Von Brückenstrompreis bis Sondervermögen – Die Standortpolitik auf dem Prüfstand

Spätestens seit dem Beginn des Ukrainekrieges, dem explosionsartigen Anstieg der Energiepreise, einer Rationalisierungswelle in vielen Bereichen ist die Bedrohung des „Industriestandortes Deutschland“ wieder ganz akut. Die angeblich viel zu hohen Produktionskosten in Deutschland würden ins Unermessliche steigen. Eine Deindustrialisierung steht unmittelbar bevor, würde man nicht schnellstmöglich Gegenmaßnahmen ergreifen. Soweit zumindest, wenn man der Stimmungsmache der Industrie- und Kapitalverbände Glauben schenkt. Und das tun anscheinend auch die Gewerkschaftsführungen der Industriegewerkschaften und des DGB‘s.

So stimmt der DGB, allen voran die Industriegewerkschaften, seit einigen Monaten in einen gemeinsamen Reigen mit den Wirtschaftsbossen ein und fordern von der Bundesregierung die Einführung des so genannten „Industriestrompreises“ oder auch „Brückenstrompreises“. Das Konzept stammt aus dem Wirtschaftsministerium von Robert Habeck und sieht die milliardenschwere Subvention der Strompreise für „energieintensive Unternehmen“ vor. Das erklärte Ziel: Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie und Sicherung des Wohlstands unseres Landes, so Habeck. Während das Wirtschaftsministerium eine Deckelung des Industriestrompreises auf 6ct pro Kilowattstunde vorschlägt, was einem Entlastungsvolumen von voraussichtlich bis zu 30 Milliarden Euro entspricht, legt die IG Metall noch einen drauf und fordert einen Preisdeckel bei 5ct die Kilowattstunde. Wichtig zu beachten: Der Preisdeckel soll hier nicht etwa so funktionieren, dass er den Energiekonzernen verbietet, einen höheren Strompreis zu fordern, wie es etwa beim Mietpreisdeckel der Fall ist. Stattdessen dürfen die Energiekonzerne weiter nach Belieben die Preise diktieren und die Differenz zwischen dem gedeckelten und dem tatsächlichen Strompreis soll dann durch den Staat beglichen werden. Und dass die Energiekonzerne nicht nur in der Lage dazu sind die Preise frei nach Belieben zu diktieren, sondern es auch tatsächlich tun, haben sie in den vergangenen zwei Jahren gleich zweimal unter Beweis gestellt. Zuerst war da der sogenannte „Tankrabatt“, welcher Mitte 2022 in Kraft trat. Während zu diesem Zeitpunkt die Rohölpreise längst wieder gesunken waren, machte sich der insgesamt 3 Milliarden Euro teure Tankrabatt an den Zapfsäulen kaum bemerkbar. Das lag vor allem daran, dass die Spritpreise in den Wochen vor dem Inkrafttreten des Tankrabattes systematisch und flächendeckend erhöht worden waren, teilweise sogar um bis zu 20ct den Liter. Ein Großteil des „Entlastungsprogramms“ der Bundesregierung wanderte also auf direktem Weg in die Taschen der internationalen Energiemonopole und bescherte im Jahr 2022 überall in der Branche bahnbrechende Gewinne. Ein zweites Beispiel war gegen Ende 2022 die so genannte „Gaspreisbremse“, für die unter anderem die IG Metall monatelang geworben hatte, deren Inkrafttreten die IG-Metall-Führung als eigenen Erfolg gefeiert und während der damals noch laufenden Tarifrunde Metall und Elektro einigen Tarifkommissionen nach dem Motto vorgehalten hatte: „Das ist doch auch eine Entlastung, also können wir bei der Lohnerhöhung auch etwas bescheidener sein“. Auch die Gaspreisbremse funktioniert mit einem Preisdeckel, genau wie es jetzt beim Industriestrompreis vorgesehen ist. Und kaum war die Preisbremse in Kraft, fühlten sich die Energieversorger mancherorts prompt dazu befähigt, die Versorgungspreise anzuheben. Im Raum Düsseldorf kam es dabei sogar zu Preissteigerungsraten von etwa 50 Prozent, obwohl die Erzeugerpreise das Vorkriegsniveau wieder beinahe erreicht hatten. Auch im Fall der Gaspreisbremse wanderten also Millionen an Steuergeldern direkt in die Tasche der Energieversorger. Und natürlich darf bei der Gaspreisbremse nicht unerwähnt bleiben, dass sie große Unternehmen und Konzerne bedeutend stärker entlastete als private Haushalte, denn für sie galt ein Preisdeckel, der nicht mal 60% des Preises für private Haushalte betrug.

Natürlich ist beim Industriestrompreis von vorneherein klar, dass er nur den Unternehmen zugutekommen soll. Allerdings ist auch völlig klar, dass mit dem Industriestrompreis erneut ein Mittel geschaffen wird, das der doppelten Ausplünderung des Staates durch die großen Konzerne und Unternehmen dient. Zum einen auf direktem Wege bei der „Entlastung“ der energieintensiven Unternehmen, für die der Strompreis auf nicht mal ein Viertel des Preises von 2019 gesenkt werden soll, wenn es nach dem Vorschlag des DGBs geht. Zum anderen auf indirektem Weg, da sich die Energiekonzerne sehr wahrscheinlich wieder an den staatlichen Geldern bereichern werden, indem sie – wie in den letzten Jahren – Preisabsprachen treffen und die Preise willkürlich in die Höhe treiben. Warum sollte man sich so ein lohnenswertes Geschäft auch durch so etwas lästiges wie „Konkurrenz“ entgehen lassen? Diese Art von Kartellbildung können wir in den verschiedensten Branchen beobachten, unter anderem bei dem „Abgasskandal“, der 2015 bekannt wurde.

Allerdings geht es bei der Sache doch um einen guten Zweck. Es geht immerhin um den gemeinsamen Industriestandort Deutschland. Der ist ja auch für uns Arbeiter wichtig. Oder?
Um zu verstehen, warum der Industriestrompreis gegen unsere Interessen als Arbeiter spricht, müssen wir uns zwei Fragen stellen. Zum einen: „Wo kommt das Geld für den Industriestrompreis her?“ Und zum zweiten: „Wie sicher können wir uns sein, dass der Industriestrompreis unsere Arbeitsplätze schützt?“
Beginnen wir mit der ersten Frage. Natürlich ermöglicht der Staat den Industriestrompreis durch Steuergelder, die wir entweder als Lohnsteuer abgeführt, als Mehrwertsteuer gezahlt oder in den Betrieben durch den Ertrag unserer Arbeit erwirtschaftet haben. Möchte der Staat nun auf einmal 30 Milliarden Euro für den Strompreis aufbringen, so ist klar, dass dieses Geld nicht einfach vom Himmel fällt und so gibt es drei Möglichkeiten, wie man dieses Geld beschafft. Entweder nimmt man es der arbeitenden Bevölkerung in Form von Steuererhöhungen direkt ab, man spart es an anderen Stellen ein oder man bürdet es der arbeitenden Bevölkerung durch Verschuldung auf, die man dann wiederum durch Sparmaßnahmen oder Steuererhöhungen abbezahlt. Eins ist klar: In jedem Fall zahlen wir Arbeiter die Zeche.
Da eine Neuverschuldung durch die Schuldenbremse ausgeschlossen ist und man sich mit Steuererhöhungen in der Regel eher unbeliebt macht, gerade wenn die wirtschaftliche Situation der Arbeiterklasse eh stark angespannt ist, wird in anderen Bereichen des Staatshaushaltes gespart, um genau solche Vorhaben wie den Industriestrompreis zu ermöglichen. Im Bundeshaushalt 2024 werden diese Sparmaßnahmen bereits in vollem Umfang deutlich. Gegenüber 2023 spart die Regierung unter anderem 8,2 Milliarden Euro im Bereich „Gesundheit“ (-33,7%), 1,2 Milliarden im Bereich „Bildung und Forschung“ (-5,4%), 200 Millionen im Bereich „Familie, Senioren, Frauen und Jugend“ (-1,6%), 200 Millionen für „Inneres und Heimat“ (-1,4%), 400 Millionen für „Wohnen und Stadtentwicklung“ (-5,1%), 500 Millionen für „Ernährung und Landwirtschaft“ (-5,8%) und weitere 50 Millionen werden im Bereich „Umwelt und Naturschutz“ eingespart. Konkret heißt das: die arbeitende Bevölkerung zahlt den Industriestrompreis mit einer schlechteren Gesundheitsversorgung, mit weniger Unterstützung für Familien wie zum Beispiel kostenfreie Kita-Plätze, mit weniger sozialem Wohnungsbau, mit weniger Umwelt- und Klimaschutz und so weiter. Kurzum: Wir Arbeiter zahlen mit unserer Lebensqualität. Wir zahlen damit die Aufrüstung der Bundesregierung und auch ihre milliardenschweren Subventionsprogramme für die Unternehmen und Konzerne.

Doch muss man sowas vielleicht in Kauf nehmen? Schließlich geht es doch um unsere Arbeitsplätze. Oder?
Womit wir bei der zweiten Frage wären. Wie sicher ist es denn, dass unsere Arbeitsplätze durch den Industriestrompreis gehalten werden? Schließlich fordert ja auch das Wirtschaftsministerium als Bedingung für die Vergabe der Subventionen eine „Standortgarantie“. Doch was unser Wirtschaftsminister so rosig als „Garantie“ bezeichnen möchte, ist in der Realität nichts als ein Lippenbekenntnis. Denn die Erfahrung zeigt: sollten die Konzerne ernsthaft an einer Produktionsverlagerung ins Ausland interessiert sein, dann lässt sich dieser Vorgang nicht dadurch bremsen, dass man die Unternehmen mit Subventionen, Sparmaßnahmen und einem gut gemeinten Appell an die Liebe zum Standort Deutschland erinnert. Diese Lehre müssen aktuell auch die Kolleginnen und Kollegen von ZF in Saarbrücken ziehen. Vor nicht einmal zwei Jahren schloss man dort eine „Zukunftsvereinbarung“ ab, weil die Unternehmensführung zuvor mit dem Abbau von Arbeitsplätzen gedroht hatte. Um das zu verhindern, vereinbarte man, dass die Kolleginnen und Kollegen pro Tarifrunde 2 Prozent ihres Einkommens in einen so genannten „Zukunftsfonds“ einzahlen, mit dem dann den Standort modernisieren wolle. Das entspricht zwischen 25 und 30 Millionen Euro pro Jahr! Außerdem wurden neue Schichtmodelle und Flexibilisierungsmaßnahmen eingeführt. Mit dieser Regelung sollen die Arbeitsplätze bis Ende 2025 „geschützt“ sein. Dass die geplanten Modernisierungen wiederum Rationalisierungen, das heißt die Einsparung von Personal durch fortgeschrittenere Produktionsanlagen, bedeuten können, soweit muss man in diesem Fall nicht einmal denken. Denn schon 1,5 Jahre nach Abschluss der „Zukunftsvereinbarung“, im Januar 2024, gibt die ZF Geschäftsführung bekannt: Es sollen 12.000 Stellen in Deutschland abgebaut werden und davon ist auch der Standort Saarbrücken nicht ausgenommen. So viel also zum Thema „Beschäftigungssicherung“, von der auch der Betriebsratsvorsitzende Mario Kläs (IG Metall) im Zuge der „Zukunftsvereinbarung“ gesprochen hatte. Umgerechnet 13 Euro pro Tag zahlt jede Kollegin und jeder Kollege bei ZF in Saarbrücken, um bis Ende 2025 weiter bei ZF zu arbeiten.

Von der „Standortgarantie“ von der Robert Habeck im Zusammenhang mit dem Industriestrompreis spricht, ist nicht mehr zu erwarten. Im besten Fall kann es eine Abwanderung der Unternehmen um einige wenige Jahre verzögern, den Preis zahlen wie zum Beispiel bei ZF die Kollegen. Es gibt keine Garantie und erst recht keine Sicherheit für die Arbeiter. Die Beispiele, in denen Belegschaften durch jahrelangen Verzicht und Lohnzurückhaltung versucht haben, ihre Arbeitsplätze vor Abbau und Verlagerung zu schützen und an dessen Ende immer doch nur Abbau und Verlagerung standen, sind zahlreich und reichen Jahrzehnte zurück. „Standortgarantie“ und „Beschäftigungssicherheit“ sind falsche Versprechungen. Mit diesen leeren Floskeln versucht man seit Jahrzehnten, Lohnkürzungen und die Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der arbeitenden Bevölkerung zu verschleiern. Heute braucht man in der Geschäftsführung eines großen Unternehmens nur das Wort „Stellenabbau“ fallen zu lassen und prompt hagelt es Vorschläge von Staat und Gewerkschaftsführung, wie man dem Unternehmen Millionen von Euros zuschanzen kann und als Gegenleistung dafür reichen warme Absichtserklärungen.

Das Märchen vom gemeinsamen Standortinteresse der Arbeiter und der Unternehmen erlebt gerade Hochkonjunktur. Denn nicht nur für den Industriestrompreis, den Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände in der gemeinsamen „Allianz pro Brückenstrom“ fordern, gingen in den letzten Monaten tausende Kolleginnen und Kollegen auf die Straße. Auch für die Subventionen in den Umbau der deutschen Stahlindustrie mobilisierte die IG Metall im Rahmen ihrer Kampagne „Stahl ist Zukunft“ in den letzten Jahren tausende Kolleginnen und Kollegen. Mindestens sieben Milliarden Euro sollen Stand jetzt von der Staatskasse in die Taschen der Stahlkonzerne fließen, damit die Produktionsanlage auf den Betrieb mit Wasserstoff umgerüstet werden.
Doch damit nicht genug. So forderte Christiane Benner, erste Bevollmächtigte der IG Metall, mit ihrem Vorschlag Mitte Januar 2024, für den „ökologischen Umbau“ der deutschen Industrie ein Sondervermögen in Höhe von 600 Milliarden Euro einzurichten. Diese Summe entspricht über eineinhalb kompletten Bundeshaushalten. Eine Forderung von wahnwitzigem Ausmaß und dann auch noch von der Gewerkschaftsseite.
Diese Subventionen, ob mittlerweile realisiert oder „nur“ vorgeschlagen, müssen als das begriffen werden, was sie sind. Nämlich Werkzeuge zur noch schärferen Umverteilung von unten nach oben. Sie dienen keinen gemeinsamen Interessen, sie dienen der Bereicherung der Unternehmen und Konzerne zulasten der Arbeiter. Wollen wir uns als Arbeiter nicht nur vor Stellenabbau, sondern auch vor Erpressung und Lohndumping schützen, wollen wir unsere Arbeits- und Lebensbedingungen mindestens erhalten, wenn nicht gleich verbessern, dann können wir das nur mit Hilfe von Organisierung und mit Hilfe des gemeinsamen Kampfes schaffen. Wir müssen uns unserer gemeinsamen, betriebs-, branchen- und länderübergreifenden Interessen bewusstwerden und gemeinsam den unabhängigen Standpunkt der Arbeiterklasse vertreten. Dazu braucht es auch die Gewerkschaften als Kampforganisationen der Arbeiter. Als Arbeiter und Gewerkschafter für einen konsequenten und kämpferischen Kurs zu kämpfen, gegen den sozialpartnerschaftlichen Kurs, ist jetzt eine der wichtigsten Aufgaben.