Eine Kritik an Poulantzas‘ Klassenanalyse

Übersetzt aus dem Türkischen.

Januar 2017 – Gekürzte Fassung

Arif Kosar

Nicos Poulantzas ist einer der wichtigsten Vertreter der post-althusserschen Tradition. Seine politische und theoretische Linie spiegelt den Kurs einer Strömung in der europäischen Linken wider, die als antimarxistisch bezeichnet werden kann. Die Rede ist von der postmarxistischen [1]  Strömung, deren wichtigste Vertreter Ernesto Laclau und Chantal Mouffe sind. Diese lehnt die Verbindung zwischen Sozialismus und Arbeiterklasse und den Einfluss der Produktionsverhältnisse auf die politisch-ideologischen Formationen der Gesellschaft ab und argumentiert stattdessen, dass Ideologie und „Diskurs“ soziale Gruppierungen und Bewegungen konstruieren. Fast alle wichtigen Themen dieser Bewegung finden sich in embryonaler Form bereits bei Poulantzas. Allerdings ist er nie so weit gegangen wie diese Strömung. Er war nicht der erste Vertreter des Postmarxismus, aber er war sein letzter großer Vorbote. [2]

Wie viele seiner Zeitgenossen war Poulantzas zunächst eher dem Maoismus zugeneigt. Die Kritik am Ökonomismus, die die Besonderheit und Autonomie der politischen Phänomene unterstrich und die auch seine Theorie kennzeichnete, war das Hauptmerkmal des Maoismus jener Zeit. Es war dieser Schwerpunkt des Maoismus, der das Interesse von Denkern wie Althusser auf sich zog. Wie viele andere, die in der Kulturrevolution [3] das Grundprinzip von Bewegungen wie der 68er-Revolte sahen, hatte Poulantzas eine große Affinität zu diesem Konzept. Die Auffassung gesellschaftlicher Transformation als Ergebnis der Ausweitung eines kulturellen und ideologischen „Umbruchs“ und Kampfes war die grundlegendste Form, die die Kulturrevolution im Westen annahm.  [4]

Während die Interpreten und „Schlussfolgerer“ der Kulturrevolution im Westen zu Recht betonten, dass es keine absolute Linearität zwischen der Wirtschaft und dem kulturellen Leben der Gesellschaft gibt, zerschlugen sie im Namen der Kritik am Ökonomismus die Beziehung zwischen den Produktionsverhältnissen und den verschiedenen Erscheinungsformen des gesellschaftlichen Lebens. Die Hauptthese von Poulantzas in seinem Buch Political Power and Social Classes war die Einheit des Staates und seine „relative Autonomie“ gegenüber der herrschenden Klasse. Unter Verwendung althusserscherBegrifflichkeiten unterscheidet er zwischen der bestimmenden Ebene und der dominanten Ebene der gesellschaftlichen Organisation. Während die dominante Ebene für jede soziale Organisation unterschiedlich sein kann, bestimmt die wirtschaftliche Ebene (die bestimmende Ebene) letztlich, welche Ebene die dominante Ebene ist. In einer kapitalistisch geprägten sozialen Organisation ist die dominante Ebene die politische Ebene, auch wenn sie „letztlich“ von der wirtschaftlichen Ebene bestimmt wird.

So wird die bestimmende Rolle der Produktions- und Ausbeutungsverhältnisse im gesellschaftlichen Leben auf die „letzte Instanz“ verlagert. Während politische Phänomene als „dominant“ definiert werden, wird der Zusammenhang mit den Produktionsverhältnissen abgeschwächt. Poulantzas zufolge ist der

 „Monopolkapitalismus dadurch gekennzeichnet, dass sich das Gewicht der kapitalistischen Produktionsweise von der Wirtschaft auf die Politik, d. h. auf den Staat, verlagert.“ [5]

Mit der Feststellung, dass im Monopolkapitalismus nicht der wirtschaftliche, sondern der politische Aspekt vorherrscht, ist ein entscheidender Schritt zur Umkehrung des Verhältnisses von Politik und Wirtschaft getan. Mit der Feststellung, dass in der Periode des „freien“ Wettbewerbs des Kapitalismus die Wirtschaft und in der Periode des Monopolkapitalismus die Politik beziehungsweise der Staat dominieren, bereitetPoulantzas den notwendigen Boden für die Schlussfolgerung, dass in der Praxis die Produktions- und Ausbeutungsverhältnisse (obwohl die Regel der „letzten Instanz“ beibehalten wird) nicht vorherrschen. [6]

Obwohl Poulantzas sich in seinem 1974 veröffentlichten Buch Klassen im Kapitalismus – heute vom Maoismus abwandte, verfolgte er den von ihm eingeschlagenen Weg weiter. Die Autonomie der politischen und ideologischen Ebene, die später von Postmarxisten auf die Spitze getrieben wurde, rückte nach und nach in den Mittelpunkt seiner Arbeit. Sie bildete das Rückgrat seiner Klassenanalyse und seines Staatsverständnisses.

In diesem Buch geht es Poulantzas ausdrücklich darum, die Theorie der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF) vom „staatsmonopolistischen Kapitalismus“ zu kritisieren. Laut Poulantzas enthält die KPF-Doktrin einige Fehler. Diese Doktrin greift die Beziehung zwischen Staat und Monopolkapital als einfache Verschmelzung auf und ignoriert damit die Tatsache, dass der Staat ein Machtblock ist, der sich aus unterschiedlichen Kapitalfraktionen zusammensetzt und nicht ausschließlich aus der Fraktion des Monopolkapitals. Die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus schenkt damit den Klassenwidersprüchen, die die Bourgeoisie insgesamt vom „Volk“ unterscheiden, nicht die gebührende Aufmerksamkeit. Vielmehr werden alle nicht-monopolistischen Interessen den Volksmassen zugeordnet. Während Poulantzas‘ Kritik die Strategie des „antimonopolistischen Bündnisses“ der KPF sprengt, stimmt er doch in anderen Punkten wie der Ummünzung des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeiterklasse auf einen Widerspruch zwischen einem „Herrschaftsblock“ und „Volksbündnissen“, der Predigt des Übergangs zum Sozialismus durch die „Transformation“ des bürgerlichen Staates und der Neutralisierung der Arbeiterklasse, indem sie auf eine kleine Gruppe reduziert wird, mit dem Eurokommunismus der KPF überein. Zwar unterscheidet sich Poulantzas‘ „linker Eurokommunismus“ in einigen wichtigen Punkten von ihrer ursprünglichen Doktrin, aber dennoch haben sie mehr gemein als sie trennt, was wichtige Konsequenzen für die marxistische Theorie hat. Als logische Konsequenz dieser Ansichten vollzieht Poulantzas allmählich seinen Übergang vom „linken Eurokommunismus“ zum Eurokommunismus, insbesondere in seinem letzten Buch Staat, Macht, Sozialismus. Seiner Meinung nach könne auch der Staat ein wichtiger Kampfplatz sein, da er von Konflikten innerhalb und zwischen den Klassen geprägt sei. Anstatt den Staat durch einen Angriff von außen zu zerstören, rezipierte er den Weg, ihn durch Volkskämpfe zu beeinflussen, um so die Demokratisierung und den Übergang zum Sozialismus zu gewährleisten. Damit nahm er eine Haltung ein, die dem klassischen Eurokommunismus nahestand. [7]

Der Ansatz, die sozialen Phänomene aus der politischen Ökonomie herauszulösen und ihnen eine autonome und zunehmend unabhängige Rolle zuzuweisen, wirkte sich unmittelbar auf die Klassenanalyse von Poulantzas aus. Durch die Dominanz des politischen Aspekts wurden die Produktionsverhältnisse aus der zentralen Position der Gesellschaftsanalyse entfernt. Ihm zufolge ist nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die politische und die ideologische Ebene für die Bestimmung der Klassen wirksam. Aus diesem Grund sei bei der Differenzierung der Klassen manchmal die wirtschaftliche Ebene und manchmal die ideologische Einstellung dominant. Poulantzas ersetzt also die Produktions- und Ausbeutungsverhältnisse als klassenbestimmendes Element durch ideologische und politische Verhältnisse. Während er weiterhin behauptete, dass die ökonomische Ebene in letzter Instanz entscheidend sei, wurde dies zu einer bloßen Behauptung. Die politisch-ideologische Spaltung ist somit in den Mittelpunkt seiner Klassenanalyse gestellt. Eine wichtige Motivation für diese Klassenanalyse war das Ziel, die eurokommunistische Strategie des „Volksbündnisses“ theoretisch zu rechtfertigen.

In diesem Artikel werden die wichtigsten Aspekte der Klassenanalyse von Poulantzas erörtert. Seine Beschränkung der Arbeiterklasse auf die produktive Arbeit, seine Definition der Klassen durch ideologische Trennungen und das Konzept des „neuen Kleinbürgertums“ werden einer kritischen Prüfung unterzogen. Poulantzas‘ Staatstheorie, die den Schwerpunkt seines Werkes bildet, wird jedoch nur insofern behandelt, wie sie in direktem Zusammenhang mit seiner Klassenanalyse steht.

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Obwohl er später auf Differenzen hinwies, schrieb Poulantzas seine Hauptwerke unter dem Einfluss von Althusser. Man kann sagen, dass die Hauptmotivation des Althusserianismus darin bestand, den Marxismus „von der Hegelschen Dialektik zu reinigen“ und „den Ökonomismus anzugreifen“. Auf der Grundlage dieser Punkte wollte Althusser einen „strukturalistischen Marxismus“ schaffen, der nicht historisch war und das handelnde Subjekt aus der Theorie entfernte.

Althusser stellt die Strukturen über das Subjekt. Ihm zufolge bestehen diese Strukturen selbst aus drei Ebenen: der wirtschaftlichen, der politischen und der ideologischen. Anstatt eine der Ebenen als zentrale Ebene zu bezeichnen [8], unterscheidet Althusser zwischen dominanten und determinierenden Ebenen innerhalb der gesellschaftlichen Organisation. Die dominante Ebene kann für jede gesellschaftliche Formation unterschiedlich sein, aber es ist die determinierende Ebene, die die dominierende Ebene bestimmt. Die determinierende Ebene ist die für alle gesellschaftlichen Formationen konstante,ökonomische Ebene. Es kann viele Widersprüche geben, die sich aus den drei Ebenen ergeben; diese Widersprüche können sich sogar gegenseitig beeinflussen, sodass sie sich aufaddieren, ‚verdichten‘ oder ‚verschieben‘. Diese Momente werden von mehreren Faktoren bestimmt, aber dennoch ist die ökonomische Ebene, die bestimmende Ebene, ‚letztlich‘ determinierend.

Nach Poulantzas, der sich von diesen althusserschen Themen und Konzepten inspirieren ließ, sind soziale Klassen weder das Subjekt der Geschichte noch der Transformator des sozialen Gebildes. Für ihn ist das gesellschaftliche Gebilde keine Frage der Klasse, sondern der Struktur. Die Klasse ist die Manifestation der Struktur in den sozialen Beziehungen. Der eigentliche Schwerpunkt der Widersprüche liegt zwischen den Strukturen und den Ebenen der Strukturen. Das Handeln von Klassen, ja sogar ihre Existenz, ist ein Ergebnis der strukturellen Beziehungen. Die Klasse ist lediglich ein Spiegelbild dieser Widersprüche. Sie wird jedoch nicht nur auf der ökonomischen Ebene bestimmt, sondern auch im Zusammenspiel mit der ideologischen und politischen Ebene. Gegen die „historisierende“ Interpretation, die die Klassen in den Mittelpunkt stellt, sucht Poulantzas eine strukturalistische Antwort, die die Struktur in den Vordergrund stellt und die Klassen als Ergebnis der ökonomischen, politischen und ideologischen Strukturebene betrachtet.

Poulantzas betont in seinem Artikel On Social Classes unmittelbar nach der Feststellung, dass „die wirtschaftliche Position der sozialen Akteure eine dominante Rolle bei der Bestimmung sozialer Klassen spielt“[9], dass dies nicht die einzige Determinante ist:

„Wir können daraus jedoch nicht schließen, dass die wirtschaftliche Stellung ausreicht, um soziale Klassen zu bestimmen. Der Marxismus besagt, dass in einer Produktionsweise oder einer gesellschaftlichen Formation das Ökonomische eine entscheidende Rolle spielt, aber auch das Politische und Ideologische (Überbau) eine wichtige Rolle spielen“. [10]

Poulantzas präsentiert eine spezifische Problematik der Klassenbestimmung vermischt mit einer allgemeinen Aussage über die Rolle der politischen und ideologischen Beziehungen. Poulantzas erinnert uns daran, dass im Marxismus „das Ökonomische entscheidend ist“, und er hat Recht, wenn er sagt, dass „der politische und ideologische (Überbau) ebenfalls eine wichtige Rolle spielt“. Diese allgemeine Wahrheit hat jedoch keine direkte Auswirkung auf die spezifische Problematik der sozialen Klassen. Denn es geht nicht darum, ob die Klassen durch ideologische und politische Beziehungen beeinflusst werden oder nicht, sondern um die „Kriterien“ und Beziehungen, nach denen die Klassen definiert werden.

In Anbetracht der Tatsache, dass jedes soziale Phänomen miteinander verbunden ist, kommuniziert und interagiert, ist natürlich nichts „Soziales“ unabhängig von politischen und ideologischen Einflüssen oder wirtschaftlichen Prozessen. Es gibt nicht nur eine äußere, sondern auch eine innere Beziehung zwischen gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen und „politischen“ und „ideologischen Ebenen“. Ideologie und Politik werden nicht nur durch politische Organisationen wie den Staat, politische Parteien usw. geprägt, sondern innerhalb des Produktionsprozesses selbst und als Teil desselben. Die Tatsache, dass alle gesellschaftlichen Phänomene von verschiedenen Ebenen des gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozesses beeinflusst werden, hebt weder die Einzigartigkeit dieser gesellschaftlichen Phänomene auf, noch erfordert sie die Einbeziehung all dieser Ebenen in ihre Definition.

Dazu gehören auch soziale Klassen. Poulantzas‘ Fehler besteht nicht in der Feststellung, dass jedes Phänomen unter dem Einfluss politischer und ideologischer Determination steht, sondern in der Unterordnung der entscheidenden Rolle der Produktions- und Ausbeutungsverhältnisse bei der Bildung von Klassen durch seine Hervorhebung der politischen und ideologischen Ebene. So behandelt er die Klassen als das gemeinsame Resultat aller drei Ebenen, in Wirklichkeit aber definiert er sie durch politisch-ideologische Unterteilungen.

Der kritische Eingriff der Klassenanalyse von Poulantzas besteht darin, dass er die zentrale Stellung der Produktionsverhältnisse auf die politisch-ideologischen Verhältnisse überträgt. Obwohl er die „ökonomische Ebene“ als Ausgangspunkt nimmt, verliert dieser Punkt, wie wir in den folgenden Abschnitten sehen werden, angesichts der ideologischen Unterteilungen seine Wirkung. Er wird zweitrangig oder sogar unwirksam.

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Gehen wir von Poulantzas‘ Ausgangspunkt aus:

Er beginnt seine Analyse mit einer höchst umstrittenen These, die bewiesen werden müsste: Ihm zufolge ist es vor allem die Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit, die die Arbeiterklasse vom Kleinbürgertum trennt: Zur Arbeiterklasse gehören nur die produktiven Arbeiter, während die unproduktiven Lohnarbeiter Mitglieder des neuen Kleinbürgertums sind:

Produktive Arbeit in der kapitalistischen Produktionsweise ist Arbeit, die Tauschwert in Form von Warenund Mehrwert (immer in Form von Gebrauchswert) produziert. Dies ist genau die Art und Weise, wie die Arbeiterklasse in der kapitalistischen Produktionsweise ökonomisch definiert ist: Die produktive Arbeit steht in direktem Zusammenhang mit der Spaltung der Produktionsverhältnisse zwischen den Klassen.“ [11 – Fettmarkierungen A.K.]

Diese Beschränkung der Arbeiterklasse auf produktive Arbeit ist der erste Schritt in Poulantzas‘ Analyse. Der zweite Schritt ist die Einbeziehung der außerhalb der Arbeiterklasse definierten unproduktiven Arbeitskräfte in das „neue Kleinbürgertum“ nach ideologischen und politischen Kriterien. Darüber hinaus wird die produktive Arbeit noch einmal nach politisch-ideologischen Kriterien in Kopf- und Handarbeiter unterteilt. „Ingenieure und Techniker können insgesamt nicht als zur Arbeiterklasse gehörig betrachtet werden“. [12] So werden auch die Kopfarbeiter als neues Kleinbürgertum charakterisiert.

Tabelle 1: Poulantzas‘ Definition der Arbeiterklasse

unproduktive

Arbeit

Intellektuelle

Arbeit

Kontroll-befugnis Entscheidungs-

befugnis

Ergebnis
Nein Nein Nein Nein Arbeiter per Definition von Poulantzas
Ja         oder Ja          oder Ja    oder Ja Neues Kleinbürgertum

Quelle: Wright, Erik Olin (2016): Sınıflar, 1. Aufl., Istanbul: Notabene Yayınları, S. 181. (Orig.: Classes, London 1985)

Poulantzas, der Klassen sowohl nach ökonomischen als auch nach politischen und ideologischen Kriterien definiert, stellt somit ein dreidimensionales Klassenschema vor. Nach ihm können unproduktive Arbeitskräfte, die nicht am Produktionsprozess, sondern an der Verwertung und Umverteilung des Mehrwerts beteiligt sind (ökonomisches Kriterium), nicht zur Arbeiterklasse gezählt werden. Abgesehen davon ist die Verwaltungsarbeit, die Managementfunktionen wahrnimmt, aufgrund ihrer koordinierenden und integrierenden Rolle im Produktionsprozess im Wesentlichen produktive Arbeit; sie gehört jedoch nicht zur Arbeiterklasse, da sie die Reproduktion des politischen Verhältnisses zwischen den beiden Klassen im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung übernimmt (politisches Kriterium). Ebenso werden leitende Angestellte wie Ingenieure und Techniker als außerhalb der Arbeiterklasse stehend betrachtet, weil sie die direkten Träger der ideologischen Herrschaft des Kapitals sind (ideologisches Kriterium).

Die marxistische Behandlung von Klassen auf der Grundlage von Produktions- und Ausbeutungsverhältnissen und das „ökonomische Kriterium“, das Poulantzas in seiner Klassenanalyse verwendet, sind völlig verschieden voneinander. Wenn man davon ausgeht, dass die Klassen aus sozioökonomischen Gründen unterteilt sind und eine Analyse auf der „ökonomischen Ebene“ vorgenommen werden soll, wie Poulantzas argumentiert, hätte sie nicht mit der Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit, sondern mit den auf Ausbeutung beruhenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen beginnen müssen. Die „ökonomische Ebene“ im Marxismus bezieht sich auf die gesellschaftlichen Produktions- und Ausbeutungsverhältnisse, nicht auf Unterscheidungen wie Einkommen, technisches Qualifikationsniveau, Marktchancen, Kontrollbefugnisse am Arbeitsplatz oder unproduktive Arbeit. Insofern ist das „ökonomische Niveau“ ein willkürliches ökonomisches Kriterium.

So treten in Poulantzas‘ Klassenanalyse vier Punkte in den Vordergrund, die es zu diskutieren gilt:

  • Die Definition der Arbeiterklasse im ersten Schritt nur durch produktive Arbeit,
  • Die Eingrenzung der produktiven Arbeit auf die industrielle Arbeit,
  • Die Definition der unproduktiven Arbeit als Neues Kleinbürgertum, und zwar auf einer rein „ideologischen“ Ebene,
  • Ebenso die Definition eines Teils der produktiven Arbeitskräfte als außerhalb der Arbeiterklasse aufgrund „politisch-ideologischerKriterien“: die Unterscheidung zwischen Kopf- und Handarbeit.

Im Folgenden wird es zunächst um die Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit gehen. Danach wird der Ansatz von Poulantzas, der nur industrielle Arbeit als produktiv akzeptiert, in Frage gestellt und die Definition der Arbeiterklasse durch produktiveArbeit kritisiert. Im zweiten Teil des Artikels wird die Klassifizierung von unproduktiven Arbeitern und produktiven Kopfarbeitern als „neues Kleinbürgertum“ nach Poulantzas‘ „politisch-ideologischen Kriterien“ diskutiert.

PRODUKTIVE UND UNPRODUKTIVE ARBEIT

Im Zentrum der kapitalistischen Wirtschaft steht der Prozess der Akkumulation, der auf der ununterbrochenen Produktion von Mehrwert und der Rückverwandlung dieses Mehrwerts in Kapital beruht. Das Ziel des Akkumulationsprozesses ist nicht nur die Reproduktion des zuvor geschaffenen Werts, sondern auch die Produktion von Mehrwert und die Rückverwandlung dieses Mehrwerts im Dienst der Kapitalakkumulation. Um den Prozess der Selbstexpansion fortzusetzen, muss das Kapital mit einer bestimmten Art von Arbeit, die in der Lage ist, auf der Grundlage eines bestimmten gesellschaftlichen Verhältnisses Mehrwert zu produzieren, in einen Austausch treten.

Welche Art von Arbeit produktiv ist, ist entscheidend für die Analyse der kapitalistischen Produktion. Nach Marx ist der

„Unterschied von produktiver und unproduktiver Arbeit wichtig mit Bezug auf die Akkumulation, da nur der Austausch gegen produktive Arbeit eine der Bedingungen der Rückverwandlung von Mehrwert in Kapital ist.“ [13]

Was aber meint Marx konkret mit produktiver Arbeit?

Damit eine Art von Arbeit produktiv ist, muss sie zunächst einmal Waren produzieren. Wenn als Ergebnis des Arbeitsprozesses nicht Tauschwert (d.h. Ware), sondern nur Gebrauchswert produziert wird, ist diese Arbeit nicht produktiv. Eine Bauernfamilie, die Obst und Gemüse für den Eigenbedarf produziert, ist aus kapitalistischer Sicht nicht produktiv. Oder eine Reinigungskraft, die zu einer Zeit fest bei der Gemeinde angestellt war, als die Privatisierung die Gemeinden noch nicht in diesem Ausmaß erfasst hatte, ist nicht produktiv, weil die von ihr erbrachte Reinigungsleistung nicht zu einer auf dem Markt verkauften Ware geworden ist.

Zweitens reicht die Tatsache, dass Waren produziert werden, nicht aus, damit diese Arbeit produktiv ist. Kleine Warenproduzenten wie Kleinbauern, Handwerker, Freiberufler usw. produzieren keinen Mehrwert. Denn sie verkaufen das Produkt ihrer Arbeit auf dem Markt, nicht ihre eigene Arbeitskraft. Der Mehrwert, die Arbeitskraft, kann nur produktiv sein, wenn sie eingesetzt wird, um mehr als ihren eigenen Wert zu produzieren.

Drittens ist auch der Lohneinsatz der Arbeitskraft nicht ausreichend für die Produktion von Mehrwert. Damit die Arbeitskraft produktiv ist, ist es im Allgemeinen nicht notwendig, dass sie gegen Lohn eingesetzt wird, sondern dass sie gegen Kapital getauscht, d.h. für die Vermehrung des Kapitals eingesetzt wird [14].

„Produktive Arbeit tauscht sich direkt mit Geld als Kapital aus, d. h. mit Geld, das an sich Kapital ist, die Bestimmung hat als Kapital zu funktionieren und dem Arbeitsvermögen als Kapital gegenübertritt. Produktive Arbeit ist also solche, die für den Arbeiter nur den vorherbestimmten Wert seines Arbeitsvermögens reproduziert, dagegen als wertschaffende Tätigkeit das Kapital verwertet, die von ihr geschaffenen Werte dem Arbeiter selbst als Kapital gegenübersetzt. Das spezifische Verhältnis zwischen der vergegenständlichten und lebendigen Arbeit, das die erste zu Kapital, macht die letztere zu produktiver Arbeit.“ [15]

Nach Marx ist die Arbeitskraft produktiv, wenn sie direkt gegen Kapital getauscht wird, d.h. wenn sie in der Investition des Kapitals zur Produktion von Waren eingesetzt wird.

Diese Arbeitskraft „als lebendiger Faktor dem Produktionsprozess des Kapitals unmittelbar einverleibt, wird selbst einer seiner Bestandteile, und zwar der variierende, der nicht nur die vorgeschossenen Kapitalwerte teils erhält, teils reproduziert, sondern zugleich vermehrt […].“ [16]

Aber gibt es einen Teil der Arbeitskräfte, der nicht direkt am Produktionsprozess des Kapitals beteiligt ist?

Ja, es gibt ihn. Ein Teil der Arbeiterklasse produziert Dienstleistungen oder Waren nicht für die direkte Produktion (d. h. den Verkauf) von Waren, sondern für die Verwendung in persönlichen Dienstleistungen. Wenn zum Beispiel eine Reinigungskraft ein Haus gegen einen monatlichen Lohn vom Eigentümer reinigt, ist diese Arbeitskraft nicht produktiv. Da die Dienstleistung der Reinigungskraft, d. h. die Reinigung des Hauses, vom Eigentümer nicht als Ware auf den Markt gebracht werden kann, hat sie nicht die Funktion, sein „Kapital“ zu erweitern. Wenn dieselbe Arbeitskraft jedoch als Angestellte einer Reinigungsfirma drei Tage pro Woche ein anderes Haus reinigt, ist sie produktiv. Der Lohn des Arbeiters wird nicht gegen das Einkommen des Eigentümers, sondern gegen das Kapital des Reinigungsunternehmens getauscht. Indem die Arbeitskraft des Arbeiters mehr als ihren eigenen Wert in Form von Waren realisiert, ermöglicht sie die Vermehrung des Kapitals des Reinigungsunternehmens. Daher ist die Arbeit, die in der Beziehung zwischen dem Eigentümer (Einkommensbesitzer) und dem Arbeiter nicht produktiv ist, in der Beziehung zwischen dem Kapitalisten (Kapital) und dem Arbeiter produktiv.

Ob ein Arbeiter produktiv ist oder nicht, hängt nicht von der Art seiner Arbeit oder den Eigenschaften seiner Arbeitskraft ab. Ein Arbeiter, der dieselbe Arbeit verrichtet, kann produktiv oder unproduktiv sein, je nach dem Ort seiner Beschäftigung innerhalb der kapitalistischen Produktion. Es ist möglich, dass ein und derselbe Arbeiter Gartenarbeit, Schneiderei usw. entweder im Dienste eines Kapitalisten oder eines Verbrauchers verrichtet. In beiden Fällen ist er ein Lohnarbeiter. Aber

„in dem einen Fall ist er produktiver, in dem andern unproduktiver Arbeiter, weil er in dem einen Fall Kapital produziert, in dem andern nicht; weil in dem einen Fall seine Arbeit ein Moment des Selbstverwertungsprozesses des Kapitals bildet, in dem andern nicht.“ [17]

Wie man sieht, ist jeder produktive Arbeiter in einem Lohnverhältnis, aber nicht jeder Lohnarbeiter ist produktiv. Da es im Zirkulationsbereich keine Wertproduktion gibt, muss die Arbeit, um produktiv zu sein, nicht nur gegen Kapital (z. B. Handelskapital), sondern auch gegen Kapital, das in der Produktionssphäre tätig ist, ausgetauscht werden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Arbeitskraft produktiv ist, wenn sie gegen das in der Produktion eingesetzte Kapital getauscht wird (für das Kapital beschäftigt wird) und unproduktiv ist in den anderen Fällen.

WIRD MEHRWERT NUR IN DER INDUSTRIE GESCHAFFEN?

Bei der Beschränkung der Arbeiterklasse auf produktive Arbeiter stützt sich Poulantzas auf die These, dass Mehrwert nur im industriellen Sektor produziert wird. Es ist eine weit verbreitete Ansicht, dass Mehrwert nur von Industriearbeitern und nicht im Dienstleistungssektor produziert wird. 

Dies ähnelt dem Ansatz der vormarxistischen politischen Ökonomie, die Wert und Mehrwert mit einem physischen Produkt gleichsetzte. Die Physiokraten sahen den Mehrwert als ein Geschenk des Bodens durch die landwirtschaftliche Arbeit, einen Gebrauchswert und ein physisches Produkt. Im Gegensatz zu den Physiokraten betonte Smith, einer der Begründer der klassischen politischen Ökonomie, dass der Mehrwert kein Geschenk der Natur, sondern ein Produkt der Arbeit sei, aber diesmal setzte er ihn, ähnlich wie die Physiokraten, mit dem materiellen Produkt gleich. Mit der von ihm vorgenommenen Verallgemeinerung sagte er, dass Dienstleistungsarbeit nicht produktiv sein könne:

„Dagegen fixiert oder realisiert die Arbeit des Dienstboten sich durchaus in keinem bestimmten Gegenstand, in keiner verkäuflichen Ware. Seine Dienste gehen gewöhnlich im Augenblick ihrer Leistung zugrunde und lassen selten eine Spur oder einen Wert zurück, wofür ein gleiches Maß von Diensten später beschafft werden könnte.Die Arbeit einiger der achtbarsten Klassen der menschlichen Gesellschaft ist geradeso wie die der Dienstboten in Bezug auf einen Wert unproduktiv. […] Geistliche, Juristen, Ärzte, Gelehrte aller Art; Schauspieler, Possenreißer, Musiker, Opernsänger, Balletttänzerinnen usw. […] die Arbeit der edelsten und nützlichsten unter ihnen bringt durchaus nichts hervor, wofür sich später eine gleiche Quantität Arbeit kaufen oder beschaffen ließe. Wie die Deklamation eines Schauspielers, der Vortrag eines Redners oder das Tonstück eines Musikers, so geht das Erzeugnis aller übrigen im Augenblick der Produktion selber zugrunde.“ [18]

Solange keine Ware produziert wird, hat Smith Recht, wenn er von der Arbeit des Dieners oder des Geistlichen spricht. Allerdings beschränkt er seine Analyse nicht auf den Diener, der gegen Einkommen getauscht und in den Dienst des persönlichen Konsums gestellt wird, sondern weitet sie auf die Dienstleistungsarbeit aus, die sich „in keinem bestimmten Gegenstand, in keiner verkäuflichen Ware“ fixiert und Waren für das Kapital produziert. Die beiden „Formen der Dienstleistung“ sind also in Bezug auf die Produktivität diametral entgegengesetzt. Smith betrachtet die Produktion von Dienstleistungen jedoch nicht als produktiv, weil er den Mehrwert in einer physischen Ware sucht. [19]

Poulantzas beging wie Smith und bis zu einem gewissen Grad auch die Physiokraten den Fehler, den Mehrwert als verkörperte physische Ware zu definieren. Marx definierte den Mehrwert jedoch nicht als materielles Produkt, sondern betrachtete ihn im Verhältnis zwischen Arbeiter und Kapitalist.

Poulantzas‘ Ansicht, dass die Arbeiterklasse auf die produktive Arbeit und aus diesem Grund auf die Industriearbeiter beschränkt werden sollte, hängt auch damit zusammen, dass er den Marx’schen Ansatz zur produktiven Arbeit nicht verstanden hat.

Poulantzas macht sich die Breite des Konzepts zunutze und behauptet wie folgt, dass der Dienstleistungssektor nicht produktiv ist:

„Das wichtige Element in der Definition der produktiven Arbeit ist die Ware (der Mehrwert), während die Lohnarbeiter im Handel, in den Banken, in den Werbeagenturen, in der Dienstleistungsindustrie usw. nicht zu den produktiven Arbeitern zählen. Das liegt daran, dass ein Teil von ihnen zur Zirkulationssphäre gehört, während die übrigen keinenMehrwert produzieren, sondern nur zu seiner Realisierung beitragen.“ [20]

Poulantzas hat Recht, dass in der Zirkulations- und Finanzsphäre (Handel, Banken usw.) kein neuer Wert geschaffen wird. Allerdings kann die Produktion von Dienstleistungen nicht mit der Zirkulation von Kapital gleichgesetzt werden. Zum Beispiel wird die Reinigungsarbeit im Allgemeinen zur „Dienstleistungs“-Industrie gezählt. Aber die Reinigungsarbeit hat nichts direkt mit der Zirkulation des Kapitals zu tun. Wenn sie von einem Kapitalisten organisiert wird, um die Ware „Dienstleistung“ zu produzieren, handelt es sich um direkte Produktion, nicht um indirekte Produktion.

In diesem Artikel wird der Begriff des „Dienstleistungssektors“ in verschiedenen Auslegungen verwendet. Dies liegt daran, dass die bürgerliche Wirtschaftswissenschaft im Einklang mit der Ideologie der „postindustriellen Gesellschaft“ und der „Informationsgesellschaft“ den Dienstleistungssektor überschätzt und viele industrielle Bereiche dem Dienstleistungssektor zurechnet. Seit den Studien zur postindustriellen Gesellschaft dominiert in der wirtschafts- und arbeitsökonomischen Literatur das, was Ursula Huws als „Glaube an den Anstieg der Dienstleistungen“ [21] bezeichnet.

Wie Harry Braverman jedoch hervorhebt, ist die strenge und wissenschaftliche Definition des Begriffs „Dienstleistungen“ viel begrenzter als die übliche Verwendung durch statistische Ämter und Wirtschaftswissenschaftler. So ist beispielsweise die Arbeit, die in einem Restaurant beim Kochen, Zubereiten, Abholen, Servieren, Abwaschen usw. eingesetzt wird, ebenso wie die Arbeit, die in einem Fertigungsprozess eingesetzt wird, mit der materiellen Produktion befasst und erzeugt einen Mehrwert. Die Tatsache, dass der Verbraucher/Kunde in einem Restaurant an einem Tisch sitzt, macht den Unterschied zwischen diesem „Dienstleistungs“-Gewerbe und den lebensmittelverarbeitenden Industrien, die als verarbeitendes Gewerbe eingestuft werden, aus, ändert aber nichts an der Art der Produktion. Wäschereibeschäftigte, Beschäftigte in Reinigungs- und Bügelbetrieben, in Kfz-Werkstättenund in der Wartung/Reparatur von Haushaltsgeräten und Maschinen sind andere Arten von Beschäftigten, die dieselben Tätigkeiten ausüben wie viele Beschäftigte des verarbeitenden Gewerbes. Sie werden beruflich auf die gleiche Weise klassifiziert, aber in der Statistik werden sie dem Dienstleistungssektor zugerechnet. Der Transport wird oft in den Dienstleistungssektor einbezogen, obwohl der Prozess des Warentransports vom Produktionsstandort zum Verbraucher einen direkten Teil des Produktionsprozesses darstellt. Eine Änderung des Standorts der Ware bedeutet eine Änderung eines direkten physischen Merkmals der Ware. Die Zimmermädchen, die in Hotels arbeiten, sind, obwohl sie dem Dienstleistungssektor zugerechnet werden, an einer konkreten Produktion beteiligt, da sie ein unordentliches und verschmutztes Zimmer materialisieren, indem sie es nutzbar machen, jenseits einer sofort konsumierten und immateriellen Dienstleistung. Es lassen sich noch viele weitere Beispiele für konkrete Leistungen von Berufen wie Hausmeistern, Krankenhausmitarbeitern, Tagelöhnern, Reinigungskräften, Geschirrspülern usw. anführen. Aus diesem Grund wird bei der Verwendung des Begriffs des Dienstleistungssektors oben genanntes berücksichtigt. [22]

Die umstrittenen Aspekte beiseitegeschoben existiert in der Tat eine als Dienstleistungssektor bezeichnete Branche, in dem die positiven Auswirkungen der Arbeit nicht im Objekt verkörpert sind und der produzierte Nutzen unmittelbar konsumiert wird; dazu gehörenBildung, Gesundheit, Unterhaltung, Kinder- und Altenpflege usw. Trotzdem stellte Marx fest, dass Tätigkeiten in vielen Bereichen, die dem Dienstleistungssektor zugerechnet werden, ebenfalls Mehrwert produzieren können, sodass die in diesen Bereichen Tätigen produktive Arbeitskräfte sein können. Der Grund dafür ist, dass die Produktion von Mehrwert nicht an die konkrete Form der Arbeit gebunden ist. Für den Kapitalisten spielt es keine Rolle, ob die Ware eine Dienstleistung oder ein Produkt ist, wichtig ist, dass die Ware zur Vermehrung seines Kapitals produziert und er sich damit des Mehrwerts bemächtigen kann.

Marx erklärte mit direkten Beispielen, dass viele Tätigkeiten im Dienstleistungssektor Mehrwert produzieren. Das von Marx angeführte Beispiel des Schriftstellers als produktiver Arbeiter lautet wie folgt:

„Milton, who did the paradise lost, war ein unproduktiver Arbeiter. Der Schriftsteller dagegen, der Fabrikarbeit für seinen Buchhändler liefert, ist ein produktiver Arbeiter. Milton produzierte das Paradise lost, wie ein Seidenwurm Seide produziert, als Betätigung seiner Natur. Er verkaufte später das Produkt für 5 d. und wurde insofern Warenhändler. Aber der Leipziger Literaturproletarier, der auf Kommando seines Buchhandlers Bücher, z. B. Kompendien über Politische Oekonomie produziert, ist annähernd ein produktiver Arbeiter, soweit seine Produktion unter das Kapital subsumiert ist und nur zu dessen Verwertung stattfindet.“ [23 – Fettmarkierungen durch A.K.]

Beispiel für eine Sängerin:

„Eine Sängerin, die wie der Vogel singt, ist ein unproduktiver Arbeiter. Wenn sie ihren Gesang für Geld verkauft, ist sie sofern Lohnarbeiter oder Warenhändler. Aber dieselbe Sängerin, von einem entrepreneur engagiert, der sie singen lässt um Geld zu machen, ist ein produktiver Arbeiter, denn sie produziert direkt Kapital.“ [24]

Und das Beispiel des Erziehers:

Ein Schulmeister, der andre unterrichtet, ist kein produktiver Arbeiter. Aber ein Schulmeister, der als Lohnarbeiter in einem Institut mit andern engagiert ist, um durch seine Arbeit das Geld des Entrepreneurs der knowledge mongering institution zu verwerten, ist ein produktiver Arbeiter.“ [25]

Diese Beispiele lassen sich weiterführen. Poulantzas‘ Feststellungen, die unter Berufung auf Marx die Dienstleistungsproduktion in die Zirkulationssphäre einbeziehen und die Arbeit in diesem Bereich von den produktiven Arbeitern ausschließen, sind eindeutig falsch. Indem Marx die Produktion des Mehrwerts aus ihrer Abhängigkeit vom Produkt in diesem oder jenem Sektor herauslöste, behandelte er sie auf der Grundlage des Ausbeutungsverhältnisses zwischen dem Arbeiter und dem Kapitalisten.

Trotz dieser klaren Aussagen hat sich, unter Berufung auf Marx, die These, dass eine besondere Art von Arbeit im Produktionsprozess, wie die Dienstleistungsarbeit, unter keinen Umständen produktiv sein kann, weitgehend durchgesetzt.

Da bei der Erbringung von Dienstleistungen Produktion und Verbrauch gleichzeitig stattfinden, wird kein greifbares, physisches Produkt erzeugt. Das grundlegende Element, das eine Ware definiert, ist jedoch nicht, dass sie ein materielles Produkt ist, sondern dass sie einen Gebrauchs- und einen Tauschwert hat. In diesem Rahmen sind Arbeitskräfte, die im Dienstleistungssektor arbeiten, wie Hotelangestellte, Restaurantangestellte oder Mitarbeiter von Reinigungsfirmen, produktive Arbeitskräfte, da sie Mehrwert produzieren. Mit der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheit (oder ihrer Kommerzialisierung, wenn auch nur teilweise und obwohl sie sich in öffentlicher Hand befinden) sind Arbeitnehmer wie Lehrer, Krankenschwestern und Ärzte, die in diesen Sektoren arbeiten, ebenfalls zu produktiven Arbeitskräften geworden.

WARUM HAT MARX DIE PRODUKTION VON DIENSTLEISTUNGEN AUSGEKLAMMERT?

In seinen Analysen der kapitalistischen Produktionsweise, insbesondere in seinem Hauptwerk „Das Kapital“, ließ Marx die Dienstleistungsproduktion aus seinen Berechnungen heraus und stellte die industrielle Produktion in den Mittelpunkt.

Wenn also Mehrwert im sogenannten Dienstleistungssektor produziert wird, warum hat Marx dann den industriellen Sektor in den Mittelpunkt all seiner Werke gestellt?

Marx‘ Vorgehen ist berechtigt. Im 19. Jahrhundert, als er sein Werk verfasste, fand die Produktion von Dienstleistungen im Allgemeinen und die Produktion von Dienstleistungen als kapitalistische Ware noch in einem sehr begrenzten Rahmen statt. Die kapitalistischen Verhältnisse waren noch nicht in diesen Bereich eingedrungen.

Auf einer hohen Abstraktionsebene, die sich mit den heiklen Fragen der kapitalistischen Produktionsweise befasst, und für die Zwecke der Analyse vernachlässigte Marx die „kapitalistische Dienstleistungsproduktion“, die im 19. Jahrhundert wenig ausgeprägt war. So wie er bei der Behandlung von Phänomenen wie der notwendigen Arbeitszeit, dem gesellschaftlichen Gesamtmehrwert und der durchschnittlichen Profitrate die kleine Warenproduktion ausklammerte und von vollkommener Konkurrenz auf dem Markt ausging, so berücksichtigte er auch die kapitalistische Dienstleistungsproduktion nicht. Marx hat dies mehr als einmal benannt:

„Auch hier findet kapitalistische Produktionsweise nur in geringem Umfang statt und kann der Natur der Sache nach nur in einigen Sphären stattfinden. Z.B. bei Unterrichtsanstalten können die Lehrer bloße Lohnarbeiter für den Unternehmer der Unterrichtsanstalt sein, wie derartige Unterrichtsfabriken zahlreich in England existieren. Obgleich sie den Schülern gegenüber keine produktiven Arbeiter sind, sind sie es ihrem Unternehmer gegenüber. Er tauscht sein Kapital gegen ihre Arbeitsvermögen um und bereichert sich durch diesen Prozeß. Ebenso bei Unternehmungen von

Theatern, Vergnügungsanstalten usw. Dem Publikum verhält sich hier der Schauspieler gegenüber als Künstler, aber seinem Unternehmer gegenüber ist er ist produktiver Arbeiter. Alle diese Erscheinungen der kapitalistischen Produktion auf diesem Gebiet sind so unbedeutend, verglichen mit dem Ganzen der Produktion, daß sie gänzlich unberücksichtigt bleiben können.“ [26]

Im 19. Jahrhundert war die direkte Produktion von Mehrwert im  Dienstleistungssektor „so unbedeutend, verglichen mit dem Ganzen der Produktion, dass sie gänzlich unberücksichtigt bleiben“ kann. Anderswo:

Im Ganzen sind die Arbeiten, die nur als Dienste genossen, nicht in von den Arbeitern trennbare und daher außer ihnen als selbständige Ware existierende Produkte verwandelt, dennoch aber direkt kapitalistischexploitiert werden können, verschwindende Größen, verglichen mit der Masse der kapitalistischen Produktion. Sie sind deshalb ganz außer Acht zu lassen […].“ [27]

Marx wies darauf hin, dass alle Erscheinungsformen der kapitalistischen Produktion in dieser Sphäre der Dienstleistungen in Bezug auf die Gesamtproduktion völlig „außer Acht zu lassen“ sind. In dieser Hinsicht hat sich die Situation heute natürlich in gewisser Weise verändert. Heute nehmen „diese Erscheinungen“ ausgeprägtere Formen an und sind inzwischen so weit verbreitet, dass sie berücksichtigt werden müssen. Die kapitalistische Warenproduktion ist in die Produktion von Dienstleistungen eingedrungen. Daher muss die kapitalistische Produktion von Dienstleistungen in verschiedenen nationalen Berechnungen wie Mehrwert, Kapitalveränderung oder Profitrate berücksichtigt werden.

Ein einfacher Fehler von Poulantzas?

Wenn Marx die Produktion von Dienstleistungen in Bezug auf die kapitalistische Wertproduktion außer Acht lassen kann, kann dann die Behauptung von Poulantzas, dass in der Dienstleistungsindustrie kein Mehrwert produziert wird, nicht als einfacher Fehler angesehen werden?

Nein, kann sie nicht.

Der Grund dafür ist, dass die Analyseebene und das theoretische Ziel von Marx, auch wenn er die Produktion von Dienstleistungen außer Acht lässt, völlig anders sind als die  von Poulantzas. Marx wollte beweisen, dass die kapitalistische Produktionsweise auf der Akkumulation von Kapital beruht, die sich auf der Grundlage der Ausbeutung der Lohnarbeit entwickelt. Aus diesem Grund konzentrierte er sich auf die industrielle Produktion, in der die kapitalistischen Verhältnisse in großem Maße vorherrschend waren. Im 19. Jahrhundert nahm die Produktion von Dienstleistungen noch einen sehr kleinen Teil ein und selbst dort waren die kapitalistischen Verhältnisse noch nicht eingedrungen. Marx schloss daher die Dienstleistungsproduktion aus seinen Betrachtungen aus.

Poulantzas‘ Feststellung, dass die Dienstleistungsproduktion nicht produktiv ist, zielt darauf ab, eine zeitgemäße Definition der Arbeiterklasse zu liefern. Sie bewegt sich nicht auf der Ebene der Marxschen Abstraktion. Er stellt direkt die Existenz der Arbeiterklasse auf der Ebene der kapitalistischen Gesellschaftsformation in Frage. Genau an diesem Punkt definiert er eine fast der Hälfte der Arbeiterklasse entsprechende Masse von Arbeitern als „neues“ Kleinbürgertum außerhalb der Arbeiterklasse mit der Begründung, dass sie in der Dienstleistungsindustrie arbeiten und keinen Mehrwert produzieren. Dies ist eine völlig falsche Feststellung.

Im 20. und 21. Jahrhundert hat der Kapitalismus zwar alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens durchdrungen, aber zwei wesentliche Faktoren sind deutlicher sichtbar geworden. Erstens wurden mit den „wohlfahrtsstaatlichen“ Maßnahmen, die unter dem Druck der Arbeiterbewegung und des Sozialismus vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg getroffen wurden, Dienstleistungen wie Bildung, Gesundheit, soziale Sicherheit, öffentliche künstlerische Produktionsbereiche und Kinderbetreuung ausgebaut und die Beschäftigung in diesen Bereichen ist im Vergleich zum vorigen Jahrhundert um ein Vielfaches gestiegen. Zweitens wurden diese Bereiche im Zuge der neoliberalen Politik seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre für Kapitalinvestitionen geöffnet, privatisiert oder nach den Grundsätzen des Privatsektors umstrukturiert. So wurden Bereiche wie Bildung, Gesundheit, soziale Sicherheit, Kunst, Unterhaltung usw., die dem Dienstleistungssektor zugeordnet werden können, zu wichtigen Bereichen der Mehrwertproduktion und der Investition für das Kapital und ein erheblicher Teil der Arbeiterklasse wurde in diesen Bereichen beschäftigt.

Die Bemühungen der Regierungen und der herrschenden Kapitalgruppen um die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen zielen seit 40 Jahren darauf ab, dem Kapital angesichts sinkender Profitraten und des Engpasses neue Bereiche für Investitionen und Mehrwertproduktion zu erschließen. Ignoriert man dieses Ziel, reduziert sich neoliberale Politik auf die Kostensenkung des Staates; der Drang des Kapitals nach Schaffung neuer Profitquellen wird somit nicht nachvollziehbar.

Es ist sinnvoll, hier drei Anmerkungen zu machen, auch wenn sie außerhalb unseres Themas liegen: Erstens hatten die Parteien der Arbeiterklasse im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, abgesehen von den wirtschaftlichen Debatten, nicht unrecht, wenn sie die Industrie als Grundlage für die Produktion von Mehrwert ansahen. Der Ausbau öffentlicher Dienstleistungen (nach dem Zweiten Weltkrieg) und ihre Privatisierung (nach der Krise von 1973-74) zu einem wichtigen Bereich der Mehrwertproduktion ist ein relativ junges Phänomen. In dieser Hinsicht wäre es eine neue Art von Dogmatismus, in der Geschichte zurückzugehen und die Schlussfolgerung zu ziehen, dass die kommunistischen Parteien „große Fehler“ gemacht haben. Denn es handelt sich um eine Periode, in der die Produktion des Mehrwerts in den Dienstleistungen noch nicht „bedeutend“ war und „völlig unberücksichtigt“ blieb, wie Marx es selbst formulierte.

Die Dienstleistungsarbeit war also während der gesamten kapitalistischen Epoche ein wichtiger Teil der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, ganz zu schweigen von früheren Zeiten, aber sie war bis vor kurzem kein produktiver oder „profitabler“ Teil dessen. [28]

Zweitens ist die Tatsache, dass die Mehrwertproduktion im Dienstleistungssektor für das Kapital immer wichtiger geworden ist, wenn auch nicht ausschließlich, aber doch für eine Analyse mit volkswirtschaftlicher Perspektive von grundsätzlicher Bedeutung. Obwohl der bürgerliche Begriff des „Dienstleistungssektors“ auch nicht-produktive Bereiche wie Finanzwesen, Versicherungen, Einzelhandel usw. umfasst, muss er dennoch in den nationalen Berechnungen wie volkswirtschaftlicher Wert, Mehrwert, Profit, Ausbeutungsrate berücksichtigt werden. Man sollte jedoch nicht vergessen, dass das Wachstum des Dienstleistungssektors das Ergebnis gesellschaftlichen„Wohlstandes“ ist, es von der Produktion materieller Güter abhängig ist und sich die Dienstleistungen ohne die industrielle und landwirtschaftliche Produktion nicht auf diesem Niveau hätten entwickeln können. Auch hier muss die kritische/strategische Position der industriellen Produktion in den heutigen Kapitalbeziehungen und der Herrschaft berücksichtigt werden.

Drittens ist es nicht richtig, aus Marx‘ Betonung der Mehrwertproduktion im Dienstleistungssektor eine mechanistische oder ökonomisch reduktionistische strategische Schlussfolgerung zu ziehen. Die Unterscheidung der produktiven Arbeit ist für die Analyse der Quelle, Produktion und Verteilung des Mehrwerts zu nutzen. Sie dient nicht dazu, direkte politische Schlussfolgerungen zu ziehen.

An dieser Stelle können wir auf der Grundlage der bisher behandelten Themen nachdrücklicher die Frage stellen, die von vornherein hätte gestellt werden müssen:

Ist es richtig, unproduktive und Lohnarbeiter als außerhalb der Arbeiterklasse stehend zu definieren?

DIE SPALTUNG DER ARBEITERKLASSE AUFGRUND VON PRODUKTIVITÄT

Poulantzas, der die Arbeiterklasse auf die produktiven Industriearbeiter beschränkt, kann seine Behauptung auf nichts stützen.  Die Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit ist für die Klasseneinteilung ohne Bedeutung. Die grundlegende Tatsache, die die Arbeiterklasse definiert, ist, dass sie ihre Arbeitskraft verkaufen muss. Ob produktiv oder unproduktiv, beide Teile der Arbeiterklasse verfügen nicht über die Produktionsmittel und müssen ihre Arbeitskraft als Proletarier verkaufen. Poulantzas legitimiert somit ein Argument, das eines Beweises pflichtig ist, einfach damit, dass er es behauptet. Weshalb ihm dies so leicht gelingt, kann anhand von zwei Faktoren dargelegt werden:

Erstens definierten die eurokommunistischen Parteien in den 1960er und 70er Jahren, insbesondere in Frankreich und Italien, die Arbeiterklasse im Sinne der produktiven Industriearbeiter. Dadurch wurde die Arbeiterklasse zu einem so kleinen Teil der Gesellschaft, dass Bündnisse zum Hauptthema der Diskussion wurden. Poulantzas übernahm diesen allgemeinen Ansatz der eurokommunistischen Parteien. Seine Polemik und seine Einwände gegen sie gingen nicht über die Grenzen des Terrains hinaus, das er mit ihnen teilte.

Zweitens vertraten die Theorien der postindustriellen und postkapitalistischen Gesellschaft, die sich insbesondere in den 1960er Jahren entwickelten, die Auffassung, dass die traditionelle Arbeiterklasse ihre Identität als universelle Klasse verloren hätte und zunehmend zu einer marginalisierten Minderheit werde. Demnach schrumpfte die Beschäftigung im industriellen Sektor relativ stark und im Dienstleistungssektor entwickelte sich eine neue Dienstleistungsklasse bzw. eine technokratische Klasse, die die wissenschaftlich-technischen Entwicklungen beherrscht. [29] Wie der sich entwickelnde „Dienstleistungssektor“ und die Berufsgruppen zu definieren sind, war Gegenstand intensiver Debatten. [30] Die häufigste Kritik am Marxismus war die Annahme, dass die Arbeiterklasse, die seine Hauptgrundlage bildete, eine schrumpfende Gruppe sei. Poulantzas macht sich diese Begründung zu eigen und versucht, sie dem Marxismus überzustülpen.

Die Theorien der „Informationsgesellschaft“ und des „Postkapitalismus“ suggerieren, dass die Gesellschaft mit neuen technologischen Entwicklungen in eine „postindustrielle“ Gesellschaft übergegangen und der Kapitalismus überwunden sei. Dass die Arbeiterklasse in der neuen Gesellschaft zu einer Randkategorie geworden sei, wird dabei auf jenen Ansatz gestützt, der die Arbeiterklasse mit produktiver Industriearbeit gleichsetzt. Die Behauptung, der Marxismus sei eine überholte/altmodische Denkweise, beruht nebst vielen anderen Behauptungen hauptsächlich auf diesem reduzierten und verzerrten Bild der Arbeiterklasse. Während behauptet wird, dieses Bild entspreche nicht der von Marx mehrfach getroffenen Vorhersage, dass sich die Gesellschaft in Klassen polarisieren werde, wird die Gesellschaft zunehmend mit den Worten „Mittelklasse“ oder „Konsumgesellschaft“ beschrieben.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte der öffentliche Sektor und der Dienstleistungssektor mit der Einführung des „Wohlfahrtsstaates“ in Westeuropa eine rasche Expansion. Mit den Entwicklungen in der Produktionstechnologie wurden einige Berufsgruppen immer verbreiteter. Die Vermarktung und Bewerbung von Produkten wurde ebenfalls zu einem wichtigen Arbeitsbereich. Auf diese Weise gewannen „Angestellten-“, „Büroarbeiter-“ oder Facharbeiterberufe allmählich einen Massencharakter.

Sind die Beschäftigten im Dienstleistungssektor und in verschiedenen nicht-produktiven Sektoren nun innerhalb oder außerhalb der Arbeiterklasse anzusiedeln? Für die Theoretiker, die sie als völlig außerhalb der Arbeiterklasse stehend betrachten, sind sie die „Mittelklasse“ oder ihre Spielarten: die neue Mittelklasse [31], die Klasse der Fach- und Führungskräfte [32] oder widersprüchliche Klassenpositionen [33]. Für Poulantzas ist es das „neue Kleinbürgertum“ [34].

***

Poulantzas‘ Ansatz wurde kritisiert, weil er die Arbeiterklasse als eine kleine Minderheit der Gesellschaft ansieht und mit „postkapitalistischen“ Schriftstellern das Bild einer „Gesellschaft  der Mittelklasse“ teilt. Erik Olin Wright zum Beispiel ordnete die Ergebnisse einer 1969 in den USA durchgeführten Umfrage nach Poulantzas‘ Definition der Arbeiterklasse ein. Demnach gehören weniger als 20 Prozent der Bevölkerung zur Arbeiterklasse während 70 Prozent aus dem Kleinbürgertum bestehen. Wright kritisiert Poulantzas dafür, dass er die Arbeiterklasse auf eine kleine und ineffektive Minderheit der Gesellschaft reduziere. [35] Poulantzas antwortet wie folgt:

„Ich möchte nun das Argument betrachten, […] dass die Arbeiterklasse weniger als 20 Prozent der Bevölkerung ausmacht, wenn wir die marxistische Definition von Klasse verwenden, die ich vorgeschlagen habe, und sie auf die Vereinigten Staaten anwenden. […] Zunächst denke ich, dass wir in der zeitgenössischen kapitalistischen Gesellschaft nicht nur von Klassen sprechen können, die sich auf jede einzelne soziale Formation beziehen; wir müssen immer den imperialistischen Kontext berücksichtigen. Die Frage der Arbeiterklasse und der Arbeitskräfte, die dem amerikanischen Kapital unterliegen, hat also nicht nur mit der inländischen Arbeiterklasse zu tun. Wir müssen anerkennen, dass die Arbeiterklasse, die für das amerikanische Kapital arbeitet, auch diejenigen umfasst, die beispielsweise für amerikanische Unternehmen in Lateinamerika arbeiten. Die Frage nach der numerischen Größe der Arbeiterklasse, insbesondere wenn wir von imperialistischen Ländern sprechen, darf daher nicht nur national betrachtet werden, sondern muss in einem imperialistischeren Kontext gesehen werden.“ [36]

Diese Verteidigung ist eine klare Niederlage für Poulantzas. Angesichts der Kritik wechselt er das Thema und vermeidet die Beantwortung der Frage. Bei der Kritik an Poulantzas geht es nicht um die Anzahl oder den Anteil der Arbeiter, die dem amerikanischen Kapital im internationalen Maßstab unterworfen sind. Es geht um die Definition der Arbeiterklasse als eine kleine Minderheit der Gesellschaft (weniger als 20 Prozent) und der Mittelschicht als die Mehrheit der Gesellschaft (mehr als 70 Prozent) innerhalb der Grenzen der USA. Nach Poulantzas‘ Methode ist die Arbeiterklasse nicht nur in den USA oder in jedem anderen imperialistischen Land, sondern in der ganzen Welt eine sehr kleine Minderheit. Und der Weltkapitalismus, insbesondere in den frühkapitalistischen Ländern, ist eine Gesellschaft, in der die „Mittelklasse“, nicht die Arbeiterklasse, die Mehrheit bildet. Dies ist genau eine der Rhetorik nach marxistische Wiederholung der Behauptung der amerikanischen Soziologie, dass die Mehrheit der USA und der kapitalistischen Gesellschaft im Allgemeinen aus der „Mittelklasse“ besteht und dass die Arbeiterklasse durch die Konzentration in der „Mittelklasse“ ersetzt wurde.

Wenn man die Arbeiterklasse nur auf die produktiven Industriearbeiter beschränkt, macht die Arbeiterklasse in den USA heute nach Poulantzas‘ Methode laut Daten von 2014 nur 15,8 Prozent der Gesamtbeschäftigten aus, also weniger als ein Sechstel. Nach der gleichen Berechnung liegt der Anteil der Arbeiterklasse an der Gesamtbeschäftigung in Deutschland bei 32,7 Prozent, in Spanien bei 25 Prozent, in Großbritannien bei 23,5 Prozent, in Russland bei 27,1 Prozent, in der Türkei bei 28,2 Prozent und in Brasilien bei 22,4 Prozent. In all diesen Ländern ist die Arbeiterklasse nach Poulantzas‘ Analyse eine Minderheit. [37]

Allein dieses Bild zeigt, dass Poulantzas‘ Analyse eine „Gesellschaft der Mittelschicht“ beschreibt. In der Tat wird schnell klar, dass die „ökonomische“ Ebene entgegen der anfänglichen Behauptung von Poulantzas nicht ausreichend und notwendig ist, um die unproduktiven Arbeiter aus der Arbeiterklasse auszuschließen. Denn selbst wenn Poulantzas konsequent wäre und die Analyse mit dem beginnen würde, was er die „ökonomische“ Ebene nennt, hätte er nicht mit der Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit beginnen müssen, die aus anderen Gründen wichtig ist, sondern mit den auf Ausbeutung beruhenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen. Die Betonung der „ökonomischen Ebene“ im Marxismus verweist auf die gesellschaftlichen Produktions- und Ausbeutungsverhältnisse, nicht auf Unterscheidungen wie Einkommen, Marktchancen, Stellung am Arbeitsplatz oder produktive Arbeit. In dieser Hinsicht ist die „ökonomische“ Bestimmung in Poulantzas‘ Analyse nicht nur unwirksam, sondern auch willkürlich.

Obwohl er die Klassen auf Grundlage der „Produktivität“ zu unterscheiden scheint, besitzt Poulantzas ein Kriterium für die Klassenteilung, das unproduktive Dienstleistungsarbeiter, Kleinproduzenten und produktive Kopfarbeiter einschließt und all diese unterschiedlichen wirtschaftlichen Positionen in eine einzige Klasse (das Kleinbürgertum) zusammenfasst. Es ist die politische und ideologische Spaltung, die all diese verschiedenen Positionen vereint und sie von der Arbeiterklasse trennt. Hier spiegelt sich Poulantzas‘ Vorstellung vom Primat der „politisch-ideologischen“ Ebene wider, die im zweiten Schritt der Klassenanalyse stattfindet, die aber die von ihm behauptete, „ökonomische“ Ebene verdrängt und die gesamte Analyse durchdringt. [38]

(Keinen) Mehrwert produzierende „Dienstleistungs“-Arbeiter

Poulantzas zufolge stehen diejenigen, die im Dienstleistungssektor arbeiten sowie diejenigen, die im Industriesektor arbeiten, aber professionelle Kopfarbeiter sind, d. h. die Gruppen, die in den 1970er Jahren Gegenstand der Debatte waren, völlig außerhalb der Arbeiterklasse. Der Hauptgrund, warum Poulantzas die Arbeiter im „Dienstleistungssektor“ als außerhalb der Arbeiterklasse stehend definiert, ist, dass er diesen Bereich mit Bezug auf Marx fälschlicherweise als völlig „unproduktiv“ ansieht. Es wurde bereits erwähnt, dass einige der Arbeiter im sogenannten Dienstleistungssektor produktiv sind.

Man kann jedoch unabhängig von der Produktivität sagen, dass im Dienstleistungssektor beschäftigte Arbeiter Teil der Arbeiterklasse sind.

Die produktive oder unproduktive Arbeit ist nicht Gegenstand der Definition der Arbeiterklasse. Umjedoch den Widerspruch aufzuzeigen, in den Poulantzas gerät, wird in diesem Abschnitt ein besonderes Augenmerk auf den Mehrwert produzierenden Teil der Arbeitskräfte im Dienstleistungssektor gelegt.

In seiner Analyse schließt Poulantzas die gesamte Dienstleistungsarbeit aus der Arbeiterklasse aus. Außerdem sind die direkt in der Industrie beschäftigten Kopfarbeiter, die Poulantzas als produktiv anerkennt, seiner Meinung nach Mitglieder des „neuen“ Kleinbürgertums. Ich möchte betonen: Poulantzas erkennt die in der industriellen Produktion beschäftigten Kopfarbeiter zwar als produktiv an, rechnet sie aber dem „neuen Kleinbürgertum“ zu.

Wenn man die produktiven Arbeiter im Dienstleistungssektor und die produktiven Kopfarbeiter wie Ingenieure und Techniker in der Industrie aus der Arbeiterklasse ausschließt und als „neues Kleinbürgertum“ definiert, wie es Poulantzas tut, muss ebenso angenommen werden, dass auch andere sozialen Klassen als die Arbeiterklasse Mehrwert produzieren können. Folglich wird behauptet, dass die „Mittelklassen“ den für die Kapitalakkumulation benötigten Mehrwert produzieren. Dies ist nichts anderes als die Leugnung der strategischen Position und Bedeutung der Arbeiterklasse, die aufgrund der Mehrwertproduktion und ihrer Ausbeutung als eine der beiden Hauptklassen im Kapitalismus definiert ist. Poulantzas‘ Thesen stehen im Widerspruch zur Werttheorie, auf die er sich angeblich stützt, und damit zu den Grundlagen, auf denen er Begriffe wie „produktive Arbeit“ und „Mehrwert“, die Bestandteile dieser Theorie sind, aufbaut.

Ein weiterer Widerspruch von Poulantzas zeigt sich am Beispiel der Arbeiter, die nicht wirklich produktiv sind. Ein fest angestellter Reinigungsarbeiter, der in einer Gemeinde arbeitet, in der die Straßenreinigung als kostenlose öffentliche Dienstleistung angeboten wird, würde für Poulantzas nicht zur Arbeiterklasse gehören, da er nicht produktiv ist. Was die Kommunen betrifft, so gehören diejenigen, die in Bereichen arbeiten, die noch nicht privatisiert oder outgesourct wurden, wie z.B. Straßenbau,Bau, Forschung, Gärtnerei, Reinigung, Landschaftsbau usw., meist in Handarbeit und unter schweren Arbeitsbedingungen, nicht zur Arbeiterklasse, sondern zum „neuen Kleinbürgertum“, da sie keinen Mehrwert produzieren.

Um ein geläufigeres Beispiel zu nennen: Nehmen wir an, die in einem staatlichen Bergwerk geförderte Kohle wird kostenlos an die Bevölkerung verteilt. Unter diesen Bedingungen wird die in diesem Bergwerk geförderte Kohle nicht als Ware auf den Markt gebracht und es wird kein Mehrwert produziert. Da kein Mehrwert produziert wird, wären die Minenarbeiter nach Poulantzas‘ Kriterien nicht Teil der Arbeiterklasse. Oder: Arbeiter einer Staatsfabrik, in der Waffen und anderes Kriegsgerät für die Armee produziert werden, würden keine Arbeiter sein, da die produzierten Waffen nicht auf dem Markt verkauft, sondern direkt vom Staat übernommen werden. Diese Beispiele sind logische Fortsetzungen des Poulantzas’schen Ansatzes, die Arbeiterklasse über die Produktivität für das Kapital zu definieren, die dessen Realitätsferneaufzeigen.

***

Die Behauptung von Poulantzas, Servicekräfte, Büroangestellte und die „Stehkragen“ seien „neue“ Mitglieder des Kleinbürgertums, widerspricht auch der historischen Entwicklung und den Tendenzen der Arbeitskraft dieser Bereiche. Mit der Massenbeschäftigung in diesen Sektoren, der Verbreitung des öffentlichen Bildungswesens, der Mechanisierung im Dienstleistungssektor und dem Taylorismus, verloren im 19. Jahrhundert relativ privilegierte Arbeitsposten ihre Privilegien gegenüber den Industriearbeitern und waren sogar im Vergleich zu letzteren mit schlechteren Löhnen und höherer Unterdrückung konfrontiert.

Die Vorhersage von Marx, dass genauso wie Arbeiter mit handwerklichen Fähigkeiten immer ungelernter werden, auch solche Arbeiter ihre Privilegien verlieren werden, ist für die heutigen Proletarisierungsdebatten sehr wichtig. In dem Maße, wie die für diese Berufe erforderliche Bildung, die kaufmännischen Kenntnisse, die Fremdsprachen usw. mit der Entwicklung der Wissenschaft und des öffentlichen Bildungswesens immer schneller, leichter, umfassender und billiger reproduziert werden, wird es einfacher, diese Qualifikationen zu erwerben, und die Zahl derer, die diese Qualifikationen erwerben können, steigt. Dies setzt natürlich die Schaffung einer Wirtschaftsleistung voraus, sodass mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktion allmählich jene unproduktiven Sektoren entstehen, die der Realisierung des Mehrwerts dienen.

Die in den frühkapitalistischen Unternehmen in begrenzter Zahl beschäftigten Büroangestellten beispielsweise waren eine bessergestellte Schicht mit engen Beziehungen zum Arbeitgeber und besonderen Privilegien. Diejenigen, die vom Kapitalisten mit Verkaufs-, Buchhaltungs-, Spekulations- und Manipulationsaufgaben beauftragt waren, trugen im Gegensatz zu den Arbeitern dazu bei, sein Kapital in Form von Kapital zu erhalten und zu erweitern. Die wenigen, die die Bücher des Kapitals führten, seine Produkte verkauften, in seinem Namen mit der Außenwelt verhandelten und in der Regel seine Geheimnisse, Hoffnungen und Pläne kannten, hatten die Funktion, direkt an der Ausbeutung der Arbeiter mitzuwirken, auch wenn sie selbst lohnabhängig waren. [39]

Diese Beziehungen haben sich jedoch grundlegend verändert. Unproduktive Tätigkeiten, die eng mit dem Kapital verbunden sind, haben sich von privilegierten Tätigkeiten zu verschiedenen Teilen der Unternehmensaktivitäten oder sogar zu eigenständigen und integralen kapitalistischen Industrien entwickelt. Während der einzelne, eng mit dem Kapitalisten verbundene Angestellte durch Chefs ersetzt wurde, wurden verschiedene Büro-, Planungs-, Kontroll-, Überwachungs-, Personaltätigkeiten usw. in mit massenhaft Arbeitskräften ausgestattete Abteilungen unterteilt. Diese Abteilungen oder Bereiche wurden mit Arbeitern besetzt, die nichts mit dem ehemals privilegierten Angestellten zu tun hatten und deren Bedingungen immer mehr denen der Produktionsarbeiter ähnelten. Durch den Fortschritt der technischen Mittel wurde die Arbeit in diesen Bereichen nach und nach mechanisiert und entqualifiziert. Die Büroarbeiter, die in der frühkapitalistischen Periode der privilegierten Mittelschicht oder dem Kapitalisten zugerechnet wurden, verloren ihre früheren Privilegien, während ihre Zahl außerordentlich zunahm. [40]

Bei der Volkszählung von 1870 gab es in den USA 82.000 Büroangestellte in Büroberufen, was 0,6 Prozent aller „Erwerbstätigen“ entsprach. In Großbritannien lag die Zahl bei der Volkszählung von 1851 bei 0,8 Prozent aller Erwerbstätigen, bei einer Zahl von Büroangestellten zwischen 70.000 und 80.000. Um die Jahrhundertwende war der Anteil der Büroangestellten an der Erwerbsbevölkerung auf 4 Prozent in Großbritannien und 3 Prozent in den USA gestiegen. Nach der Volkszählung von 1961 gab es in Großbritannien etwa 3 Millionen Büroangestellte, was etwa 13 Prozent der Erwerbsbevölkerung entsprach. In den USA war die Zahl der Büroangestellten bis 1970 auf mehr als 14 Millionen angewachsen, was 18 Prozent der Erwerbstätigen ausmachte. Im Mai 2015 gab es in den USA 21.846.000 Büroangestellte, was 15,4 Prozent der Gesamtbeschäftigung von 141.494.000 entspricht [41]. Berufe wie Sekretäre, Buchhalter, Kassierer, Schatzmeister, Schreiber, Finanzer,Personaler, Datenpfleger usw., die niedrigere Löhne erhalten und länger arbeiten müssen als der Durchschnittsarbeiter, wurden als „white collar“ definiert. Postkapitalistische Theoretiker bejubelten diese „Angestellten“ in den 1970er Jahren als die Geburt einer neuen „Dienstleistungsklasse“. Es handelte sich jedoch nicht um die alten und vereinzelten privilegierten Angestellten der Bosse, sondern um Schichten der Arbeiterklasse, deren Arbeitsordnung wie im Produktionsprozess rationalisiert wurde; die keine die Produktionsmittel besitzen, sondern unter dem Druck und der Kontrolle des Kapitalisten arbeiten müssen. [42]

Ähnliche zahlenmäßige Zuwächse lassen sich für Fachkräfte wie Ingenieure, Ärzte, Techniker usw. sowie für ungelernte Berufe wie Reinigungskräfte, Pflegepersonal, Kellner usw. im Dienstleistungssektor angeben.

GEWERBLICHE ARBEITER

Arbeiter in Sektoren wie dem Einzelhandel, dem Großhandel oder dem Finanzsektor sind Arbeiter, die keine Waren produzieren, sondern den Tausch einer produzierten Ware gegen Geld oder seine abgeleiteten Funktionen vermitteln. Diese Arbeiter, die keinen Mehrwert produzieren, sorgen dafür, dass die in den Produktionsbereichen produzierte Ware in Geld umgewandelt wird und somit Mehrwert realisiert wird. Solange der Mehrwert nicht in Geld umgewandelt und realisiert wird, kann er nicht wieder zu einem Element der Kapitalakkumulation werden. Da weder in der kommerziellen noch finanziellen Sphäre Mehrwert produziert wird, nimmt sich das in dieser Sphäre investierende Kapital im Verhältnis zur Größe seines eigenen Kapitals einen Anteil am Gesamtpool des in einem anderen Bereich (in den Produktionssektoren) produzierten gesellschaftlichen Mehrwerts (durchschnittliche Profitrate). Die Löhne der Arbeiter, die für dieses Kapital arbeiten, werden ebenfalls aus dem in der produktiven Sphäre produzierten Mehrwert bezahlt, da sie selbst nicht produktiv sind. Eine gegenteilige Behauptung würde bedeuten, dass der Handel Wert schafft, doch auch wenn im Handel eine Seite tatsächlich Gewinn erzielt, geschieht dies auf Kosten der anderen Seite, sodass hier von keiner Neuwertproduktion die Rede sein kann.

Für Marx gibt es keinen Zweifel daran noch keine Diskussion darüber, dass die Arbeiter diesesBereiches zur Arbeiterklasse gehören. Der Unterschied dieser Arbeiter besteht darin, dass sie keinen Mehrwert produzieren, was kein Kriterium in der Definition der Arbeiterklasse ist. Marx, der sich im dritten Band des Kapitals mit diesem Thema befasst, beantwortet seine eigene Frage „Wie verhält es sich mit den kommerziellen Lohnarbeitern, die der kaufmännische Kapitalist, hier der Warenhändler, beschäftigt?“ unter zwei Gesichtspunkten:

„Es muß zwischen ihm und den direkt vom industriellen Kapital beschäftigten Arbeitern derselbe Unterschied stattfinden, der zwischen dem industriellen Kapital und dem Handelskapital und daher zwischen dem industriellen Kapitalisten und dem Kaufmann stattfindet. Da der Kaufmann als bloßer Zirkulationsagent weder Wert noch Mehrwert produziert […] so können auch die von ihm in denselben Funktionen beschäftigten merkantilen Arbeiter unmöglich unmittelbar Mehrwert für ihn schaffen.“ [43]

Für Marx ist dies der Knackpunkt: Dass der gewerbliche Arbeiter keinen Mehrwertproduziert. Es besteht kein Zweifel, dass er zur Arbeiterklasse gehört:

„Nach einer Seite hin ist ein solcher kommerzieller Arbeiter Lohnarbeiter wie ein andrer. Erstens, insofern die Arbeit gekauft wird vom variablen Kapital des Kaufmanns, nicht von dem als Revenue verausgabten Geld, und daher auch nur gekauft wird nicht für Privatbedienung, sondern zum Zweck der Selbstverwertung des darin vorgeschoßnen Kapitals. Zweitens, sofern der Wert seiner Arbeitskraft und daher sein Arbeitslohn bestimmt ist,wie bei allen andren Lohnarbeitern, durch die Produktions- und Reproduktionskosten seiner spezifischen Arbeitskraft, nicht durch das Produkt seiner Arbeit.“ [44 – Hervorhebung durch A. K.]

Im weiteren Verlauf seiner Analyse zählt Marx die Merkmale des gewerblichen Arbeiters als Teil der Arbeiterklasse auf:

„Der kommerzielle Arbeiter produziert nicht direkt Mehrwert. Aber der Preis seiner Arbeit ist durch den Wert seiner Arbeitskraft, also deren Produktionskosten, bestimmt, während die Ausübung dieser Arbeitskraft, als eine Anspannung, Kraftäußerung und Abnutzung, wie bei jedem andren Lohnarbeiter, keineswegs durch den Wert seiner Arbeitskraft begrenzt ist. Sein Lohn steht daher in keinem notwendigen Verhältnis zu der Masse des Profits, die er dem Kapitalisten realisieren hilft. Was er dem Kapitalisten kostet und was er ihm einbringt, sind verschiedne Größen. Er bringt ihm ein, nicht indem er direkt Mehrwert schafft, aber indem er die Kosten der Realisierung des Mehrwerts vermindern hilft, soweit er, zum Teil unbezahlte, Arbeit verrichtet.“ [45 – Hervorhebung durch A. K.]

Wie man sieht, gibt es für Marx, abgesehen von der Unproduktivität des kaufmännischen Arbeiters, keine Situation, die ihn von der Arbeiterklasse trennt und ihn in eine andere Klasse wie das Kleinbürgertumeinschließt. Obwohl es für unser Thema hier nicht relevant ist, macht Marx auf ein Merkmal der gewerblichen Arbeiter im 19. Jahrhundert aufmerksam:

„Der eigentlich kommerzielle Arbeiter gehört zu der besser bezahlten Klasse von Lohnarbeitern, zu denen, deren Arbeit geschickte Arbeit ist, über der Durchschnittsarbeit steht.“ [46]

Unmittelbar danach erkennt Marx jedoch mit großer Weitsicht, dass der „qualifizierte“ und „besser bezahlte“ Zustand der gewerblichen Arbeitnehmer nicht von Dauer sein kann:

„Weil die Vorbildung, Handels- und Sprachkenntnisse usw. mit dem Fortschritt der Wissenschaft und

Volksbildung immer rascher, leichter, allgemeiner, wohlfeiler reproduziert werden, je mehr die kapitalistische Produktionsweise die Lehrmethoden usw. aufs Praktische richtet. Die Verallgemeinerung des Volksunterrichts erlaubt, diese Sorte aus Klassen zu rekrutieren, die früher davon ausgeschlossen, an schlechtre Lebensweise gewöhnt waren. […] Mit einigen Ausnahmen entwertet sich daher im Fortgang der kapitalistischen Produktion die Arbeitskraft dieser Leute; ihr Lohn sinkt, während ihre Arbeitsfähigkeit zunimmt. Der Kapitalist vermehrt die Zahl dieser Arbeiter, wenn mehr Wert und Profit zu realisieren ist.“ [47]

Marx stellte im 19. Jahrhundert fest, dass gewerbliche Arbeiter mit einigen Eigenschaften wie höheren Löhnen und höherer Bildung diese „Privilegien“ verlieren werden. Genau das geschieht heute. Engels hingegen bezeichnete diese Arbeiter als das kommerzielle Proletariat und stellte fest, dass sich die Vorhersage von Marx schon viel früher bestätigte. In seiner Fußnote im entsprechenden Abschnitt sagte Engels Folgendes:

„Wie diese 1865 geschriebne Prognose der Schicksale des kommerziellen Proletariats sich seitdem bewährt hat, davon können die Hunderte deutscher Kommis ein Liedchen singen, die, in allen kommerziellen Operationen und in 3-4 Sprachen bewandert, in der Londoner City vergebens ihre Dienste um 25 Schill. die Woche anbieten – weit unter dem Lohn eines geschickten Maschinenschlossers.“ [48]

Heute hat sich die Situation mit der Entwicklung des Einzel- und des Großhandels noch viel radikaler verändert. Die Verkäufer, Kassierer, Regalverräumer, Produktpromoter, Sicherheitskräfte, Lageristen usw. in den großen Einkaufszentren, sind kaufmännische Angestellte, für die kein Diplom erforderlich ist und die weit unter dem Durchschnittslohn bezahlt werden.

Daher sind die Beschäftigten des „Dienstleistungssektors“, die mit ihren qualifizierten und unqualifizierten Bestandteilen eine solche Dimension erreicht haben, dass sie derBerücksichtigung würdig sind, ein wichtiger Teil der Arbeiterklasse. Dieses große Klassensegment auszuschließen und willkürlich als „kleinbürgerlich“ zu definieren, wie es Poulantzas tut, führt dazu, die Arbeiterklasse als eine kleine Minderheit der Gesellschaft und die Gesellschaft als eine kleinbürgerliche Gesellschaft der „Mittelklasse“ zu definieren. Auch die mit Leichtigkeiterkennbaren Realitäten des heutigen Kapitalismus sind mit einer solchen Auffassung unvereinbar.

[1] Die als „Postmarxismus“ bekannte Strömung ist eines der Beispiele für postmoderne Ansätze, die die Hauptprämissen des Marxismus und die objektiven strukturellen Beziehungen des Kapitalismus negieren, indem sie die gesellschaftliche Ganzheitlichkeit ablehnen und durch die Vorstellung ersetzen, dass der ideologische und politische Diskurs die Realität bestimmt.

[2] Wood, Ellen Meiksins (2018): Sınıftan kaçış: Yeni „Hakiki“ Sosyalizm, 3. Aufl., Istanbul: Yordam Kitap, S. 48, 49, 75. (Orig.: The Retreat from Class: A New ‘True’ Socialism, London und New York 1998) 

[3] Mao Zedong, der Führer der Volksrepublik China und des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas, und seine Gruppe riefen 1966 eine Kulturrevolution ins Leben, die ein Jahrzehnt lang andauern sollte, mit dem Anspruch, den „bürokratischen Kommunismus“ in China zu beenden. Dies erforderte einen Krieg gegen alle kulturellen und ideologischen Elemente, die der „Vergangenheit“ angehörten. Klassische Opern- und Theaterwerke wurden aus den kulturellen Aktivitäten verbannt, nur die „revolutionären“ Werke waren erlaubt. Im Westen manifestierte sie sich in Form einer Kritik des „ökonomischen Reduktionismus“ und der Idee einer Umgestaltung des Kapitalismus durch einen ideologischen und kulturellen Aufstand. In Wahrheit war die chinesische Kulturrevolution ein Teil des Kampfes zwischen verschiedenen politischen Gruppierungen in Partei und Staat.

[4] Wood, Sınıftan kaçış, S. 50-51

[5] Poulantzas, Nicos (1975): Classes in Contemporary Capitalism, London: New Left Books, S. 101

[6] Wood, Sınıftan kaçış, S. 57

[7] Ebd., S. 58-59, 72-73

[8] Anm. d. Übers.: Laut der Althusserschen Tradition ist die marxistische Prämisse, dass die ökonomische Basis grundlegend durch die Produktionsverhältnisse bestimmt wird, Ökonomismus.

[9] Poulantzas, Nicos Ar (2008): On Social Classes , in: The Poulantzas Reader, New York: Verso, S. 186. [Zitat übersetzt durch den Übersetzer.]

[10] Ebd.

[11] Ebd., S. 189-190. [Zitat übersetzt durch den Übersetzer.]

[12] Ebd., S. 195. [Zitat übersetzt durch den Übersetzer.]

[13] Marx, Karl (1865): Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses: I. Kapitalistische Produktion als Produktion von Mehrwert, Marxists’ Internet Archive, [online] https://www.marxists.org/deutsch/archiv/marx-engels/1863/resultate/1-mehrwert.htm [abgerufen am 13.09.2023].

[14] Ebd.

[15] Ebd.

[16] Ebd.

[17] Ebd.

[18] Smith, A. (2014). Der Wohlstand der Nationen (Bd. 6) [EPUB]. heptagon. (Ursprünglich veröffentlicht 1776), Kapitel 3.

[19] Çaklı, Sabri (2006): Klasik Okulda Üretken Emek-Üretken Olmayan Emek Ayrımı, in: Abant İzzet Baysal Üniversitesi Sosyal Bilimler Dergisi, Bd. 12, Nr. 12, S. 41, [online] doi:10.11616/abantsbe.182, S. 48-49.

Auch politische Ökonomen wie Thomas Robert Maltus und John Stuart Mill übernahmen Smiths Kriterium der „Lagerbarkeit“ für produktive Arbeit. Çaklı, Klasik Okulda Üretken Emek-Üretken Olmayan Emek Ayrımı, S. 55

[20] Poulantzas, On Social Classes, S. 190. [Zitat übersetzt durch den Übersetzer.]

[21] Huws, Ursula (2003) The Making of a Cybertariat: Virtual Work in a Real World, New York und London: Monthly Review und Merlin, S. 130

[22] Braverman, Harry (2008): Emek ve tekelci sermaye, Istanbul: Kalkedon Yayınları, S. 330-331 (Orig.: Labor and monopoly capital, New York 1974)

[23] Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses.

[24] Ebd.

[25] Ebd.

[26] Marx, Karl/Friedrich Engels (1965): Werke, 1. Aufl., Berlin: Dietz Verlag, Bd. 26–1, S. 386.

[27] Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses.

[28] Braverman, Emek ve tekelci sermaye, S. 332

[29] Bell, Daniel (1976): The coming of Post-Industrial Society, New York: Basic Books, S. 117

[30] Ross, George (1978): Marxism and the New Middle Classes: French Critiques, in: Theory and Society, Bd. 5, Nr. 2, S. 163–190.

[31] Carchedi, Guglielmo (2023): On the economic identification of social classes, Taylor & Francis.

[32] Ehrenreich, Barbara/John Ehrenreich (1977): The professional-managerial class, in: Radical America, Bd. 11, Nr. 2, S. 7.

[33] Wright, Erik Olin (2023): Classes, Verso Books.

[34] Poulantzas, Nicos Ar (1975): Classes in Contemporary Capitalism, London: New Left Books.

[35] Wright, Erik Olin (1978) Class, Crisis and the State, London: New Left Books, S. 55

[36] Poulantzas, Nicos Ar (2008): The New Petty Bourgeoisie, in: The Poulantzas Reader, New York: Verso, S. 328–329. [Zitat übersetzt durch den Übersetzer.]

[37] OECD Statistics and Data Directorate (o. D.): Employment by activities and status (ALFS), [online] https://stats.oecd.org/Index.aspx?DataSetCode=ALFS_EMP.

[38] Wood, Sınıftan Kaçış, S. 65-66

[39] Braverman, Emek ve Tekelci Sermaye, S. 379

[40] Braverman, Emek ve Tekelci Sermaye, S. 380

[41] Bureau of Labor Statistics (2016): Occupational Employment and Wages – May 2015, [online] https://www.bls.gov/news.release/archives/ocwage_03302016.pdf.

[42] Braverman, Emek ve Tekelci Sermaye, S. 277

[43] Marx, Karl/Friedrich Engels (1964): Werke, 1. Aufl., Berlin: Dietz Verlag, Bd. 25, S. 304

[44] Ebd., S. 304-305

[45] Ebd., S. 311

[46] Ebd.

[47] Ebd. , S. 311-312

[48] Aus dem Türkischen: Marx, Kapital Band 3, S. 265