In Zeiten des „Globalisierungswahns“ sah es so aus, als ob dieses „Win-Win“-Geschäft unendlich bestand haben würde. Jedoch kam es im Laufe der Zeit dazu, dass sich die inneren Proportionen dieses Geschäfts zu verändern begannen. Bezeichnend ist dabei, dass diese Veränderung gerade ein „Nebenprodukt“ des von den westlichen Monopolen auf den Weg gebrachten ökonomischen Regimes war, dessen Maxime es doch war, durch maximale Kostenreduzierung Maximalprofit zu erzielen. Die Zunahme der Kapitalakkumulation peitschte nämlich in allen Bereichen und Regionen, wo sie stattfand, unweigerlich eine neue Zentralisierung an. Während westliche Monopole zwar weiterhin Profite erwirtschafteten, verzeichneten die Nachzügler eine relativ viel größere und schnellere Entwicklung (China beispielweise avancierte sich im Anschluss an die Krise 2008 zur zweitgrößten Wirtschaft auf der Welt!). Es sollte nicht überraschen, dass diese Entwicklung diejenigen störte, die an dem besagten „Win-Win“-Tisch saßen, unter ihnen jedoch vor allem diejenigen, die bisher am meisten profitierten. China ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass sich die Veränderung der besagten inneren Proportionen im „Win-Win“-Geschäft auf das wirtschaftliche Gleichgewicht so auswirken kann, dass dadurch eine neue konkurrierende Macht entsteht.[19]

Aus heutiger Sicht werden die von den westlichen Staaten und Monopolen im Windschatten des „historischen Sieges“aufgebauten internationalen Beziehungen, die geformte Weltordnung und das ihr zugrunde liegende internationale Wirtschaftsregime durch konkurrierende Mächte faktisch und tagtäglich zu ihren Ungunsten verändert. Die außerordentlichen Monopolprofite, Mehrwertraten sowie Kapitalanhäufungen einer besonderen Phase sind angesichts der neuen Herausforderungen, mit denen die westlichen Staaten und Monopolen nunmehr konfrontiert sind, ernsthaft bedroht. Auch dem Auftreten des Problems der internationalen Ordnung und dessen Thematisierung durch die USA (Hauptprofiteur der bisherigen Ordnung) liegen die oben darauf aufmerksam gemachten Entwicklungen und Kampfansagen zugrunde. Und da die Frage selbst das Produkt einer Entwicklung und zwar einer die eben erwähnten Merkmale aufweisenden Entwicklung ist, sind heute nicht nur die Marktanteile im Ausland, sondern auch jene wirtschaftlichen und sozialen Gleichgewichte innerhalb des Landes bedroht, die in den letzten 30 Jahren auf diesen Anteilen errichtet wurden.[20] Und vergessen wir nicht, dass diese inneren Gleichgewichte der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder durch die „neoliberale Globalisierung“ nicht gerade stabilisiert wurden! Im Gegenteil. Der Anstieg der Kapitalexporte ging einher mit der relativen Schwächung der wirtschaftlichen Infrastruktur in diesen Ländern. Es ist bekannt, dass in dieser Zeit die Ungleichheit und Unzufriedenheit in den entwickeltesten kapitalistischen Ländern zunahm und diese Entwicklungen das etablierte Parteiensystem (mit anderen Worten, die etablierten Narrative der Hegemonie) erschütterten, wodurch in den das Gleichgewicht zwischen den Klassen prägenden Beziehungen neue Empfindlichkeiten und Reibungen entstanden. Andererseits ist es nun so, dass die Entwicklung des „goldenen Zeitalters“der letzten 30 Jahre nicht nur aber vor allem in den angelsächsischen Ländern den Prozess der exzessiven Kapitalakkumulation und der eigenen Werterhaltung und -vermehrung des Kapitals, „die auf der Enteignung und Verarmung der großen Masse der Produzenten beruht“[21], vor neue Grenzen gestellt hat, deren Überwindung nicht so schmerzlos ausfallen wird wie bisher. Der Druck, der sich hier mit der Nullzins- und der lockeren Geldpolitik nach der Krise 2008 aufstaute und durch die Krise teilweise abgelassen wurde[22], steht nun mit einem Vielfachen wieder im Zentrum. Durch Aufrüstung, Erhöhung der Staatsverschuldung[23], Infrastrukturpakete und steuerliche Anreize wird versucht, die Grenzen der eigenen Werterhaltung und -vermehrung, mit der das überakkumulierte Kapital konfrontiert ist, zu überwinden. Die Mittel und Methoden sind immer noch die gleichen, aber wir dürfen nicht vergessen, dass diese bekannte Klassenpolitik heute unter den Bedingungen eines aufgrund der sich verschärfenden Konkurrenz alter/neuer rivalisierender Mächte relativ schrumpfenden Weltmarktes und der sich verengenden Toleranzgrenzen der unteren Klassen umgesetzt werden muss.

Wenn die internationale Ordnung zum Problem wird

Eine internationale Ordnung basiert stets auf einem bestimmten Kräfteverhältnis, einem konkreten Wirtschaftsregime und eben diese regulierende Regeln und Prinzipien. Sie wiederum sind Resultate bzw. Ausdrücke der Aufteilung der Welt durch die großen imperialistischen Staaten. Der grundlegende Punkt in der Frage der internationalen Ordnung ist daher, ob die Akteure ihr Handeln prinzipiell nach dieser Ordnung richten. Das Wort „prinzipiell“ muss hier unterstrichen werden, denn es geht nicht darum, ob die bestehende Aufteilung in keiner Weise in Frage gestellt wird oder Versuche nicht unternommen werden, sie schrittweise zu verändern. Ein Zustand, wo derartige Tendenzen gänzlich verschwinden, gibt es nicht. Dafür müsste die zwischenimperialistische Rivalität als Ganzes aufgehoben sein. Nein, „prinzipiell sich danach richten“ bedeutet hier, dass der Kampf und die Konkurrenz zwischen den imperialistischen Staaten und Monopolen sich in Formen vollzieht, die der bestehenden Ordnung entsprechen. Daher ist das heutige Auftreten des Problems der internationalen Ordnung, also dass die Ordnung selbst zum Problem wird bzw. zu zerbröckeln beginnt, ein Ausdruck dafür, dass der Kampf um die Aufteilung der Welt durch die Imperialisten und das Ringen um die Hegemonie an einen Punkt gekommen zu sein scheint, wo sie nicht mehr innerhalb der bisherigen Formen fortgeführt werden kann bzw. wird.

Formveränderung bedeutet Änderung der Mittel und Weise des Kampfes um Hegemonie. Auch wenn der Inhalt (auf den Weltmärkten dominieren, das Kapital und den Maximalprofit vermehren u.ä.) unverändert bleibt, stellt die Änderung der Form nicht nur einen bloßen formalen Unterschied dar. Im Gegenteil, sie bedeutet die Änderung der Verwirklichungsbedingungen des genannten Inhalts und zeigt damit auf, dass Formveränderungen aus dem Inhalt resultieren. Schließlich ist es klar, dass es weder eine inhaltslose Form noch einen formlosen Inhalt geben kann.

Manche meinen, die heutige internationale Ordnung sei ein „Interregnum“, während sie andere als „internationale Unordnung“ beschreiben. In jedem Fall haben wir es mit einem Prozess zu tun, der in Hinblick auf seinen Reifegrad noch seinen Begriff sucht. Tatsache ist, dass die die gegenwärtige internationale Ordnung relativierenden aktuellen Ereignisse Widerspiegelungen dessen sind, dass der Inhalt sich selbst in der Form immer weniger ausgedrückt findet oder, gleichbedeutend, dass der Inhalt sich in einem Treiben befindet, dessen gesetztes Ziel es ist, eine dem Inhalt besser entsprechende neue Formierung zu erzwingen.

Zurzeit ist klar, dass diese Inkongruenz von Form und Inhalt, die die heutigen internationalen Beziehungen und die internationale Ordnung kennzeichnet, in sich eine Dynamik besitzt, die zu einem Ergebnis hindrängt. Dieser entstandene Zustand, der seiner Natur nach temporär ist, hat einen neuen Prozess ausgelöst, der die Kongruenz von Inhalt und Form vorsieht, oder mit anderen Worten, (in Bezug auf den Drang des Inhalts, samt seiner Potenz, Wirklichkeit zu werden) die Übereinstimmung zu einer Notwendigkeit macht. Wichtig ist hier zu erkennen, dass dieser neue Prozess kein Produkt von zufälligen Ereignissen ist. Hinter diesem Prozess steht eine Zwangsläufigkeit, denn dieser Zustand der Inkongruenz oder die Tendenz hin zu einer neuen Kongruenz entspringt der nicht sonderlich überraschenden Konfrontation des Inhalts (konkreter gesagt, des Triebes der imperialistischen Staaten, Monopole und des Finanzkapitals nach Hegemonie, Maximalprofit und Kapitalakkumulation) mit neuen Grenzen, Widersprüchen und Herausforderungen.

Die „internationale Unordnung“ entspringt aus diesem Zustand der Inkongruenz, weshalb sie nicht als eine teilweise oder zeitweilige Störung betrachtet werden sollte. Im Gegenteil. Die in den vergangenen 30 Jahren wirkende Ordnung hat der Entwicklung jener Kräfte den Weg bereitet hat, die als Akteure einer Auflösung des bisherigen Kräftegleichgewichts wirken. Dieser Entwicklungsgang bedeutet aus der Perspektive der Gründer (im Kern die USA) der bisherigen Ordnung, dass diese Ordnung sukzessiv die Funktion verliert, für die sie gegründet wurde. Diejenigen, die ihre Stellung verlieren, sind gezwungen, für die Rettung ihrer Ordnung die Entwicklung ihrer Rivalen zu erdrosseln; denn jeder verlorene Tag bedeutet einen Stellungsverlust in der Welthegemonie. Unter diesem Zugzwang stehend rücken sie nun aus, indem sie alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel mobilisieren (vielseitige Erweiterung des Handlungsspielraums des Staates als ideellen Gesamtkapitalisten, Steigerung des Technologiekrieges, Ausweitung der ökonomischen Konkurrenz hin zum Wirtschaftskrieg, Nutzung der finanziellen Überlegenheit z.B. als Sanktionsmittel, Neugestaltung der Lieferketten unter Berücksichtigung geopolitischer Kriterien u.ä.). In diesem Sinne sind die Würfel längst schon gefallen. Wir befinden uns nunmehr in einer neuen Phase, die vielseitige Auswirkungen auf die internationale Ordnung und Beziehungen (folglich auch zwischen den Ländern) haben wird.

Sprechen wir von einer neuen Situation, so meinen wir damit, dass die verschiedenen Widersprüche des kapitalistischen Systems jene Formen, innerhalb dessen sie sich bisher bewegten, verschlissen haben, der Schärfegrad dieser Widersprüche eine Neuformierung (auf wirtschaftlicher, politischer und internationaler Ebene) notwendig gemacht hat und in dieser Richtung bereits bestimmte Schritte unternommen wurden. In diesem Sinne können die Fragen, welche Folgen eine Neuformierung mit sich ziehen wird, welche Eigendynamik sie entwickeln wird oder welche neuen Implikationen aus ihr hervorgehen werden, natürlich nur durch empirische Untersuchungen konkretisiert werden, die für jedes Gebiet einzeln vorgenommen werden müssten. Allgemein lässt sich aber sagen, dass das von einer Neuformierung Erhoffte sowie ihr tatsächliches Resultat noch längst nicht entschieden sind. Diese Unbestimmtheit rührt daher, dass der Vollzug der Neuformierung selbst einen so besonderen „Übergangsmoment“ darstellt und dabei so vieles und verschiedenes in Gang setzt, dass die sich in diesem Rahmen beschleunigenden Klassenkämpfe eine das derzeitige Niveau überschreitende Wirkung entfalten und zu unerwarteten Ergebnissen führen können.

Andererseits: Der Kapitalismus, und in seiner heutigen Form der imperialistische Kapitalismus, ist ein Weltsystem, welches auf dem Faktum des Weltmarktes aufsteigt. Betrachtet man es von diesem Punkt aus, so ist es klar erkennbar, dass in der Epoche des Imperialismus der Abschluss der „Aufteilung der Welt durch die internationalen Trusts“ und „die Aufteilung des gesamten Territoriums der Erde durch die größten kapitalistischen Länder“ (Lenin), bezüglich der Eigenschaft des Kapitalismus als ein Weltsystem einem (wenn auch in sich widersprüchlichen) fortgeschrittenen Entwicklungsstadium entspricht. Folglich tritt das Problem der Neuaufteilung jedes Mal in einem relativ noch höheren Entwicklungsstadium des kapitalistischen Weltsystems auf. Auch wenn die Neuaufteilung selbst wie eine Wiederholung des alten zu sein scheint, so darf nicht übersehen werden, dass diese Wiederholung sich in einem von der Entwicklung des Kapitalismus als Weltsystem bestimmten und von seinen Vorgängern abweichenden Rahmen ereignet. Dieser Umstand ist aus zwei Gründen bedeutend: a) Es vervielfältigen sich die Mittel und Elemente der Neuaufteilung (bspw. zeigen die „Chipkriege“[24], dass die Technologie selbst ein Element der Neuaufteilung ist, oder bei der Neuaufteilung die faktische Eroberung von Land weniger zwingend ist als früher) und b) erfordert die Neuaufteilung unmittelbar die Verstärkung des alten oder eben den Aufbau eines neuen Regimes in der Weltwirtschaft selbst (folglich, wie die Diskussionen über das „regelbasierte“ System zeigen, die Notwendigkeit, die wirtschaftlichen Regeln der internationalen Ordnung direkt festzulegen).

In Anbetracht dessen, dass das derzeitige Kräftegleichgewicht zwischen den Imperialisten keinen einzigen von ihnen eindeutig bevorteilt und die Verwobenheit in der Weltwirtschaft nicht auf einen Schlag durch eine Regierungsentscheidung aufgehoben werden kann, weisen diese Umstände darauf hin, dass die Rauferei zwischen den imperialistischen Kräften sich als einen eskalierenden, aber ihr Endergebnis nicht sofort erzielen könnenden, langwierigen ‚Prozess des gegenseitigen Aufreibens‘ ausbilden wird. Und die Ausbildung einer folgenden anachronistischen Situation wird keine Entwicklung darstellen, die der Natur dieses Prozesses widerspricht: Dass eben der Weltmarkt ausgerechnet in ihrem am weitesten entwickelten Stadium sich zersplittert und bestimmte Wirtschaftszentren wie die USA, EU und China ihre Investitionen und ihren Handel auf bestimmte Einflussgebiete konzentrieren, welche zwar den Handel zwischen den Zentren nicht aufheben, aber sich auf ihre Kosten entwickeln. In bestimmter Hinsicht kann dieser Wandel der Weltwirtschaft bereits als begonnen angesehen werden. Beispielsweise steht die Neuordnung der Lieferketten nach „Einflussgebieten“ (denken wir an das „Decoupling“ genannte Entkopplungskonzept des Pentagon) auf der Tagesordnung vieler Monopole. Dies ist zweifelsohne ein zeitaufwendiger Prozess, doch Schritte in diese Richtung werden heute schon unternommen („Offshoring“ ist out, „Nearshoring“ und „Friendshoring“, also die Verschiebung der Produktion in Nachbar- bzw. befreundete Länder, oder „Repatriating“, also die Rückführung ins Vaterland, sind jetzt in!). Solche Verschiebungen und Neuordnungen werden für die sich in diesen Gebieten befindlichen Länder offensichtlich mal für ihre Position auf dem Weltmarkt vorteilhafte, mal unvorteilhafte Veränderungen führen. Diese „erneute Globalisierung“ wird sich auf das wirtschaftliche Gleichgewicht verschiedener Länder und folglich auch auf das Gleichgewicht zwischen den Klassen in diesen auswirken; neue zwischenstaatliche Ungleichgewichte und Reibereien sind daher unvermeidlich.

Unter den Bedingungen einer äußerst verflochtenen Weltwirtschaft, folglich zu einer Zeit, in der die gegenseitigen Abhängigkeiten der einzelnen Volkswirtschaften deutlich zunehmen bzw. anders ausgedrückt, in einem Stadium, in dem sich der Kapitalismus als Weltsystem eher vertieft als ausbreitet, müssen sich auch die Methoden der Neuaufteilung zwangsweise ändern und komplexer werden. Eines der bestechenden Anzeichen diesbezüglich wird es zum Beispiel sein, dass die Akteure der imperialistischen Neuaufteilung sich im Vergleich zu früher nicht so schnell und klar positionieren werden können. Ein anderes Anzeichen wird es sein, dass jeder von diesen Akteuren im Prozess ihrer Positionierung es nicht leicht haben wird, in ihren Ländern die Einheit zwischen den Kapitalfraktionen sowie zwischen den verschiedenen wirtschaftlichen Sektoren herzustellen. D.h. die Unvermeidbarkeit von neuen Spaltungen und Streitfällen aufgrund des Auseinanderdriftens der Stellung der nationalen Wirtschaft in der gesamten Weltwirtschaft und den Stellungen der einzelnen Sektoren in dieser Gesamtheit (also nicht nur rein allgemeine branchenmäßige Interessensunterschiede, sondern auch die Inkongruenz zwischen den strategischen Entscheidungen des Staates als ideellen Gesamtkapitalisten und den Interessen einzelner Monopole; somit die Zunahme von Widersprüchen, die einer Übergangsphase eigentümlich sind).

Es ist offensichtlich, dass nur finanziell starke kapitalistische Staaten das Potenzial haben werden, jene dem Wechselwirkungsprozess immanenten vielschichtigen Dynamiken relativ zu kontrollieren. Dies bedeutet jedoch, dass manche auf der Strecke bleiben oder zurückfallen werden. Anders ausgedrückt; es ist unausweichlich, dass die neue Phase einen neuen Zyklus der ungleichmäßigen Entwicklung zwischen den Ländern (inklusive der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder!) auslösen wird. Indes, dass diese Runde bereits begonnen hat, zeigt beispielsweise der Protest vieler EU-Länder gegen die hintereinander verabschiedeten Wirtschaftspakete Deutschlands, sie protestierten, weil diese Pakete ‚den Wettbewerb verzerren‘ würden. Als ein weiteres Beispiel kann hier auf die verstimmte Reaktion der Bundesregierung hingewiesen werden. Sie monierte nämlich, dass manche deutsche Monopole infolge des Inflation Reduction Act (ein Finanzpaket, das u.a. große Steuererleichterungen für Investitionen in den USA vorsieht) ihre Investitionen in den USA ausweiten. Wir nehmen an, dass es keiner Erwähnung braucht, dass eine solche Entwicklung zu neuen wirtschaftlichen Ungleichgewichten und Konflikten führen sowie politische und soziale Folgen haben wird.

Eine neue Seite

Wir sind Zeugen, dass sich das Antlitz und die Gleichgewichte der kapitalistischen Weltwirtschaft, worauf sich ja auch die internationale Ordnung letztendlich stützt, just in einer Phase zu verändern beginnen, wo die Verflechtung kapitalistischer Ökonomien historisch an ihrem Höchstpunkt ist. Daher wird es nicht richtig sein, wenn man nur annimmt, dass die Wirkungen und Resultate dieser Umwandlungen sich lediglich auf Wirtschafts- und Technologiekriege beschränken werden, deren offensichtliche Zielsetzung es ist, den eigenen Marktanteil in der Weltwirtschaft auszuweiten (oder zu wahren), die Wertschöpfungs- und Lieferketten neu zu formieren und Handelswege zu erneuern. Ja mehr noch, diese Annahme wäre nicht nur unrichtig, sie wäre auch ein Zeugnis davon, dass man die Tiefe und das Ausmaß dieses losgetretenen Prozesses nicht erkennt. Schließlich sind in diesem Prozess Erschütterung der politischen Stabilität, des wirtschaftlichen Wohlstands und der gegebenen Klassenkräfteverhältnisse in den Ländern, die Subjekt und Austragungsort der Kämpfe in den genannten Bereichen sind, so sicher wie das Amen in der Kirche. Denn der Prozess nimmt einen Lauf an, der jeden kapitalistischen Staat nunmehr zwingt, seine bisherigen Positionen und Prioritäten zu überdenken und zu verändern.

Bestechend ist, dass das heutige von „multiple Krisen“ geprägte Erscheinungsbild der kapitalistischen Welt weder infolge noch als ein Resultat einer das System bedrohenden Arbeiter- oder Volksbewegung entstanden ist. Andererseits sind es die Arbeiter- und Volksmassen, die die „multiple Krise“ jetzt schon am stärksten treffen, deren Lebensbedingungen sie am härtesten erschwert und folglich auch deren Unmut erhöht. Umgekehrt formuliert: Das internationale Kapital lädt aufgrund des „multiplen Krisenumfeldes“, das doch sein eigenes Produkt ist, und den Schritten, die es angesichts dessen aus den eigenen Klasseninteressen heraus unternehmen muss, die Arbeiterklasse, die es von der Bühne der Geschichte verjagt hatte, unwillentlich wieder auf die Bühne der Geschichte ein. Doch auch wenn es außerhalb seiner Macht liegt, weiß das Kapital, wohin die Angelegenheit sich entwickeln kann! Politisch gesehen ist sein größter momentaner Vorteil das Fehlen einer unabhängigen Arbeiterbewegung. Dies ermöglicht ihm, den unvermeidlichen Unmut in Nationalismus, Fundamentalismus, Reaktion, Migrationsfeindlichkeit u.ä. umzuleiten. Besonders in wirtschaftlich und finanziell schwachen oder im Vergleich zu ihren Gegnern schwächer werdenden kapitalistischen Ländern entwickelt sich diese Tendenz verhältnismäßig schneller. Andererseits versuchen die bürgerlichen Regierungen in reicheren Ländern, die über entsprechende Möglichkeiten verfügen, mit beschwichtigenden finanziellen Unterstützungen den Unmut zu zügeln und neue Erwartungen zu wecken. Nun, dies ist allgemein der Ansatz der Monopolbourgeoisie, ob aber diese Rechnung aufgehen wird, ist mehr als fraglich.

Laut dem Ökonomen Thomas Piketty ist die heutige Ungleichheit in keiner historischen Phase außer der Jahre vor der Französischen Revolution größer gewesen.[25] In Anbetracht der Ungleichheit, die aufgrund der schmerzlichen Erfahrungen im sozialen Leben der letzten dreißig Jahre nun viel krasser ins Auge sticht, sind die Massen von Arbeitern und Werktätigen im Kern nicht offen für neue wirtschaftlich-soziale Opfer, egal wie sie begründet werden. Außerdem, wie an den jüngsten Streiks in Frankreich zu sehen war, begründen die Arbeiter, während sie dem Lohndiktat der Monopole Paroli bieten, die Legitimität ihrer Lohnforderungen mit den in den Bilanzen der Monopole veröffentlichten gigantischen Profiten! In einer Zeit, in der der Liberalismus politisch versagt und die Hohlheit der Predigten des „Neoliberalismus“ zu Tage tritt, befinden sich die Arbeiter nun in einer Stimmung, wo sie keine weiteren Zugeständnisse zulassen wollen, stattdessen zeigen sie sich bereit, für neue Forderungen zu kämpfen; die aktuellen Kämpfe weisen eindeutig auf diese Tendenz hin. Beispielsweise kann ein Blick auf die Forderungen der „Enough is Enough“ (Genug ist genug!) Bewegung in England geworfen werden: „1. Eine reale Lohnerhöhung; 2. Energierechnungen kürzen; 3. Lebensmittelarmut beenden; 4. menschenwürdige Wohnungen für alle sowie 5. Höhere Besteuerung der Reichen.“[26]

Dies entspricht im Kern der heutigen Gemütslage der Arbeiter und Werktätigen. Und dies ist lediglich das Bild der jetzigen Lage. Blicken wir auf den bevorstehenden Prozess; welches von den beiden lässt sich am Horizont erkennen: eine weltweite wirtschaftliche Belebung oder eine „Wohlstandeinbußen“ beinhaltende wirtschaftliche Stagnation? Noch ist keine weltweite Krise eingetreten, jedoch weisen alle Symptome darauf hin, dass sowohl das Wirtschaftswachstum noch weiter sinken wird als auch eine heikle Stagflation auf die Weltwirtschaft wartet. Der Ökonom Nouriel Roubini, der die 2008 Krise vorhergesagt hatte, prognostiziert, dass die Schritte der Zentralbanken zur Inflationsbekämpfung die Welt in die „Stagflationsfalle“ (steigende Inflation ohne Wirtschaftswachstum) hineinziehen wird. Ihm zufolge „ist dies erst der Anfang“, „den eigentlichen Schmerz werden wir erst später spüren. Wir werden das Krachen großer globaler Finanzinstitute miterleben. Viele Ökonomien werden in die Rezession schlittern und die Finanzmärkte Schocks erleben.“Laut Roubini, der meint, dass die Welt auf einer von sozialem und politischem Druck umgebenen Bombe sitzt, „wird die ökonomische, finanzielle und geopolitische Krise diese Lage noch viel weiter verschlimmern“.[27] Übrigens, die englische Zentralbank, die während des Schreibens dieser Zeilen ihren Leitzins um 75 Basispunkte anhob und damit die größte Zinserhöhung der letzten 33 Jahre realisierte, prognostizierte, dass die Arbeitslosigkeit in England bis 2025 sich schätzungsweise verdoppeln werde! Und es schaut danach aus, dass nicht nur in England, sondern in der kommenden Zeit in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern generell die Arbeitslosigkeit aus unterschiedlichen Gründen steigen wird. Ein Aspekt sind die Arbeitsplätze, deren Verschwinden im Rahmen der technologischen Transformation der Industrie erwartet wird, der andere sind die vielseitigen Auswirkungen (allen voran auf die mittleren und unteren Klassen) der Zinsanhebungen der Zentralbanken (was eine ernstzunehmende Änderung der seit 2008 verfolgten Wirtschaftspolitik darstellt) zur Abkühlung der Wirtschaft. Außerdem ist auch eine Auswirkung der sich auf dem Weltmarkt verschärfenden Konkurrenz und der Wirtschaftskriege, deren Zunahme prognostiziert wird, auf die Arbeitslosenzahlen zu erwarten. Die optimistischsten Erwartungen gehen von einem Rückgang der Inflation in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern aus, wobei jedoch davon ausgegangen wird, dass die Preise, allen voran für Energie, nicht auf das Niveau vor dem Ukraine-Krieg sinken werden. Auch der in der Krise 2008 zur Hilfe eilende „Konjunkturmotor“ China scheint außer Gefecht zu sein, da es selbst mit ernsthaften Problemen konfrontiert ist und sich die Indizien der Abkühlung ihrer Wirtschaft mehren (Dass sich der „Westen“ insgesamt und einheitlich gegen China positioniert, ist eine geringe Wahrscheinlichkeit. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass es China außerordentlich schwer haben wird, zu ihrem alten Entwicklungstempo zurückzukehren).

Kurzum; auch wenn Pandemie und Ukraine-Krieg kurzfristig enden würden, verheißt der begonnene Prozess keine Rückkehr zur vorherigen Lage in der Wirtschaft, im sozialen bzw. Klassengleichgewicht und in den internationalen Beziehungen.

Aus einer breiteren historischen Perspektive aus betrachtend kann allgemein über die bevorstehenden Klassenkämpfe folgendes gesagt werden: Das internationale Kapital konnte sich aufgrund seines vorübergehenden Sieges über den Sozialismus und den historischen Schlägen, die es in dieser Zeit gegen die Arbeiterklasse versetzen konnte, relativ frei entwickeln und ausbreiten. Diese Zeit der „idealen“ Entwicklung bedeutete, dass die dem Kapitalismus innewohnenden Tendenzen sich mit relativ geringem Widerstand entwickeln konnten. Die Dialektik dieser eigentümlichen Entwicklung war jedoch die, dass somit auch diesen Tendenzen inhärenten objektiven Widersprüche sich in historisch relativ kurzer Zeit verschärft haben. Somit hat das Kapital selbst einen Prozess ausgelöst, der nun jene Verhältnisse gären lässt, die es zwingen werden, seine Buße für den erzielten Sieg zu leisten. So wie die Arbeiterklasse die bittere Zeche für ihre Niederlage gezahlt hat, so wird sich auch das Kapital nicht davor retten können, die Zeche für seinen Sieg über die ihm gegensätzliche Klasse zu zahlen. Steinmeiers für Deutschland verwendeter Begriff der „Friedensdividende“ kann, angepasst, in Bezug auf die Klassenbeziehungen zwischen Monopolkapital und Arbeiterklasse verwendet werden: Für die westliche Monopolbourgeoisie ist die „Siegesdividende“ im Kern aufgebraucht. Genauso werden Länder wie China, die sich entsprechend den Schritten, die das westliche Kapital während der Ausnutzung der „Siegesdividende“ seinerzeit unternahm, positionierten oder neue Positionen sicherten, es nicht mehr leicht haben. Sie werden die im Schatten dieser „Dividende“ verzeichneten Entwicklungsmöglichkeiten nicht mehr so einfach wie früher vorfinden können. Sei es die Asienkrise 1997 oder die Krise 2008 – China überwand sie im Grunde unbeeinträchtigt. Aus der ersten ging sie gar als Regionalmacht hervor, aus der zweiten konnte sie ihre Macht auf ein Weltmaß verstärken. Dass sie in Anblick der „multiplen Krisen“ der kapitalistischen Welt denselben Erfolg nicht wiederholen können wird, ist sehr wahrscheinlich.

Die neue Phase, die wir betreten haben, weist darauf hin, dass nicht nur die Hegemoniekämpfe zwischen den imperialistischen Staaten offene Formen annehmen und umfangreicher werden, sondern zugleich in dem Kampf zwischen der Arbeiterklasse und der Monopolbourgeoisie eine neue Seite aufgeschlagen werden wird. Unabhängig davon, ob die Arbeiter und Werktätigen zur Zeit sich dessen bewusst sind oder nicht, die aktuell geführten sozialen Kämpfe, die unter den Bedingungen der die sozialen und gesellschaftlichen Widersprüche verschärfenden Wirkung des „multiplen Krisenumfeldes“ des Kapitalismus stattfinden, sind eigentlich die Geburtswehen eines neuen Kräfteverhältnisses zwischen Arbeit und Kapital. Jeder Sieg, den die Arbeiter verzeichnen als auch jeder Angriff, den sie abwehren, wird in den heutigen konkreten Verhältnissen und Zusammenhängen dazu dienen, die Phase der Jahre der Niederlage, in der „der geschichtliche Prozess […] über ihren Köpfen vor sich geht“[28], zu beenden.

{Geschrieben im November 2022}

 

[1] Heute sind 830 Millionen Menschen chronisch unterernährt. Das bedeutet, dass sich die Armee der Hungernden in drei Jahren um 150 Millionen vergrößert hat. Noch nie in der Geschichte haben so viele Menschen gehungert. Siehe Süddeutsche Zeitung vom 17. Oktober 2022, „So viele Hungernde wie nie“.

[2] Laut einer Meldung von Bloomberg vom 10. Oktober 2022 war das Hauptthema bei den jüngsten Treffen von Weltbank und IWF das „multiple Krisenumfeld“. Mit diesem Begriff beschrieb Lawrence Summers, Harvard-Professor und ehemaliger US-Finanzminister vor den oben genannten Treffen den derzeitigen Zustand der Welt. Bloomberg HT (2022) „Dünya Bankası ve IMF toplantılarında ana gündem çoklu kriz ortamı“, https://www.bloomberght.com/dunya-bankasi-ve-imf-toplantilarinda-ana-gundem-coklu-kriz-ortami-2316807

[3] Bloomberg HT (2022) “Yellen’dan küresel büyümeye ilişkin değerlendirme”, https://www.bloomberght.com/

yellendan-kuresel-buyumeye-iliskin-degerlendirme-2317246

[4] Der Bundespräsident (2022) “Alles stärken, was uns verbindet”, https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2022/10/221028-Alles-staerken-was-uns-verbindet.html

[5] Diese Bezeichnung war ebenfalls der Titel des Vortrags von Claudia Major, Vertreterin des durch das Bundeskanzleramt geförderten Thinktanks Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), den sie auf den „Munich Economic Debates“ Symposium gehalten hat. Major, die keine gemeinsame Sicherheit mehr zwischen Russland und Europa sieht, blickt wie folgt auf die Zukunft: „Mit Russland wird es in Zukunft keine integrativ-kooperative Ordnung mehr geben, im Gegenteil, wir werden die Sicherheit weitestgehend durch eine Grenze zwischen Russland und uns oder gar gegen Russland aufbauen müssen.“ Siehe Ifo Institut (2022) “Die geopolitische Neuordnung der Welt – welche Rolle spielen Deutschland und Europa?”, https://www.ifo.de/veranstaltung/2022-09-19/die-geopolitische-neuordnung-der-welt-welche-rolle-spielen-deutschland-und

[6] In seinem Buch „Die neue Weltunordnung – Wie sich der Westen selbst zerstört“ fasst Peter R. Neumann, Professor für Sicherheitsstudien am King’s College London, der die Vorgänge in der Weltordnung im Hinblick auf ideelle Fehlvorstellungen analysiert, zusammen, was mit der „Naivität“ des Westens gemeint ist, indem er die folgende Meinung des US-Professors John Ikenberry und anderer zusammenfasst: „Je reicher China werde, desto größer die Mittelklasse, desto stärker der westliche Einfluss und desto höher die Nachfrage nach individueller Freiheit und Demokratie. Investitionen, Technologie und Wohlstand waren für die westlichen Eliten die ‚trojanischen Pferde‘, mit deren Hilfe die Demokratie in China Fuß fassen würde. Dass es der chinesischen Führung gelingen könnte, ökonomische und politische Freiheiten voneinander zu trennen, hielt niemand für realistisch.“ Siehe Neumann, P. R. (2022) „Die neue Weltunordnung – Wie sich der Westen selbst zerstört“, Rowohlt, Berlin, S. 57.

In seinem 2016 erschienenen Buch „Weltunordnung – Die globalen Krisen und die Illusionen des Westens“ kritisiert Carlo Masala, Politikwissenschaftler und Professor für Internationale Politik an der Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften der Universität der Bundeswehr München, ebenfalls „die Illusion, dass die Globalisierung automatisch Demokratie bringt“ und ist der Meinung, dass „der Traum von einer liberalen Weltordnung nicht länger verfolgt werden sollte“ (siehe Neumann, ebd., S. 12). Insbesondere aus deutscher Sicht empfiehlt er: Wir müssen die internationalen Beziehungen realistisch betrachten, uns von bestehenden Illusionen befreien, den geostrategischen Ist-Zustand berücksichtigen und wieder lernen, die Sprache der Macht zu sprechen, statt nur von ihr zu lesen! Laut Henry Kissinger, der in seinem Buch „Weltordnung“ feststellt, dass „in der Welt der Geopolitik die von den westlichen Ländern errichtete und für universell erklärte Ordnung an einem Wendepunkt steht“, ist die „Krise in dem Begriff der Weltordnung […] das endgültige internationale Problem unserer Zeit“. Siehe Kissinger, H. (2016) „Dünya Düzeni“, übersetzt durch. S. S. Gül, Boyner Yayınları, İstanbul, S. 396 und 408.

[7] In den USA wurde in einem RAND-Bericht aus den 1970er Jahren analysiert, dass die Sowjetunion Mitte der 1980er Jahre zusammenbrechen könnte. Also waren sich die USA und Großbritannien bewusst, dass das Regime der modernen Revisionisten in der UdSSR vor einem ernsten Dilemma stand.

[8] Siehe Brenner, R. (2007) „Ekonomide Hızlı Büyüme ve Balon – Dünya Ekonomisinde ABD’nin Yeri“, übersetzt durch B. Akalın, İletişim Yayınları, İstanbul, S. 49 ff.

[9] Holz, H. H. (1997) „Neoliberalismus – Falschmünzerei im Begriff”, Topos, Heft 9, Pahl-Rugenstein Verlag Nachfolger, Bonn, S. 88.

[10] Naumann, R. (1957) „Theorie und Praxis des Neoliberalismus“, Verlag Die Wirtschaft, Berlin.

[11] Siehe Selwyn, B. (2022) „Globale Wertschöpfungsketten, Arbeitsproduktivität und Löhne“, Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Frankfurt am Main, Ausg. 129, S. 62

[12] Selwyn, ebd., S. 64

[13] Intan Suwandi / R. Jamil Jonna / John Bellamy Foster: Wertschöpfungsketten: Ein empirisches Modell, Z. Zeitschrift, Ausg. 129, S. 51

Der referenzierte Bericht ist: ILO (2015) „World Employment and Social Outlook”, Genf, S. 143

[14] Christen, C. (2022) „Globalisierung revisited: Von Lieferkrisen und möglichen Strukturbrüchen“, Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Frankfurt am Main, Ausg. 129, S. 20 ff.

[15] Spremann, K. und P. Gantenbein (2017) „Finanzmärkte: Grundlagen, Instrumente, Zusammenhänge“,

UVK Verlag, München, S. 80.

[16] Die zehn größten Vermögensunternehmen der Welt verwalten heute 41,6 Billionen Dollar. In acht von diesen zehn Unternehmen sind die Hauptanteilseigner BlackRock und Vanguard aus den USA. In der „Geldgeschichte“ war zu keinem Zeitpunkt so viel Finanzmacht derart zentralisiert wie heute.

[17] Geben wir zu diesem Thema ein Beispiel von den weit hinter den US-Banken abgeschlagenen europäischen Banken: Bei Betrachtung des Anteils der von den Banken an Haushalte und Unternehmen vergebene Kredite an der Gesamtbilanz ist festzustellen, dass 2021 dieser Anteil gerade einmal bei 29,9 Prozent lag. Also versteht sich, dass über 70 Prozent der Bankaktivitäten sich nicht den Haushalten oder der „Realwirtschaft“ zuwendet. Siehe Peters, M. und M. Senn (2021) „Der Finanzsektor ist zu groß“, Finanzwende Recherche, Berlin.

[18] Die Zuwendung der Zentralbanken zur Nullzinspolitk zur „Belebung“ der Wirtschaft nach der Krise 2008 hat die Aufblähung des Finanzsektors zusätzlich angespornt. Das billiger werden des Geldes hat auch die Unternehmensverschuldung rasant erhöht. Die hohe Profitabschöpfung im Finanzsektor hat viele Unternehmen von der Produktion in diese Sparte gelenkt. Schätzungen zufolge umfassen heute die Unternehmenskredite real mehr als zwei Billionen Dollar. Die erneute Zinsanhebung erhöht zugleich die Insolvenzwahrscheinlichkeit besonders von extrem verschuldeten Unternehmen.

[19] Um unseren Artikel nicht zu überfrachten, verzichten wir auf die Einzelheiten dieses Themas und verweisen stattdessen auf folgende Artikel in unserer Zeitschrift: Koşar, A. (2019) „Huawei gerilimi, ticaret ve teknoloji savaşları“, Teori ve Eylem, Ausg. 32 und Cengiz, A. (2021) „Tahkimat ve dönüşüm zamanı”, Teori ve Eylem, Ausg. 52.

[20] Unter den imperialistischen Ländern vertieft sich die politische Polarisierung in den USA und im Zuge der jüngsten Entwicklungen zunehmend auch im Vereinigten Königreich. In diesen Ländern, in denen die Erosion der „Mittelschicht“ schon seit einiger Zeit zu beobachten ist, ist auch eine Wiederbelebung der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung zu beobachten. Insbesondere die Fähigkeit der britischen Arbeiterklasse, die vom neuen Kabinett Sunak vorbereiteten Angriffe abzuwehren, wird eine symbolische Bedeutung über Großbritannien hinaus haben.

[21] Marx, K. (1894) „Das Kapital: Dritter Band“, Marx-Engels-Werke, Bd. 25, Dietz Verlag, Berlin, 1964, S. 260

[22] Die zunehmenden wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten konnten durch die „Finanzblase“, die sich bis zur Krise 2008 aufblähte, zu einem gewissen Grad geschliffen werden. Mit den Worten des US-Politikwissenschaftlers Michael Barkun: „Die Ungleichheit wurde durch Kredite und steigende Immobilienwerte übertüncht. Solange die Menschen ihre Häuser als Geldautomaten nutzen konnten, war alles in Ordnung.“

Siehe Neumann, ebd., S. 137.

[23] In allen wichtigen fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern ist die Staatsverschuldung heute viel höher als in den 70er Jahren oder der Krise von 2008. In Japan beträgt das Verhältnis der Schulden zum BIP 257 Prozent, in Italien 155 Prozent, und auch in den USA und England über 100 Prozent (133 und 110 Prozent).

[24] Zu diesem Thema empfehlen wir insbesondere den Blick auf die Artikel der Evrensel-Kolumnistin und Dozentin am Fachbereich für China Studien der Xi’an Jiaotong-Liverpool Universität Ceren Ergenç. Folgendes sei vorweggenommen: Nach dem von der Biden-Regierung im vergangenen August beschlossenen CHIPS-Act (mit diesem 280 Milliarden schweren Subventionsprogramm wird die Stärkung der lokalen Halbleiterproduktion in den USA sowie der Unabhängigkeit der USA vom internationalen Chipmarkt beabsichtigt), beschloss sie im vergangenen Oktober direkte Exportbeschränkungen gegen China. Mit diesem die gesamte Halbleiterproduktion auf der Welt betreffenden Beschluss wird der Verkauf von US-Computerchips an China oder dem chinesischen Staat nahestehende Firmen verboten. Dieser nicht als ein gewöhnlicher Handelsbeschluss aufzufassende strategische Beschluss bedeutet eine neue Kampfansage gegen Chinas beabsichtigten Fortschritt in der Halbleiterproduktion und folglich im Gebiet der Technologie.

[25] Neumann, ebd., S. 135

[26] Enough is Enough. (2022). Demands. https://wesayenough.co.uk/demands/

[27] Bloomberg HT (2022) “Kriz kahini Roubini’den ‘karma kriz’ beklentisi”, https://www.bloomberght.com/kriz-kahini-roubini-den-karma-kriz-beklentisi-2317552

[28] Marx, K. (1852) „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, Marx-Engels-Werke, Bd. 8, Dietz Verlag, Berlin, 1960, S. 157