Déjà vu – Der Umweltskandal in Ritterhude

Als wir im Februar den Fernsehbericht aus Niedersachsen sahen, trauten wir unseren Augen und Ohren nicht – das kannten wir doch schon alles! Das hatten wir doch gerade erst beim fast 5 Jahre dauernden Prozess in Dortmund gegen die Betreiber der Firma Envio erlebt – einem Recycling-Unternehmen, dem von der Staatsanwaltschaft Körperverletzung in zahlreichen Fällen durch das Umweltgift PCB vorgeworfen wurde. AZ hat diesen Prozess von Beginn an begleitet und über ihn berichtet. Er wurde schließlich eingestellt, weil nach Auffassung des Gerichts den Angeklagten keine Schuld nachzuweisen war. Viele Menschen betrachten das als einen Politik-, Justiz- und Umweltskandal. Und jetzt läuft in Ritterhude im Landkreis Osterholz dasselbe ab?

Doch eins nach dem anderen… Vor etwa 30 Jahren nahm hier ein “kleines Zwischenlager für photographische Lösungen” mit den dafür (!) erforderlichen Genehmigungen die Arbeit auf. Daraus entwickelte sich eine riesige Verbrennungsanlage für chemische Abfälle – mitten im Wohngebiet. LKWs aus ganz Deutschland lieferten gefährliche Chemikalien bei der Firma Organo Fluid an – tausende Tonnen täglich, zumindest 5 Jahre lang ohne die vorgeschriebenen Begleitpapiere. Dreck, Lärm und Gestank für die Anwohner, die sich jahrzehntelang dagegen wehrten. Viele von ihnen fühlten sich “verarscht”: der schwarze Rauch aus den Fabrikschornsteinen sei eine optische Täuschung, wurde ihnen mitgeteilt, der weiße Niederschlag auf ihren Autos seien “Läuseexkremente”. Es kam zu mehreren Störfällen in der Fabrik und am 9. September 2014 zum Knall: Die Fabrik explodierte, sämtliche Anwohner mussten fluchtartig ihre Häuser verlassen, ein Mensch kam bei der Explosion ums Leben. Der Betrieb wurde zwar stillgelegt, aber die Anwohner befürchten seinen Wiederaufbau, fordern Entschädigungen und eine Aufklärung über die Unfallursachen.

Doch damit sieht es schlecht aus – schon die Untersuchungen wurden jetzt ergebnislos eingestellt, es wird also nicht einmal ein Prozess eröffnet, der Tod eines Menschen bleibt ungeklärt und selbstverständlich ungesühnt. Die Unglücksursache lässt sich nach Auffassung der Staatsanwaltschaft Verden nicht ermitteln, da bei dem Brand zahlreiche Unterlagen vernichtet worden seien. Das wundert nicht nur die Anwohner – sie waren ja sofort aus ihren Häusern geholt worden und hatten beobachtet, wie zahlreiche Aktenordner mit Unterlagen aus den Gebäuden abtransportiert wurden – sichtlich ohne Brand- oder Löschwasserschäden. Und die untersuchende Behörde teilt mit, auch nach Durchsicht umfangreichen Materials (nanu?) könne sie keine Ursachen für den Unfall und ein Fehlverhalten der Firma oder zuständiger Ämter feststellen.

Der damalige Umweltminister Stefan Wenzel (Grüne) bestreitet dagegen heute noch, dass alle notwendigen Genehmigungen vorgelegen haben und fordert eine entsprechende Untersuchung und wie seine Partei eine Erklärung der Landesregierung. Doch offiziell heißt es heute: “Die Genehmigungsvoraussetzungen waren erfüllt.” Wir fragen: “Mit Flaschen?” Das fragen wir nicht ohne Grund – die Firma soll sehr großzügig mit Präsenten gewesen sein: Es gab Berichten zufolge zumindest um die Weihnachtszeit im wahrsten Sinne des Wortes “hochwertige” Spirituosen für das Bundesumweltamt, das Umweltministerium, den Gemeinderat, den Landkreis, die Bezirksregierung, das Gewerbeaufsichtsamt Cuxhaven… Noch läuft ein Untersuchungsverfahren in Richtung Bestechung, das Amt in Cuxhaven soll bei der Erteilung von Genehmigungen sehr großzügig gewesen sein…

Immerhin wird zugegeben, dass “damals” erteilte Genehmigungen den heutigen gesetzlichen Anforderungen nicht genügten – es wurde aber trotz Veränderung und Ausweitung der Produktion nicht nachgebessert. Wie war das noch mit dem “furchtbaren Juristen” Filbinger (CDU), der schon vor Jahrzehnten darauf hinwies: “Was damals (zur Nazizeit – AZ) Recht war, kann heute nicht Unrecht sein”?

Wir haben jahrelang, fast Jahrzehnte, ganz miese Erfahrungen mit sämtlichen Behörden, die für diesen Betrieb zuständig waren, gemacht. Der konnte immer weiter machen, das Gefahrenpotential ist gewachsen – und wieder eine Behörde stellt fest: War alles nicht so schlimm gewesen. Man ist stinksauer, man ist enttäuscht – aber man ist nicht überrascht”, so ein Sprecher der Bürgerinitiative. Und eine Anwohnerin: “Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus!” Wir ergänzen: “Eine Hand wäscht die andere – siehe oben.”

Die Bürger des betroffenen Wohngebietes wollen jetzt mit zivilrechtlichen Klagen weiterkämpfen und erwägen auch eine Beschwerde bei der Generalstaatsanwaltschaft – wir wünschen ihnen viel Erfolg und einen langen Atem!